4. Muckele und Wusele. - Das Haus Valentins wurde um ein Glied vermehrt, auf das die Blicke aller gerichtet waren; ...
4. Muckele und Wusele. - Das Haus Valentins wurde um ein Glied vermehrt, auf das die Blicke aller gerichtet waren; Valentin brachte nämlich vom Oberndorfer Markt eine schöne Kuhkalbin mit. Ehe das Tier ins Haus gebracht wurde, musterten und schätzten es die Nachbarn und alle Vorübergehenden. Die Mutter, Ivo und Nazi gingen dem Ankömmling bis vor die Thür entgegen. Hier erhielt Ivo ein hölzernes Pferd, dann übergab Valentin, vergnügt um sich schauend, das Seil an Nazi, herausfordernd betrachtete er die Nachbarn und wiederum das „ausbundige“ Tier, das er mit einem Schlage in den Stall entließ. Das Tier war schön und stattlich, mit einem Worte, so was man eine „rechtschaffene, stolze Kuh“ nennt.
Als die offene Stelle im Stalle wieder besetzt war, eilte Ivo, sein hölzernes Pferd auf der Brust tragend, mit Nazi in den Schuppen; sie brachten „kurz Futter“ für die Fremde, aber das Tier öffnete den Mund nicht und brummte nur so vor sich hin. Ivo strich ihm sanft mit der Hand über die zarten Haare, es wendete den Kopf nach dem Knaben und schaute ihn lange an.
Ivo tummelte dann sein hölzernes Pferd, das that gar nicht fremd, es war überall zu Hause und trug den Kopf mit der Hahnenfeder immer stolz.
Nachts erwachte Ivo plötzlich von seinem Schlafe; er hörte ein Jammern, das ihm durch die Seele schütterte. Die Klagen der Algäuer Kalbin erschollen immer tiefer und tiefer aus dem Innersten heraus, und es war, als ob sie ihr ganzes Leben damit ausklagen müßte.
Ivo hörte lange zu, wie das Schreien durch die Stille der Nacht so wehvoll und schauerlich klang. So oft das Tier eine Pause machte, horchte er mit angehaltenem Atem; er glaubte, jetzt und jetzt müsse doch das Klagen aufhören, aber es kam immer wieder. Ivo weckte endlich seinen Vater.
„Was gibt’s?“
„Die fremd’ Kalbin schreit.“
„Laß sie schreien, schlaf, du dummer Bub, die Kalbin hat eben Jammer (Heimweh), und da ist’s nicht anders.“
Ivo verdeckte sich die Ohren mit dem Kissen und schlief wieder ein.
Fast drei Tage lang fraß die Kalbin keinen Bissen, endlich aber gewöhnte sie sich an das andere Vieh im Stalle und war still und fraß wie die andern. Zu neuem Jammer gingen ihr aber die Klauen an den Vorderfüßen ab; sie waren nur gewohnt, auf weicher Weide, nicht aber einen so weiten Weg auf harter Straße zu gehen.
Ivo half nun oft dem Nazi der Kalbin die Füße verbinden, seine Demut und sein Mitleid, das er der Fremden bezeigte, war gar groß; sie erwiderte aber auch, so weit sie vermochte, seine Teilnahme, und Nazi, der sich gar wohl auf die Tiere verstand, sagte: „Der Hirtenbub von der Algäuerin hat dir ähnlich gesehen, Ivo, das merk’ ich wohl.“
So viel Freude nun Ivo an der Algäuerin gewonnen, ebensoviel Schmerz erlebte er an seinem hölzernen Pferde. Dieses war durch den Lauf der Zeit unsauber geworden. Ganz in aller Stille lief er daher eines Morgens nach der Schwemme, wusch und putzte es tüchtig, aber laut wehklagend kehrte er heim, denn alle Farben waren abgelaufen.
So erfuhr Ivo schon frühe, wie wenig dem gemachten Spielzeuge zu trauen ist. Das Schicksal gab ihm aber reichlichen Ersatz für seinen Verlust.
Es war wiederum einmal spät in der Nacht, da war alles im Hause wegen der Kalbin auf den Beinen; sie gebar ein Junges.
Ivo durfte nicht in den Stall, er hörte von ferne ein jämmerlich dumpfes Wehklagen, denn auch die Haustiere hat der Fluch getroffen, daß sie „mit Schmerzen gebären“.
