8. Die Vakanz. - Schon mehrere Wochen vor der Ostervakanz hatte kein Knabe mehr seine Gedanken recht bei dem Lernen; ...

8. Die Vakanz. - Schon mehrere Wochen vor der Ostervakanz hatte kein Knabe mehr seine Gedanken recht bei dem Lernen; alles hüpfte und sprang, wenn es ans Nachhausegehen dachte.

Ivo und Klemens gingen auf Spaziergängen oft Hand in Hand und erzählten einander viel von der Heimat.


Klemens war der Sohn eines Schreibers. Er hatte keine heimische Kindheit gehabt, da sein Vater schon zum drittenmal in eine fremde Stadt versetzt worden war.

Am Abend vor der Vakanz war großes Packen auf allen Stuben, wie vor einem Manöver; am Morgen aber mußten noch alle Knaben in die Kirche, und so laut sie auch sangen, so war ihr Denken und ihre Sehnsucht doch mehr nach ihrer irdischen Heimat gerichtet, als nach ihrer himmlischen.

Ivo nahm herzlichen Abschied von Klemens, und nach der Fuhrmannsregel hielt er zuerst kurzen Schritt, obgleich es ihn zur höchsten Eile drängte. Bartel begleitete ihn, er ging zu einer Base. Er war ein lästiger Gefährte, denn wo unser Herrgott einen Arm herausstreckte, wollte er einkehren. Ivo willfahrte ihm erst in Untermarchthal, wo sich ihr Weg schied. Glücklicherweise traf hier Ivo jüdische Pferdehändler aus Nordstetten. Sie hatten eine große Freude mit ihm, die er von ganzem Herzen erwiderte, sie waren eben zur Abreise bereit, und Ivo konnte mehrere Stunden mit ihnen fahren. Er fragte nun nach allem, was im Dorfe vorgegangen war, und er hörte von Geburt, Heirat und Tod. Ivo dachte, daß diese drei die Parzen des Lebens seien, und citierte still vor sich hin den Schlußvers: Clotho colum retinet, Lachesis net, et Atropos occat (Klotho hält den Rocken, Lachesis spinnt, und Atropos schneidet ab).

Als es bergan ging, zogen die reisenden Handelsleute ihre Gebetriemen aus einem Beutelchen und legten sie um Stirn und Arm: aus kleinen Büchern sprachen sie sodann ihr langes Morgengebet. Ivo verglich die Atemwolken, die ihrem schnell bewegten Munde entströmten, mit dem Rauchopfer in der Bibel, denn er achtete jedes Glaubensbekenntnis, und besonders das jüdische als das uralt ehrwürdige. Er blickte auch in das offene Gebetbuch seines Nebenmannes und freute sich, daß er auch Ebräisch lesen konnte. Der Betende nickte ihm still, aber freundlich zu.

Ivo bewunderte die Fertigkeit, mit der diese Leute das Ebräische so schnell weglasen, schneller als der Direktor selber.

Als Ivo herzlich dankend vom Wägelchen abstieg, um seinen Weg zu Fuße weiter zu gehen, mußte er seinen Landsleuten versprechen, heute nicht mehr ganz nach Hause zu gehen, damit er nicht krank werde. Still seine Schritte fördernd, lobte Ivo innerlich sein liebes Nordstetten, in dem alle Menschen so gut waren, Christ und Jud, alles gleich.

So sehr auch die Gedanken Ivos immer zu Hause waren, so merkte er doch auf alles und machte sogar manche allgemeine Betrachtung. Mehrmals, als er von ferne die Turmspitze eines Dorfes erblickte, dachte er: „Es ist doch schön, daß man von jedem Dorfe die Kirche zuerst sieht; da weiß man gleich, da sind Christenmenschen bei einander, und ihr schönstes und bestes Haus gehört Gott.“

Ein andermal bemerkte er: „Wie prächtig ist’s, daß die Obstbäume so rings um jedes Dorf stehen; sie sind die besten Freunde von den Menschen. Zuerst kommt der Mensch, dann das Vieh, dann die Obstbäume; die brauchen den Menschen auch noch, er muß sie äugeln, pfropfen und raupen. Es ist doch wunderbar! Da rings herum ist alles Gras und klein Gewächs, und da auf einmal geht ein großer Stamm weit in die Luft hinein, und da hängt alles voll Bluest (Blüten).

O wunderschön ist Gottes Erde
Und wert, darauf vergnügt zu sein,
Drum will ich, bis ich Asche werde,
Mich dieser schönen Erde freun.“

Ivo stand still, die heilige Offenbarung von der Größe und Allmacht Gottes hatte sich vor ihm aufgethan.
Wenn nun auch die Seele unsers Ivo so in sich begnügt war, so schloß er sich doch manchem Reisenden an, der mit ihm des Weges ging; die Leute gewannen alle schnell Zutrauen zu ihm, sein freundliches Gemüt lag auf seinem Antlitze, und er war ganz glückselig, daß überall lauter gute, freundliche Menschen waren.

Es war Nacht, als unser Reisender in Hechingen anlangte und so nur noch fünf Stunden von Hause entfernt war. Er fühlte sich zwar nicht sehr müde, ja, er hätte noch die ganze Nacht durchlaufen können, aber er dachte an sein Versprechen; sodann wollte er auch bei hellem Tage nach Hause kommen. „Dunkel war’s, als ich wegging,“ sagte er, als er in der Herberge hinter dem Tische saß, „hell ist’s, wenn ich wiederkomme.“ Er war sogar so eitel, daß er wünschte, sein elterliches Haus läge am andern Ende des Dorfes, damit er mit seinem grünen Studentenränzchen durch das ganze Dorf gehen und Aufsehen erregen könnte.

Die Sonne leuchtete längst in vollem Glanze, als Ivo erwachte. Das war ein fröhlicheres Erwachen, als bei der Klosterlaterne. Es war ein schöner Tag, ein echter Jubeltag für die Vögel in der Luft und die Blüten auf den Bäumen.