Als es kaum Tag war, eilte Ivo in den Stall. Er sah das schöne Kälbchen zu den Füßen der Mutter, es war ein Stromel (Schwarzgestriemt), die Mutter küßte und leckte es mit ihrer Zunge; niemand durfte sich ihm nahen, denn die Kuh war dann wie wütend, nur als Ivo hinzu kam und das Kälbchen schüchtern berührte, war die Algäuerin ruhig; ihr Erstgebornes war ein Sohn, und Ivo ließ bei seinem Vater nicht nach, bis er ihm das Versprechen gab, daß man das Kälbchen „anbinden“, das heißt: großziehen wolle.
Von nun an war Ivo jedesmal in der Küche dabei, wenn der Wöchnerin warme Tränke bereitet wurde, und niemand als er durfte ihr den Kübel hinhalten.
Fast nie bleibt eine Freude ungestört, das erfuhr auch Ivo.
Eines Tages kehrte er aus der Schule heim, da sah er einen großen Hund auf der Hausschwelle stehen. Sorgsam ging er an ihm vorbei nach dem Stalle. Dort erblickte er einen Mann mit einem blauen Ueberhemde, ein rot und gelb gewürfeltes Halstuch hing lose geknüpft an seinem Halse, und in der Hand hielt er den von Messingdraht umwundenen Griff eines Schlehdornstockes.
Ivo sah wohl, daß das ein Metzger war. Der Vater stand bei ihm und sagte:
„Um acht Gulden geb’ ich’s, es ist aber schad, wenn es gemetzget wird, es hat so mächtige Stotzen (Füße).“
„Sieben Gulden geb’ ich!“
Der Vater schüttelte den Kopf.
„Nun meinetwegen noch ein Kopfstück (15 Kreuzer).“
Ivo hatte dies kaum vernommen, da wurde ihm alles klar. Er stellte sein Schulzeug schnell an die Wand, sprang in den Stall, fiel dem Kälbchen um den Hals, und es mit seinen Armen fest umklammernd, rief er: „Nein, guts Muckele, sie dürfen dir nicht in deinen lieben Hals ‘nein stechen,“ er weinte laut und konnte kaum noch die Worte hervorbringen: „Vater, Vater! Ihr habt mir’s ja versprochen.“
Das Kälbchen schrie laut, gleich als ahnte es, was vorging, und die Kuh wendete den Kopf und brummte, ohne das Maul zu öffnen.
Valentin nahm in Verlegenheit seine Mütze ab, schaute hinein und setzte sie wieder auf. Mit einem lächelnden Blicke auf Ivo sagte er endlich: „Nun, es soll so bleiben, ich mag’s dem Kinde nicht zuleide thun. Ivo, du kannst es aufziehen, aber du mußt ihm auch Futter schaffen.“ Der Metzger ging fort, sein Hund bellte ihm voraus, gleich als wollte er den innern Zorn seines Herrn laut werden lassen. Er fuhr dann unter die Hühner und Gänse Valentins und jagte sie auseinander, gerade wie ein Bedienter an den Untergebenen von seines Herrn Feinden seinen Mutwillen ausläßt.
Ivo war nun glücklich mit dem Kälbchen, er hatte es vom Tode gerettet; aber es schnitt ihm doch tief durch die junge Seele, daß sein Vater ihm sein Versprechen hatte brechen wollen. Er vergaß dies indes bald wieder, und mit großer Freude führte er in seinen Freistunden das Muckele hinaus an einen Rain und ließ es weiden.
Eines Nachmittags stand Ivo neben seinem Muckele an dem Wiesenrain in der Hohlgasse, er hielt das Seil und ließ das Kälbchen fressen. Mit heller Stimme sang er ein Lied, das ihn der Nazi gelehrt. Die Töne klangen wie von Sehnsucht und Heimweh durchzittert. Er sang:
Dort oben, dort oben
An der himmlischen Thür,
Und da steht eine arme Seele,
Schaut traurig herfür.
Arme Seele mein, arme Seele mein,
Komm zu mir herein;
Und da werden deine Kleider
Ja alle so rein.
So rein und so weiß,
So weiß als wie der Schnee,
Und so wollen wir miteinander
In das Himmelreich eingehn.
In das Himmelreich, in das Himmelreich,
In das himmlische Paradies,
Wo Gott Vater, wo Gott Sohne,
Wo Gott heiliger Geist ist.