Ivo wünschte sich nur auch Flügel zu haben, und er ließ wenigstens seine Kappe in die Luft fliegen. Rasch schritt er des Weges dahin, plötzlich aber hielt er inne, setzte sich an einen Rain, und die Worte aus 2. Buch Moses K. 3, V. 5 sprechend: „Ziehe deine Schuhe aus von deinen Füßen, denn der Ort, auf dem du stehest, ist heiliger Boden,“ entkleidete er seine Füße. Hurtig, wie ein unbeschlagenes Füllen, sprang er dahin, es ging ja erst recht der Heimat zu; bald aber merkte er, daß er im Kloster das Barfußgehen verlernt hatte. Die Lippen vor Schmerz zusammenpressend und seine Füße wieder bekleidend, dachte er an den schönen Vers 12 im Psalm 91: „Der Herr wird seine Engel vor dir hersenden, damit dein Fuß an keinen Stein stoße.“

In Haigerloch kaufte Ivo zwei rösche (rösch, so viel als hartgebacken) Fastenbrezeln, die eine für seine Mutter, die andre für – Emmerenz. „Sie hat dir ja auch das Geitle geschenkt,“ entschuldigte er sich bei seinem geistlichen Gewissen. Er machte gern den Umweg und ging der Landstraße nach, denn er fürchtete, in seiner Herzensfreude zu verirren, er wollte ganz sicher sein: auch hatte er so eine größere Strecke durch das Dorf zu gehen, als wenn er von Mühringen kam.

Je näher es nun der Heimat zuging, um so lichter wurde es für Ivo, um so mehr hob er im stillen Jubel die Arme empor. Manchmal aber fürchtete er auch, es wäre gar nicht möglich, daß er heim käme, die Freude wäre zu groß, er müsse vor irgend einem Unglück oder dem Uebermaße des Entzückens auf dem Wege erliegen; dann setzte er sich oft nieder, um neue Kraft zu sammeln.

Die Leute hatten unrecht, daß sie von Haigerloch aus nur zwei Stunden rechneten, „den Weg hat der Fuchs gemessen, und hat den Schwanz dazu gegeben; das sind ja mehr als acht Stunden,“ dachte Ivo.

O Heimat! du heiliger, trauter Ort! Da klopfen die Pulse, da zittert das Herz; da ist der Boden, da sind die Wurzeln des Daseins, zauberischer Atem haucht ringsum, durch die Gassen hin zieht die entschwundene Kindheit, und Augen, längst geschlossen, schauen freundlich zu dir nieder. Sei gesegnet, sei gesegnet, du stille Heimat!

Nicht weit vom Buchhofe sah Ivo seinen Stromel an einem Pfluge ackern. Er sprang schnell hinzu, fragte den Knecht, ob der Stromel gut sei, und freute sich seines Lobes; das Tier aber schien ihn nicht mehr zu kennen, es beugte seinen Kopf unter dem Joch erdenwärts. Gern hätte ihm Ivo etwas gegeben, und er war nahe daran, ihm eine Brezel vor das Maul zu halten, aber er schämte sich und ging fürbaß.

An der Ziegelhütte begegnete ihm des Hansjörgs Peter, der Einäugige, der reichte ihm traurig die Hand und sagte: „Der Konstantin ist schon gestern kommen.“

Von allen Leuten bewillkommt, ging Ivo weiter. Alles heimelte ihn an, was da lebte und was in stiller Ruhe stand, jeder Zaun, jede Holzbeige schaute ihn traulich an und erzählte ihm vergangene Geschichten; als er seinem elterlichen Hauses ansichtig wurde, zitterte es vor ihm, denn die Freudenthränen standen ihm im Auge.

Die Emmerenz saß mit des Schullehrers Kind unter dem Nußbaume. Als sie den Kommenden erblickte, ging sie ihm nicht entgegen. sondern sprang in das Haus und rief laut: „Der Ivo kommt, der Ivo kommt!“

Die Mutter stand am Waschzuber, sie eilte schnell die Treppe hinab, trocknete ihre Hände an der Schürze und umarmte ihren lieben Sohn. Auch der Vater, das Gretle, die Brüder, alle kamen fröhlich herbei, und die Mutter hielt ihren Arm um den Nacken ihres Sohnes und trug ihn fast ins Haus.

Nun kam auch die Emmerenz herbei und sagte: „Ich hab’s gewußt, daß du heut kommst, der Konstantin ist ja schon gestern kommen; geltet, Bas, ich hab’ ihn doch zuerst gesehen?“ setzte sie vergnügt, zu der Mutter gewandt, hinzu.

Nun kam auch endlich der Nazi, und nach herzlichem „Grüß Gott“ zog er Ivo die Schuhe aus und brachte ihm ein Paar Pantoffeln.

Unserm Fremden kam die elterliche Stube so nieder vor, er war an die hohen Klosterzimmer gewöhnt, sich gewaltig reckend, wollte er mit seinen Armen nach der Decke hinaufgreifen, das war doch noch zu viel, obgleich er erstaunlich gewachsen war.

Die Mutter bereitete nun schnell für Ivo eine Suppe und einen Pfarrersbraten; so nennt man nämlich einen Pfannkuchen, weil dies die gewöhnliche Kost ist, die man den Gästen in den Pfarrhäusern schnell vorsetzt.

Ivo gab seiner Mutter die Brezel und ging dann zu Nazi in den Stall. Die Tiere erkannten ihn wieder, besonders die Algäuerin drehte ihm die Stirne zu und ließ sich gar gern von ihm zwischen den Hörnern krauen.

„Hast mir denn gar nichts krohmt (ein Mitbringsel von der Reise heißt „Krohm“, Kram)?“ fragte Nazi lächelnd. Ivo langte in die Tasche und gab ihm still die noch übrige Brezel. Er ward hierdurch auch von dem Zweifel befreit, ob er nicht unrecht thäte, wenn er der Emmerenz etwas mitbringe; als er aber wieder in die Küche zurückkam, hörte er, wie die Emmerenz sagte:

„Nu, Bas, was krieg’ i denn für e Bäckebrot (Botenlohn für Verkündigung einer guten Botschaft.)?“

„Nimm die Brezel, die er mitgebracht hat, du wirst nichts dagegen haben, Ivo, ich nehm’s für genossen an, aber ich kann’s nimmer gut beißen.“

Gern willigte Ivo ein, die Emmerenz hatte nun doch was von ihm; es verdroß ihn aber sehr, daß sie alsbald dem schreienden Kinde die Hälfte davon abgeben mußte. Ueberhaupt nahm er viel Aergernis an dem Kinde, das schon so groß war und das Emmerenz noch immer herumschleppen mußte, so daß es oft aussah, als müßte sie das Uebergewicht erhalten und umstürzen. Er sagte daher mit bedeutungsvollem Ernst:

„Du thust eine Sünd’, Emmerenz, an dir und an dem Kleinen, wenn du’s auf den Arm nimmst; das Kind hat starke Füß’, es kann laufen und muß es lernen, und du schleppst dich krumm.“

Emmerenz setzte sogleich das Kind nieder und nahm es, trotz des Schreiens, nicht mehr auf den Arm; der Ivo war ja jetzt ein junger Pfarrer, und er hatte ja gesagt, es sei eine Sünd’.

Diese Zurechtweisung im Dienstverhältnis war fast die einzige Teilnahme, die Ivo während der ganzen Vakanz an Emmerenz bezeigte; er glaubte, sie vor seinem Gewissen wohl verantworten zu können, mehr aber nicht. Das Mädchen sah ihn oft fragend an, wenn er sich so gar nicht um sie kümmerte. Nur einmal in einer guten Stunde fragte er noch:

„Wo hast denn dein’ Katz’?“

„Denk nur, der Pfannenflicker, der Hundskaspar, der hat sie gestohlen, hat ihr die schöne schwarze Haut abgezogen und das gut Miezchen gefressen.“

Nachmittags genoß Ivo die volle Ehre des Willkommens bei einem großen Teile im Dorfe. Er hielt sich bei allen Leuten gern auf, es that ihm wohl, daß er nun ein so weit gereister Mensch war, daß alle auf ihn zukamen, ihm die Hand gaben und sein gutes Aussehen bewunderten. Aber nicht bloß Eitelkeit verklärte sein Antlitz, noch ein höheres Gefühl strahlte darauf: er empfand den höchsten Genuß darin, daß die Leute alle so eine recht innige Freude mit ihm hatten. Das innerste Streben seines Herzens fand eine wohlige Befriedigung.

Wie „heimelich“ war es dann Ivo abends wieder, als er zu Hause im Bette lag, als seine Mutter zu ihm kam und ihn sorgfältig zudeckte.

Weiße Weihnachten, grüne Ostern; das war dieses Jahr eingetroffen. Andern Tages war Ostersonntag, alles schien doppelt hell und grün. Ivo stand wieder wie vordem unter dem Nußbaume, an dem die bräunlich zarten Blätter noch scheu in sich zusammengehüllt waren; er betrachtete wieder mit alter Lust seine Tauben, aber er sang nicht mehr, das schickte sich nicht für ihn.

Nach der Mittagskirche machte sich Ivo auf den Weg, um nach Horb zu gehen. Draußen im Scheubuß, an des Paules Garten, saßen mehrere Frauen auf dem Brückenmäuerchen bei der Trauerweide, deren Aeste in allerlei Bogen verwachsen sind. Sie standen alle ehrerbietig auf, als Ivo freundlich grüßte, eine aber trat auf ihn zu, und nachdem sie ihre Hand mehrmals an der Schürze abgerieben hatte, reichte sie ihm dieselbe; wir kennen sie noch wohl, obgleich sie sehr gealtert hat: es ist die Mutter Marei.

„Grüß Gott, Ivo,“ sagte sie, „du bist recht gewachsen; ich ihrze dich nicht, bis du einmal im Seminar zu Rottenburg bist.“

„Ihr dürfet allfort du sagen, Bas.“

„Nein, nein, das geht nicht.“

Die andern Frauen kamen auch herbei und betrachteten den jungen Hajrle, aber keine redete ein Wort, so scheu waren sie vor ihm.

„Wie geht’s dem Matthes und dem Aloys in Amerika?“ fragte Ivo.

„Guck, das ist brav, daß du an sie denkst. Mein Aloys hat mir erst wieder geschrieben. Du weißt, er ist schon lang geheirat’t mit der Mechthild, du kennst sie wohl, da des Matthesen vom Berg; sie haben auch schon zwei Kinder, ich möcht’ sie nur ein gotzig’s (Einziges, von Gott dem Einzigen) mal sehen. Man ist doch wie halb gestorben, wenn man so verdammt weit voneinander ist. Ich muß meinem Matthes und meinem Aloys seine Kinder sehen, und die Söhnerin (Schwiegertochter), die Amerikanerin, die kenn’ ich ja noch gar nicht. Meine Buben schreiben mir allfort, ich soll kommen und kommen; ja wenn’s nur nicht so grausam weit wär’ nach dem Amerika; sie wollen mich in Havre de grace abholen, und wenn’s Gottes Wille ist, geh’ ich nach Pfingsten mit Auswanderern von Rexingen fort. Wenn mich unser Herrgott zu sich nehmen will, weiß er mich schon zu finden, wo ich bin. Gelt, hab’ ich recht?“

Ivo nickte bejahend, und Marei, ein sorgfältig eingewickeltes Papier aus der Tasche holend, sagte: „Guck, das ist der neu’ Brief, du thätst einen Gotteslohn, komm mit ‘rein, lies mir ihn noch einmal vor; ich kann nicht Geschriebenes lesen. Unser Schullehrer, dem ist’s überleid. und der Judenschullehrer hat mir ihn auch schon dreimal vorgelesen: es ist aber ein Wort darin, das können sie all’ beide nicht ‘rausbuchstabieren; du bist g’studiert, du kannst’s gewiß.“

Ivo ging mit Marei in ihr Hans, die andern Frauen folgten erst schüchtern, dann aber herzhaft nach und setzten sich still horchend.