Kaum hatte das Lied geendet, da sah er die Emmerenz von der Leimengrube herkommen. Sie trieb mit einem dürren Tannenzweige junge Entchen vor sich her, bei Ivo hielt sie an und ließ die Entchen sich im Graben tummeln.
„Ich komm’ von der Leimengrub,“ erzählte sie, „ich hab’ viel Prast gehabt, bis ich meine sechs Wusele (Eigentlich nennt man bloß junge Gänse so, junge Entchen aber heißen Geitle, Emmerenz gebrauchte aber abwechselnd beide Ausdrücke.), guck da, vier graue und zwei weiße, aus dem Wasser ‘rausgelockt hab’. Jetzt sind sie acht Tag’ alt. Denk einmal, mein’ Mutter hat die Eier einer Henn’ untergelegt, und jetzt will sie die Henn’ nicht annehmen, sie läßt sie laufen und kümmert sich gar nicht um sie.“
„Das sind jetzt Waisenkinder, und da mußt du ihr’ Mutter sein,“ sagte Ivo.
„Ach, und wie barmherzig können die einen ansehen, weißt du, nur so von der Seite.“ Emmerenz ahmte die Tierchen nach; den Kopf auf die Seite legend und von unten aufschauend, blickte sie Ivo gar lieblich an, der wiederum sagte:
„Guck, die Tierle können doch kein’ Augenblick ruhig sein, das pfludert und pfladert in einem fort; ich thät’ den Schwindel kriegen, wenn ich so wär’.“
„Ich komm’ nicht draus,“ sagte Emmerenz mit sinnendem Blicke, „woher denn die Geitle wissen, daß sie ins Wasser können; wenn sie noch ein’ Geit ausgebrütet hätt’, die thät’s ihnen weisen, aber die Henn’ hat sie ja laufen lassen, und wie sie nur haben fortkratteln können, patschen sie wick wack, von einem Fuß auf den andern, ‘naus in die Leimengrub.“
Hier standen die Gedanken zweier jungen Seelen vor der geheimen Thüre der Natur. Eine Weile herrschte Stille, dann aber sagte Ivo:
„Die Geitle halten alle zusammen und gehen nicht voneinander; mein’ Mutter hat gesagt, so müssen’s auch die Menschen machen, Geschwister gehören zusammen, und wenn die Gluck ruft, kommen alle Bibbele (Hühner) gesprungen.“
„Ja, die garstigen Bibbele, die großen Dinger schämen sich nicht und fressen meinen Geitle alles weg, wenn ich ihnen was bring’. Wenn’s nur auch einmal wieder rechtschaffen regnen thät, daß meine Geitle auch wachsen thäten. Nachts, da thu ich sie allemal in einen Tratten (Korb), man darf sie nicht recht anrühren, so weich sind sie, und da huschen sie in ihrem Bettle zusammen. wie ich zu meiner Ahne (Großmutter); und mein’ Ahne hat gesagt, wenn sie einmal groß sind, da rupft sie sie und macht mir ein Kissen daraus.“
So plauderte Emmerenz. Ivo fing aber plötzlich an zu singen:
Da droben auf’m Bergle,
Do steht e weißer Schimmel,
Und de brave Büeble
Kommet alle in Himmel.
Emmerenz sang dagegen:
Und die brave Büeble
Kommet et allein drein,
Und die brave Mädle
Müsset au dabei sein.
Ivo sang wieder:
Da droben auf’m Bergle,
Do steht e schwarzer Mann,
Er hot mi wolle fresse,
Hot’s Maul aufgethan.
Bald begann nun eins, bald das andre der Kinder, und sie sangen:
Schätzle, schau schau!
Jetzt kommt der Wauwau,
Hot e Ränzle auf’m Buckel
Und e Pfeifle im Maul.
Hörst et, wie’s Vögele singt,
Hörst et, wie’s pfeift?
In dem Wald, aus dem Wald:
Schätzle, wo bleibst?
Fahr mer et über mein Aeckerle,
Fahr mer et über mein Wies’,
Oder i prügel di wägerle (Wahrlich),
Oder i prügel di g’wiß.
O Appele von Kappele,
Was machen deine Gäns’?
Sie pfluderet, sie pfladeret
Mit ihre kurze Schwänz’.
So sangen die Kinder noch mancherlei, eins schien das andre an Liederreichtum überbieten zu wollen. Endlich sagte Ivo: „Treib du jetzt deine Geitle heim, i gang au bald.“ Ein gewisses Schamgefühl hielt ihn ab, mit Emmerenz zugleich durch das Dorf heimzukehren; er war sich bloß der Scheu vor seinen neckenden Kameraden bewußt.
Nachdem Emmerenz eine Weile fort war, machte sich Ivo mit seinem Muckele auf den Heimweg.
Ivo, der, mit einer besonders feinen Empfindung begabt, auf alles sein Gefühl übertrug, sah mit Schmerz, daß die Algäuerin, seitdem ihr Junges abgewöhnt war, sich gar nicht mehr um dasselbe bekümmerte. Er hatte noch nicht gewußt, daß die Tiere nur so lange mit liebender Sorgfalt an ihren Jungen hängen, als diese in unmittelbarer Abhängigkeit und in natürlichem Zusammenhange mit ihnen stehen. Nur so lange die jungen Vögel noch nicht recht fliegen und ihre Nahrung holen können, nur so lange ein Junges an der Mutter saugt, dauert das elterliche Verhältnis. Aus dem natürlichen Zusammenhange herausgerissen, oder ihm entwachsen, kennen die Eltern, und besonders die Haustiere, die Jungen nicht mehr. Der Mensch allein, der zu seinem Kinde nicht bloß in leiblichem, sondern auch in geistigem Zusammenhange steht, nur der Mensch allein erhält ewige Liebe für seine Sprößlinge.
Als die offene Stelle im Stalle wieder besetzt war, eilte Ivo, sein hölzernes Pferd auf der Brust tragend, mit Nazi in den Schuppen; sie brachten „kurz Futter“ für die Fremde, aber das Tier öffnete den Mund nicht und brummte nur so vor sich hin. Ivo strich ihm sanft mit der Hand über die zarten Haare, es wendete den Kopf nach dem Knaben und schaute ihn lange an.
Ivo tummelte dann sein hölzernes Pferd, das that gar nicht fremd, es war überall zu Hause und trug den Kopf mit der Hahnenfeder immer stolz.
Nachts erwachte Ivo plötzlich von seinem Schlafe; er hörte ein Jammern, das ihm durch die Seele schütterte. Die Klagen der Algäuer Kalbin erschollen immer tiefer und tiefer aus dem Innersten heraus, und es war, als ob sie ihr ganzes Leben damit ausklagen müßte.
Ivo hörte lange zu, wie das Schreien durch die Stille der Nacht so wehvoll und schauerlich klang. So oft das Tier eine Pause machte, horchte er mit angehaltenem Atem; er glaubte, jetzt und jetzt müsse doch das Klagen aufhören, aber es kam immer wieder. Ivo weckte endlich seinen Vater.
„Was gibt’s?“
„Die fremd’ Kalbin schreit.“
„Laß sie schreien, schlaf, du dummer Bub, die Kalbin hat eben Jammer (Heimweh), und da ist’s nicht anders.“
Ivo verdeckte sich die Ohren mit dem Kissen und schlief wieder ein.
Fast drei Tage lang fraß die Kalbin keinen Bissen, endlich aber gewöhnte sie sich an das andere Vieh im Stalle und war still und fraß wie die andern. Zu neuem Jammer gingen ihr aber die Klauen an den Vorderfüßen ab; sie waren nur gewohnt, auf weicher Weide, nicht aber einen so weiten Weg auf harter Straße zu gehen.
Ivo half nun oft dem Nazi der Kalbin die Füße verbinden, seine Demut und sein Mitleid, das er der Fremden bezeigte, war gar groß; sie erwiderte aber auch, so weit sie vermochte, seine Teilnahme, und Nazi, der sich gar wohl auf die Tiere verstand, sagte: „Der Hirtenbub von der Algäuerin hat dir ähnlich gesehen, Ivo, das merk’ ich wohl.“
So viel Freude nun Ivo an der Algäuerin gewonnen, ebensoviel Schmerz erlebte er an seinem hölzernen Pferde. Dieses war durch den Lauf der Zeit unsauber geworden. Ganz in aller Stille lief er daher eines Morgens nach der Schwemme, wusch und putzte es tüchtig, aber laut wehklagend kehrte er heim, denn alle Farben waren abgelaufen.
So erfuhr Ivo schon frühe, wie wenig dem gemachten Spielzeuge zu trauen ist. Das Schicksal gab ihm aber reichlichen Ersatz für seinen Verlust.
Es war wiederum einmal spät in der Nacht, da war alles im Hause wegen der Kalbin auf den Beinen; sie gebar ein Junges.