Ivo las, und es wird wohl manchem alten Freunde des Tolpatsch lieb sein, mit zuzuhören:

Nordstetten in Amerika am Ohioflusse, den 18. Oktober 18—

„Liebe Mutter. Da Ihr nicht wisset, wie mir’s geht, so will ich’s Euch schreiben. Ich hab’s Euch von Anfang als gar nicht geschrieben, wie hart mir’s gegangen ist; das ist jetzund mit Gottes Hulf vorbei. Ich hab’ als gedenkt, was braucht sich dein Mütterle auch noch zu grämen, sie kann dir doch nicht helfen? und da hab ich alles in mich ‘nein verschluckt und hab’ gepfiffen und dabei recht geschafft.“

Hier hielt Ivo einen Augenblick inne, er schien sich das zur Lehre zu nehmen; dann fuhr er fort:

„Nun, jetzt ist alles im Stand, es ist kein’ Kleinigkeit, wenn man sich so ein Haus bauen und alle Aecker zum erstenmale umzackern muß und neane (Nirgend) kein Hulf und kein Rat von keinem Menschen: jetzt sieht’s aber bei mir aus, schöner als beim Buchmaier. Es hat Armschmalz gekostet, wir sind aber doch gesund, und das ist das Best’. Viele von unsren Landsleuten sind hier und haben’s ärger als drüben und müssen an der Straß’ schanzen. Es gibt hier gar viele Verführer, wenn man ans Land kommt, die einem, weiß nicht was, vorschwätzen, bis man keinen roten Heller mehr im Sack hat, und darnach: hast mich gesehen, fort sind sie. Es gibt recht scheinheilige Menschen, hüben und drüben; die Ueberfahrt putzt nur den Magen aus, aber die Seel’ nicht. Wir haben aber von dem Dampsschiffmann in Mainz ein’ gute Anweisung gehabt an eine Gesellschaft von braven Männern, von lauter Deutschen, die einem umsonst Weg und Steg zeigen und alles aufs best’ raten; von uns ist keiner verunglückt. Saget doch das allen denen, wo noch ‘rüber wollen, sie sollen keinem trauen, als dem Mann und der Anweisung. Von Anfang, wie ich als ein bißle von meinem Führer weggangen bin, allein in Neuyork ‘rum, bis der Matthes kommen ist, da ist mir’s oft grad gewesen, wie wenn ich unter lauter Vieh wär. Verzeih mir’s Gott, das waren ja auch Menschen, sie haben aber so miteinander gewelscht, wie der Franzosensimpel, der Sepple von der Froschgaß, der schwätzt auch Holderdipolderle. Es ist aber englisch gewesen, was sie miteinander schwätzen; ich kann jetzt auch ein bißle, es ist oft gerad wie deutsch, man muß nur ein Maul dazu machen, wie wenn man an einem unzeitigen Apfel die Zähn’ verschlagen hätt’. Es sind noch viel mit uns gewesen, aber der ein’ ist da-, der ander’ dorthin. Das ist nichts, wir Deutschen sollten auch so zusammenhalten. Ich hab sonst immer als nur die Württemberger für meine Landsleut’ gehalten, aber hier heißt man uns alle Deutsche, und wenn jetzt einer aus dem Sachsenland kommt, da ist es mir grad, wie wenn er vom Unterland wär. Geltet, ich schreib’ da Sachen, die Ihr nicht möget? aber mir gehen die Gedanken so oft im Kopf ‘rum, daß sie, eh ich mich verguck’, ‘rausplotzen.

„Nun muß ich Euch was anders sagen. Habt Ihr nicht schon aufgemerkt, daß ich da oben Nordstetten hingeschrieben hab? Ja, so ist’s, und so bleibt’s. Ich hab’ einen Stock nicht weit von meinem Haus hingesteckt, mit einer Tafel, und darauf hab’ ich mit großen Buchstaben hingeschrieben: Nordstetten. Es wird schon kommen, daß noch mehr Leut’ sich hier anbauen, und da bleibt der Nam’; dann bauen wir ein’ Kirch, grad wie die daheim, ich hab’ schon das Bergle dazu da, grad ‘rüber von meiner Scheuer, wir heißen’s schon jetzt das Kirchbergle. Da lassen wir hernach einen Pfarrer von drüben kommen, und meine Aecker, die haben alle Namen von daheim. Ich und mein’ Mechthild, wir schwätzen oft abends davon, wie das einmal aussehen wird. Wenn wir’s auch nicht mehr verleben, nachher verleben’s unsre Kinder und Kindeskinder, und ich hin nachher halt doch die Ursach davon. Wenn nur einer von denen Nordstetter G’studenten dann ‘rüber käm’ als Pfarrer, er hätt’s hier gut, aber im Feld schaffen müßt’ er auch. Wir wählen uns hier selber den Pfarrer, wir nehmen den, der uns am besten gefällt, wir lassen uns keinen vom Konsistore aufbinden. Da spielen die Pfarrer auch nicht die Herren gegen uns, hier ist alles gleich, sie sind halt grad wie wir auch, nur daß sie eben g’studiert haben und geweiht sind; wir haben drei Stund’ von hier einen, der ist von Rangendingen gebürtig. An meinem Haus haben sich auch gleich Schwalben angebaut, ich hab’ vergangenen Herbst einer ein Zettele angehängt und hab’ darauf geschrieben: „Grüß Gott an alle drüben,“ und meinen Namen darunter. Ich dummer Kerl hab’ gemeint, sie käm’ nach Nordstetten, und da ist sie wieder kommen, da ist auf einem Zettel gestanden ?????, ich hab’ noch niemand fragen können, was das heißt, es ist grad wie wenn’s Kaibe (Kaib, so viel als Lump, Schuft) hieß, das wär’ doch schändlich.“ –

„Weißt du vielleicht, Ivo, wie’s heißt?“ fragte Marei.

„Jawohl: Chaire, es ist griechisch und bedeutet: sei gegrüßt.“

Die Frauen schlugen die Hände zusammen vor Erstaunen über die große Gelehrsamkeit Ivos.

„Wo hat denn die Schwalb’ überwintert?“ fragte Marei wieder.

„Wahrscheinlich bei den Feuerländern,“ erwiderte Ivo und las nach einer Pause weiter:

„Ich hab’ daheim gar nicht gewußt, daß die Lerchen so schön singen. Denket nur einmal, hier zu Land gibt’s gar keine und auch keine Nachtigallen; aber viel andre schöne Vögel, auch hat’s schöne Fichten und Eichbäum’ und noch andre prächtige Bäum’, die geben ein Staatsholz.