Ivo durfte nicht in den Stall, er hörte von ferne ein jämmerlich dumpfes Wehklagen, denn auch die Haustiere hat der Fluch getroffen, daß sie „mit Schmerzen gebären“.
Als es kaum Tag war, eilte Ivo in den Stall. Er sah das schöne Kälbchen zu den Füßen der Mutter, es war ein Stromel (Schwarzgestriemt), die Mutter küßte und leckte es mit ihrer Zunge; niemand durfte sich ihm nahen, denn die Kuh war dann wie wütend, nur als Ivo hinzu kam und das Kälbchen schüchtern berührte, war die Algäuerin ruhig; ihr Erstgebornes war ein Sohn, und Ivo ließ bei seinem Vater nicht nach, bis er ihm das Versprechen gab, daß man das Kälbchen „anbinden“, das heißt: großziehen wolle.
Von nun an war Ivo jedesmal in der Küche dabei, wenn der Wöchnerin warme Tränke bereitet wurde, und niemand als er durfte ihr den Kübel hinhalten.
Fast nie bleibt eine Freude ungestört, das erfuhr auch Ivo.
Eines Tages kehrte er aus der Schule heim, da sah er einen großen Hund auf der Hausschwelle stehen. Sorgsam ging er an ihm vorbei nach dem Stalle. Dort erblickte er einen Mann mit einem blauen Ueberhemde, ein rot und gelb gewürfeltes Halstuch hing lose geknüpft an seinem Halse, und in der Hand hielt er den von Messingdraht umwundenen Griff eines Schlehdornstockes.
Ivo sah wohl, daß das ein Metzger war. Der Vater stand bei ihm und sagte:
„Um acht Gulden geb’ ich’s, es ist aber schad, wenn es gemetzget wird, es hat so mächtige Stotzen (Füße).“
„Sieben Gulden geb’ ich!“
Der Vater schüttelte den Kopf.
„Nun meinetwegen noch ein Kopfstück (15 Kreuzer).“
Ivo hatte dies kaum vernommen, da wurde ihm alles klar. Er stellte sein Schulzeug schnell an die Wand, sprang in den Stall, fiel dem Kälbchen um den Hals, und es mit seinen Armen fest umklammernd, rief er: „Nein, guts Muckele, sie dürfen dir nicht in deinen lieben Hals ‘nein stechen,“ er weinte laut und konnte kaum noch die Worte hervorbringen: „Vater, Vater! Ihr habt mir’s ja versprochen.“
Das Kälbchen schrie laut, gleich als ahnte es, was vorging, und die Kuh wendete den Kopf und brummte, ohne das Maul zu öffnen.
Valentin nahm in Verlegenheit seine Mütze ab, schaute hinein und setzte sie wieder auf. Mit einem lächelnden Blicke auf Ivo sagte er endlich: „Nun, es soll so bleiben, ich mag’s dem Kinde nicht zuleide thun. Ivo, du kannst es aufziehen, aber du mußt ihm auch Futter schaffen.“ Der Metzger ging fort, sein Hund bellte ihm voraus, gleich als wollte er den innern Zorn seines Herrn laut werden lassen. Er fuhr dann unter die Hühner und Gänse Valentins und jagte sie auseinander, gerade wie ein Bedienter an den Untergebenen von seines Herrn Feinden seinen Mutwillen ausläßt.
Ivo war nun glücklich mit dem Kälbchen, er hatte es vom Tode gerettet; aber es schnitt ihm doch tief durch die junge Seele, daß sein Vater ihm sein Versprechen hatte brechen wollen. Er vergaß dies indes bald wieder, und mit großer Freude führte er in seinen Freistunden das Muckele hinaus an einen Rain und ließ es weiden.
Eines Nachmittags stand Ivo neben seinem Muckele an dem Wiesenrain in der Hohlgasse, er hielt das Seil und ließ das Kälbchen fressen. Mit heller Stimme sang er ein Lied, das ihn der Nazi gelehrt. Die Töne klangen wie von Sehnsucht und Heimweh durchzittert. Er sang:
Dort oben, dort oben
An der himmlischen Thür,
Und da steht eine arme Seele,
Schaut traurig herfür.
Arme Seele mein, arme Seele mein,
Komm zu mir herein;
Und da werden deine Kleider
Ja alle so rein.
So rein und so weiß,
So weiß als wie der Schnee,
Und so wollen wir miteinander
In das Himmelreich eingehn.