„Liebe Mutter! Ich hab’ das schon vor acht Tag geschrieben, und wie ich’s so überlug, sag’ ich: ei, du schreibst Larifari! Aber mir ist’s alleweil, als wie wenn ich bei Euch sitzen thät vor des Schmied Jakoben Haus am Brunnen; und da gehen die Leut vorbei und sagen: ›hent ihr gute Rot?‹ und da ist mir das Herz so voll, und ich weiß nicht, was ich zuerst sagen soll. Wir sind gottlob alle recht gesund, das Essen und Trinken schmeckt uns wohl und schlägt gut an. Wir haben alle unsre Kleider weiter machen müssen. Es ist gut, daß die Mechthild das Nähen gelernt hat.

„Wenn ich als einen guten Bissen ess’, denk’ ich: wenn nur auch dein Mütterle da wär, da thät ich das Best’ neben ‘nauslegen und thät sagen: da, Mütterle, da müsset Ihr ‘reinlangen, da liegt ein herzig’s Bröckele, und es thät Euch gewiß weidlich bei mir schmecken.

„Unser Basche, der geratet prächtig, es hat ihm noch kein Brösele gefehlt. Ach Gott! wenn das kleine Mareile noch leben thät, das wär bis nächste Michaeli ein Jahr alt, das ist ein gar lieb Engele gewesen; es war doch erst drei Wochen alt, aber wenn man’s gerufen hat, da hat’s einen so gescheit angesehen und hat einem nach den Augen gegriffen. Auf Allerseelen lassen wir ihm ein eisern Kreuz setzen. Ach, du lieber Heiland! Das Kind ist jetzt im Himmel, und der Himmel ist doch erst das recht’ Amerika.

„Ich muß Euch noch mehr von meinem Hauswesen schreiben, ich darf nicht so viel an das Kind denken, es geht mir so zu Herzen: ich sag’, wie der Pfarrer gesagt hat: der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt.

„Wenn uns nur Gott jetzt alles gesund bei einander erhält. Unser Herrgott hat mich auch noch immer mit dem Vieh glücklich erhalten, es ist uns noch keines gefallen, alles kerngesund, und das ist mir eine besondere Freud’, daß das Vieh hier alleweil genug zu fressen hat. Ich werd’s mein Lebtag nicht vergessen, was die Futterklemme ein Kreuz und ein Elend gewesen ist; grad selben Sommer, eh’ ich zum Militär gekommen bin, wo’s fast kein Hälmle Futter gegeben hat. Wisset Ihr noch, wie’s einem da ums Herz gewesen ist, wenn man morgens aufgestanden ist und hat dem Vieh nur viertelssatt zu fressen geben können und hat zusehen können, wie ihm das Fleisch abgefallen ist? Ich hätt’ oft vor Waitag (Wehe) verlaufen mögen. So ein Tierle ist anbunden und kann nicht schwätzen und deuten und muß sich alles gefallen lassen. Hier geht das Vieh fast das ganze Jahr auf die Weid und hat alleweil vollauf, und es ist noch nicht vorkommen, daß ich hab’ eines stechen müssen, weil es zu viel gefressen hat. Drüben, weil sie das ganze Jahr im Stall stehen, fressen sie, bis ihnen der Bauch aufspringt, wenn sie einmal an einen Kleeacker kommen; und wie’s beim Vieh geht, so geht’s auch bei den Menschen: die müssen drüben auch im Stall stehen, vom Schultheiß und dene Amtleut’ anbunden, bis sie ellenlange Klauen kriegen, daß sie nimmer laufen können, und wenn sie einmal ausreißen oder man’s ‘nausläßt, werden sie toll und voll. Das hat einer in der Volksversammlung ganz schön so ausgelegt. Mutter! das ist was Schön’s, so ein? Volksversammlung, das ist grad, wie wenn man in der Kirche wär; aber nein, es ist doch nicht so, denn da red’t ein jeder, wer nur kann und mag, da gilt alles gleich. Gucket, ich will’s Euch verzählen, wie das ist, aber ich kann’s doch nicht recht. Ich muß Euch nur noch sagen, daß unser Matthes ein Hauptsprecher ist, dem geht’s vom Maul weg wie dem besten Pfarrer; sie haben ihn auch schon in die Abteilung gewählt, er gilt viel, und der Nam Matthias Schorer, das ist ein Wort, vor dem alle Respekt haben. Ich hab’ aber auch schon einmal vor alle Leut gesprochen. Ich weiß gar nicht, von Anfang hat mir ein bißle das Herz puppert, nachher ist mir’s aber grad gewesen, wie wenn ich zu Euch reden thät, so frank von der Leber weg. Sie haben sich da drum gestritten, es ist ein Deutscher, ein Württemberger, oder wie man’s hier heißt, ein Schwab ankommen, er ist Offizier gewesen, und der König hat ihn begnadigt, er hat ein’ Verschwörung angestiftet gehabt unterm Militär und hat nachher alle seine Kameraden verraten, hier hat er sich für einen Freiheitsmann ausgegeben, da ist aber ein Brief von drüben rüber kommen, daß er dem Teufel vom Karren gefallen und für den Galgen zu schlecht sei. Da haben sie lang gestritten, ob er bei uns hier Offizier werden kann, da hab’ ich endlich gesagt: Zu der Haue kann man einen Stiel finden. Er soll einen Brief beibringen von seinen Kameraden, daß er den Braven an ihnen gemacht hat; ich kann’s nicht glauben, daß ein Württemberger so schlecht ist, daß er zuerst den König und nachher noch einmal seine Kameraden verrat’t. Und das ist auch beschlossen worden, wie ich’s gesagt hab’. Wie ich aber den Mann mit seinem Gesicht wieder angesehen hab’, da hab’ ich denkt: das Letzt’ hätt’st können bleiben lassen, der sieht ja aus, wie wenn er die Gais gestohlen hätt’.

„Ich bin auch Offizier bei der Nazenalmiliz, so was man bei uns Leutnant heißt; weil ich beim Militär gewesen bin und die Sach’ gut versteh’, haben sie mich dazu gewählt. Wir wählen uns hier selber die Offizier’, hier ist alles frei. Der Schultheiß von Nordstetten ist doch nur Feldwebel gewesen. Wenn ich heim kommen thät, nein, ich thät mich doch nicht als Offizier anziehen; ich bin ein freier Bürger, und das ist mehr als Offizier und General, ich tausch’ mit keinem König. Mutter, es ist ein prächtig Land, das Amerika; schaffen muß man, und das recht tüchtig, aber darnach weiß man auch warum, die Zehnten und Steuern nehmen nicht den Rahm oben ‘runter. Ich leb’ hier auf meinem Hof, da hat mir kein Kaiser und kein König was zu befehlen, und vom Presser weiß man hier gar nichts. Du lieber Gott! wenn ich dran denk’, wie der mit einem langen Zettel in der Hand, mitsamt dem Schütz durchs Dorf gegangen ist, und die Leut’ in den Häusern haben geheult und geschrieen und die Thüren zugeschlagen, und da hat der Presser einen zinnernen Teller, einen Kupferhafen, eine Pfann’ und eine Schabeslamp von einem armen Juden zum Schultheiß tragen. Es ist ein Kreuz, daß das Elend bei uns so ist; ich mein’, das könnt’ und müßt’ anders sein. Ich möcht’ aber doch keinen dazu aufstiften, ‘rüber zu kommen. Es ist kein’ Kleinigkeit, so weit weg von daheim zu sein, wenn man’s auch noch so gut hat. Allbot überkommt mich ein Jammer, daß ich mich vor mir selber schäm’, da möcht’ ich grad alles aufpacken und fort nach Deutschland. Einmal muß ich’s noch sehen, so lang mir ein Aug’ offen steht. Ich kann’s nicht sagen, wie mir’s ist, aber ich verzwazel (Verzwazeln, so viel als verzweifeln, spöttisch gebraucht) oft schier und möcht oft grad heulen wie ein Schloßhund. Ich weiß wohl, das schickt sich nicht für einen Mann, aber ich kann nicht anders, und vor Euch brauch’ ich mich ja nicht zu schämen. Ich glaub’ als, es ist eigentlich nur der Jammer nach Euch. Schon mehr als tausendmal hab’ ich so vor mich hin gesagt: Wenn nur auch mein Mütterle da wär, mein gut, gut Mütterle! wenn sie nur einmal dort auf der Bank gesessen hätt’; da thätet Ihr Euch freuen mit denen großen Milchhäfen und o du lieber Heiland! mit meinem Basche und mit dem, wo jetzt auf dem Weg ist. Wenn ich Euch was leids than hab’, verzeihet mir’s, es hat Euch g’wiß kein Mensch auf der Welt lieber als ich.

„Ich hab’ ein bißle ausschnaufen müssen und schreib’ jetzt weiter. Es ist doch ein’ schöne Sach, daß wir ordentlich schreiben und lesen gelernt haben, ich dank’s Euch tausendmal, daß Ihr uns recht dazu angehalten. Ihr müsset aber nicht denken, daß ich traurig bin. Freilich bin ich nimmer allweil so lustig wie vor Zeiten, ich bin halt auch älter und hab’ viel erfahren; aber manchmal bin ich doch so froh und hab’ alles so gern auf der ganzen Welt, daß ich pfeifen, singen und tanzen kann. Manchmal thut mir’s als noch ein bißle weh, wenn ich an etwas denk’, aber ich mach Brr! und schüttl’ mich wie ein Gaul, und fort muß es. Ich und mein’ Mechthild wir leben wie zwei Kinder, und unser Basche, der hat Knochen, so fest und stark wie ein jung’s Kalb, und Fleisch wie ein Nußkern.

„Am Sonntag, wenn wir zur Kirch’ fahren, da nehmen wir uns Salz mit heim, und was man sonst noch braucht, und mein’ Mechthild hat gesagt, wir holen uns auch himmlisch Salz, aus der Mess’ und der Predigt, und damit salzen wir unser Seel. Die Mechthild macht oft gar schöne Rätsel und G’späß. Wir haben uns auch ein Ritterbuch kauft, von dem Rinaldo Rinaldini, das ist ein’ gar grauselige Räubergeschicht’, und die haben wir schon mehr als zehnmal gelesen, und wie ich vorlängst verschlafen bin, ist die Mechthild kommen und hat das Lied gesungen und hat mich geweckt. Weil ich grad von Lieder red’, hätt’ ich eine Bitt’, Ihr müsset mich aber nicht auslachen.

„Gucket, wenn man so in der weiten Welt draußen ist und allein für sich singen soll, da merkt man erst, wie man von so viel Lieder bloß den Anfang kennt, und das andre hat man eben bloß so denen andren im Tralatel nachg’sungen, und da möcht’ man sich schier den Kopf ‘runterreißen, weil einem das Ding nicht einfallen will, aber man kriegt’s halt nicht ‘raus. Es geht einem mit vielen Dingen so, man meint, man könn’s, bis es einmal heißt: jetzt Alterle, jetzt mach’s allein.

„Nun hätt’ ich die Bitt’, aber dürfet mich nicht auslachen: lasset Euch alle Nordstetter Lieder vom alten Schullehrer aufschreiben, ich will’s ihm gern gut bezahlen. Geltet, Ihr vergesset’s aber nicht und schicket mir’s oder bringet’s mit, wenn Ihr kommet.

„Ich muß Euch auch noch was erzählen. Denket nur einmal, Mutter! Ich sitz’ am Dienstag vor drei Wochen an meinem Wagen und mach’ die Deichsel zurecht – man kann hier nicht all’ Ritt zum Wagner springen, da muß man alles selber machen – wie ich nun so da sitz’, da hör’ ich auf einmal: ›Bist fleißig, Aloys?‹ Ich guck’ auf, wer steht da? des langen Herzles Kobbel (Jakob), der bei der Gard’ gewesen ist. Wir sind sonst nicht die besten Freund’ gewesen, aber ich hab’ nicht daran denkt und bin ihm um den Hals gefallen und hab’ ihn schier verdruckt. Ich glaub’, wenn der Jörgli käm’, ich thät ihm auch die Hand geben; er käm’ ja von Nordstetten.

„Ich hab’ alles im Haus zusammengerufen und hab’ einem welschen Hahn den Kragen abgeschnitten. Der Kobbel hat mit mir gessen, wie ein andrer Mensch auch. Die Gesetz’ von denen Essensspeisen, die sind für die alt Welt und nicht mehr für die neu.

„Der Kobbel ist acht Tag’ bei mir blieben und hat mir helfen schaffen im Feld, er kann’s so gut wie ein Christ; das hat mir rechtschaffen gefallen, daß er einsieht: für einen Soldaten, der Ehr’ im Leib hat, schickt sich’s nicht mehr, mit dem Zwerchsack ‘rumzulaufen; er will sich hier herum Aecker kaufen, ich bin ihm dazu behilflich, ich muß auch meine lieben Juden von Nordstetten hier haben, sonst ist es gar kein recht’s Nordstetten. Darnach wird er auch zur Nazenalmiliz gehen. Er kann mit der Zeit auch Offizier werden. Hier fragt man keinen nach seinem Glauben; wenn der Mensch nur brav und gesund ist. Abends sind wir alls zusammengesessen, ich, mein’ Mechthild, mein Schwäher und mein’ Schwieger und ihre Buben und Mädle und der Kobbel, und da haben wir Lieder von daheim gesungen, es ist mir grad g’wesen, wie damals, wo das Marannele mit seiner neuen Kunkel kommen ist. Ihr müsset aber nicht meinen, daß ich oft an das Marannele denk’. Ich hab’ mein’ Mechthild rechtschaffen gern und sie mich auch. Ich wünsch’, daß alle Leut’ einander so gern hätten und so gut hausen thäten.

„Nun von wegen Eurem Kommen. Ich mag nicht zu arg bitten, der Matthes wird Euch alles da drüber schreiben: aber wenn’s möglich wär’ – nein, ich will ja nicht bitten. Der Kobbel sagt mir, daß unser Xaver zu des Zimmermann Valentins Gretle geht; das wird sich auch nicht vor der Ueberfahrt fürchten und wird mit ihm gehen. Es ist jetzt eins, Nordstetten hüben oder Nordstetten drüben.

„Schreibet auch bald Antwort. Schicket den Brief nur wieder an den Matthes, der kommt öfter nach der Stadt.

„Nun wünsch’ ich von Herzen wohl zu leben. Denket auch als einmal an mich. Mein’ Mechthild und mein Basche und meine Schwiegereltern grüßen Euch von Herzen. Mein’ Schwieger hat meinen Basche gelernt, wenn man ihn fragt: wo ist denn deine andre Ahne? hernach sagt er: drüben auf dem Schwarzwald. Ich verbleibe Euer getreuer Sohn
Aloys Schorer.

„Das ist die Hand von meinem Basche, ich hab’ sie abzeichnet, liebe Mutter, grad wie er sie aufs Papier gelegt hat, weil noch Platz da gewesen ist.“

Ivo sollte nun auch noch den Brief vom Matthes lesen, aber er versprach dies auf ein andermal. und von der dankenden Mutter, die ihre Thränen trocknete, bis an die Thüre geleitet, machte er sich auf seinen Weg.

Draußen vor dem Dorfe sah er seine Schwester Gretle mit dem Xaver nach der Wiese gehen. Er wußte jetzt, warum seine Schwester immer so streitsüchtig und mißmutig war: der Vater wollte ihre Bekanntschaft mit dem „Amerikaner“, wie er Xaver betitelte, nicht dulden.

Mit einem Hops hoch in die Luft springend, schüttelte Ivo die ganze Last der Standeswürde von sich ab. Er sprang und sang wie ehedem, immer über die Steinhaufen am Rande der Straße hinweghüpfend.

Der Brief des Aloys hatte einen gewaltigen Eindruck auf ihn gemacht. Er sah hier ein durch tüchtige Arbeit und Selbständigkeit beglücktes, ein rechtschaffenes Leben in der eigentlichen Bedeutung des Wortes; zum erstenmal wurde es ihm recht klar, wie bei dem Studieren die Körperkraft so brach liegt und darum so oft eine prickelnde Unruhe in allen Gliedern sitzt, wie die Müdigkeit da kein so angenehmes Gefühl bietet, als nach körperlicher Anstrengung. Er dachte daran, daß er Pfarrer und zugleich Bauer in Amerika sein wolle, und er dachte weiter, wie er seine Schwester besuche, von Hof zu Hof wandere, die Kinder lehre und in allen Häusern ein gottseliges Aufschauen nach oben erwecke.

So kam er unter mancherlei Gedanken nach Horb. Die Stadt erschien ihm bei weitem nicht mehr so schön als früher, die Häuser nicht mehr so groß; er hatte jetzt schönere gesehen.

Der Kaplan war hocherfreut über seinen Zögling, und die Frau Hanklerin, die krank im Bette lag, sagte: „Das macht mich wieder ganz gesund, daß du wieder da bist.“ Die Oberamtmannssöhne waren nicht mehr in der Stadt, denn wir erinnern uns, daß ihr Vater von der Aextegeschichte her versetzt worden ist.

Es war schon Nacht geworden, als Ivo von Horb heimkehrte. Im Dorfe traf er den Konstantin, der, den einäugigen Peter an der Hand führend, mit den halbgewachsenen Burschen singend durch die Straße zog: er lehrte sie neue Lieder und erzählte unter großem Gelächter allerlei Schliche und Schabernack, die er seinen Lehrern im Kloster angethan hatte. Ivo ging eine Weile still mit, vor seinem Hause aber sagte er: „Gute Nacht“ und ging hinein.

Während der ganzen Vakanz war Ivo viel allein. Er spazierte entweder einsam durch das Feld, oder übte sich zu Hause auf dem Waldhorn, das er sich von des Bäcken Konrad entlehnt hatte. Die Mutter Christine aber drängte ihn immer, er solle auch aus dem Haus gehen und nicht so immer daheim hinhocken. Bisweilen ging er nun auch mit dem neuen Schullehrer über Feld. An Konstantin schloß er sich nur dann an, wenn er ihm nicht ausweichen konnte.

Ein großer Schmerz durchwühlte das junge Herz unsers Ivo, er sah die nur halbverdeckte Zwietracht zwischen seinen Eltern; früher hatte er nichts davon bemerkt, er war stets inmitten aller dieser Verhältnisse aufgewachsen. er kannte ihre Mängel nicht, im Kloster hatte er sich sodann das Leben zu Hause als ein paradiesisches, im ewigen Frieden hinfließendes vor die Seele gezaubert, alles Herbe und Schroffe, wenn je etwas davon in seiner Seele gehaftet hatte, war vergessen. So, mit neuem Bewußtsein, mit einem gewissen Bilde der Vollkommenheit in sein elterliches Haus zurückgekehrt, erschien ihm vieles darin verzerrt und zerrissen, vielleicht ärger, als es war. Er kam aus einem Hause, wo sich alles nach steten äußerlich festgestellten Gesetzen bewegt: da ging alles ohne Ueberlegung und Widerrede nach der Regel wie ein Uhrwerk, und wenn ihn auch der Klosterzwang sehr drückte, so verstand er es doch nicht, wie in einem freien Familienverbande, wo jedes nach eigener Bestimmung für das Ganze handelt, manches Disputieren und manche laute Zurechtsetzung stattfinden muß. War ihm daher das ganze laute Treiben des Hauses, ja sogar das stark betonte Sprechen fremd und sah er die Leute verwundert an, so schüttelte er über die Art und Weise seines Vaters oft den Kopf. Wenn die Mutter zu den Planen Valentins von neuen Häuserbauten „auf den Verkauf“ schwieg, schrie er: „Da haben wir’s wieder, du gibst halt nie etwas auf das, was ich sag’; ob ein Hund bellt, oder ob ich schwätz’, das ist dir all’ eins.“ Widersprach sie ihm, dann sagte er schmerzlich: „Das ist der alt’ Tanz, was ich halt vorhab’, ist bei dir nicht recht.“ Behandelte ihn dann die Mutter sanft, wie einen Gemütskranken, und er merkte das, so fluchte er. War sie dagegen standhaft und fest und ließ sich nichts von ihm gefallen, so sagte er: „Das ist Gott bekannt, du lebst eben nicht für mich, du lebst für deine Kinder; gelt, es wär’ dir recht, wenn ich sterben thät?“ und dann setzte er sich hin, aß nicht und trank nicht und redete kein Wort, oder er ging ins Wirtshaus; er ließ sich aber dort nichts zu essen geben; denn er wußte, daß das seine Frau kränke, weil die Leute darüber reden würden, er ging dann lieber hungrig zu Bette.

Mit unbeschreiblichem Schmerze blickte Christine bei derlei Vorkommnissen auf ihren Ivo. Sie sah alle die Qualen, die ihre Marterzüge auf seinem Antlitze ausbreiteten, und sie gab sich noch mehr Mühe, alles zu verhehlen und zu vertuschen; die andren Kinder waren solche Vorfälle mehr gewohnt, es ging ihnen nicht mehr nahe.

Christine sah wohl ein, daß sie sich mit ihrem jüngsten Sohn besprechen müsse; sie setzte sich daher eines Abends vor sein Bett und sagte: „Guck, dein Vater ist der rechtschaffenste Mann, den man finden kann, aber er hat eine unglückliche Natur, er ist mit sich selber unzufrieden, weil er halt manches verunschickt (Vernachlässigt, falsch macht) und nicht alles nach seinem Kopf geht; und da möcht’ er dann grad, daß andre allfort mit ihm zufrieden sein sollten. Wenn er sieht, daß das nicht ist, und das kann ja nicht sein, da regt sich sein guter Geist noch mehr in ihm, und ich bin’s doch meinen Kindern schuldig, ich darf’s nicht zugeben, daß alles hinter sich geht. Ich für mein Teil wollt’ gern mein Leben lang trocken Brot essen, aber für meine Kinder darf ich’s nicht zugeben, daß wir in fünf Jahren an den Bettelstab kommen und sie unter fremden Leuten herumgestoßen werden. Guck, er hat keinen Menschen auf der Welt lieber als mich, er gäb’ gleich den letzten Tropfen Blut für mich hin, ich für ihn auch; aber er will eine Hypothek aufs Haus und die Güter aufnehmen und will mit dem Schreiner Koch Häuser auf den Verkauf bauen. und ich soll mit unterschreiben, und das thu’ ich nicht, da bringen mich keine zehn Gäul’ dazu, das ist meinen Kindern ihr Sach’, ich muß als Mutter an ihnen handeln. Wir sind schon die reichen Leute nimmer, und die Armen dürfen ja auch nicht drunter leiden, daß es nimmer so bei uns ist, die müssen ihr Schenkasche haben, und wenn ich mir’s am Maul absparen muß. Ja, lieber Ivo, laß dir das von deiner Mutter gesagt sein: wie dir’s auch geht, vergiß nur nie der Armen; das Korn auf der Bühne wächst noch, wenn man davon hergibt, und unser Herrgott gesegnet das Brot in der Schublade, daß es besser sättigt. Gelt, guter Ivo, du hast deinen Vater auch recht gern? Er ist der best’ Mensch von der Welt. Gelt, du hältst ihn in Ehren? Du bist sein Stolz, wenn er dir’s auch nicht sagt, er kann das nicht. Wenn er vom Adler heimkommt, wo dich alle Leut’ so überaus loben, weil des Schneider Christles Gregor so gut von dir schreibt, da kann man ihn um einen Finger wickeln. Nimm dir’s nur recht vor, daß du dich gar nicht irr machen lassen willst, und sei nicht betrübt. Was man sich recht vornimmt, das kann man auch, glaub mir’s.“

Ivo nickte bejahend und küßte die Hand seiner Mutter, aber eine tiefe Schwermut belastete seine Seele: das Paradies seines elterlichen Hauses war vor ihm eingesunken, nur seine Mutter schwebte noch wie ein Lichtengel darüber, und einmal sagte er sich ganz leise: „Sie heißt nicht umsonst Christine, sie ist grad wie der Heiland, sie nimmt mit Lächeln das schwerste Kreuz auf sich, will gar nichts für sich und alles für andre.“

So kam es, daß Ivo dem Ende der Vakanz mit weniger Schmerz entgegensah, als er bei der Heimkunft gedacht hatte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 1