In das Himmelreich, in das Himmelreich,
In das himmlische Paradies,
Wo Gott Vater, wo Gott Sohne,
Wo Gott heiliger Geist ist.
Kaum hatte das Lied geendet, da sah er die Emmerenz von der Leimengrube herkommen. Sie trieb mit einem dürren Tannenzweige junge Entchen vor sich her, bei Ivo hielt sie an und ließ die Entchen sich im Graben tummeln.
„Ich komm’ von der Leimengrub,“ erzählte sie, „ich hab’ viel Prast gehabt, bis ich meine sechs Wusele (Eigentlich nennt man bloß junge Gänse so, junge Entchen aber heißen Geitle, Emmerenz gebrauchte aber abwechselnd beide Ausdrücke.), guck da, vier graue und zwei weiße, aus dem Wasser ‘rausgelockt hab’. Jetzt sind sie acht Tag’ alt. Denk einmal, mein’ Mutter hat die Eier einer Henn’ untergelegt, und jetzt will sie die Henn’ nicht annehmen, sie läßt sie laufen und kümmert sich gar nicht um sie.“
„Das sind jetzt Waisenkinder, und da mußt du ihr’ Mutter sein,“ sagte Ivo.
„Ach, und wie barmherzig können die einen ansehen, weißt du, nur so von der Seite.“ Emmerenz ahmte die Tierchen nach; den Kopf auf die Seite legend und von unten aufschauend, blickte sie Ivo gar lieblich an, der wiederum sagte:
„Guck, die Tierle können doch kein’ Augenblick ruhig sein, das pfludert und pfladert in einem fort; ich thät’ den Schwindel kriegen, wenn ich so wär’.“
„Ich komm’ nicht draus,“ sagte Emmerenz mit sinnendem Blicke, „woher denn die Geitle wissen, daß sie ins Wasser können; wenn sie noch ein’ Geit ausgebrütet hätt’, die thät’s ihnen weisen, aber die Henn’ hat sie ja laufen lassen, und wie sie nur haben fortkratteln können, patschen sie wick wack, von einem Fuß auf den andern, ‘naus in die Leimengrub.“
Hier standen die Gedanken zweier jungen Seelen vor der geheimen Thüre der Natur. Eine Weile herrschte Stille, dann aber sagte Ivo:
„Die Geitle halten alle zusammen und gehen nicht voneinander; mein’ Mutter hat gesagt, so müssen’s auch die Menschen machen, Geschwister gehören zusammen, und wenn die Gluck ruft, kommen alle Bibbele (Hühner) gesprungen.“
„Ja, die garstigen Bibbele, die großen Dinger schämen sich nicht und fressen meinen Geitle alles weg, wenn ich ihnen was bring’. Wenn’s nur auch einmal wieder rechtschaffen regnen thät, daß meine Geitle auch wachsen thäten. Nachts, da thu ich sie allemal in einen Tratten (Korb), man darf sie nicht recht anrühren, so weich sind sie, und da huschen sie in ihrem Bettle zusammen. wie ich zu meiner Ahne (Großmutter); und mein’ Ahne hat gesagt, wenn sie einmal groß sind, da rupft sie sie und macht mir ein Kissen daraus.“
So plauderte Emmerenz. Ivo fing aber plötzlich an zu singen:
Da droben auf’m Bergle,
Do steht e weißer Schimmel,
Und de brave Büeble
Kommet alle in Himmel.
Emmerenz sang dagegen:
Und die brave Büeble
Kommet et allein drein,
Und die brave Mädle
Müsset au dabei sein.
Ivo sang wieder:
Da droben auf’m Bergle,
Do steht e schwarzer Mann,
Er hot mi wolle fresse,
Hot’s Maul aufgethan.
Bald begann nun eins, bald das andre der Kinder, und sie sangen:
Schätzle, schau schau!
Jetzt kommt der Wauwau,
Hot e Ränzle auf’m Buckel
Und e Pfeifle im Maul.
Hörst et, wie’s Vögele singt,
Hörst et, wie’s pfeift?
In dem Wald, aus dem Wald:
Schätzle, wo bleibst?
Fahr mer et über mein Aeckerle,
Fahr mer et über mein Wies’,
Oder i prügel di wägerle (Wahrlich),
Oder i prügel di g’wiß.
O Appele von Kappele,
Was machen deine Gäns’?
Sie pfluderet, sie pfladeret
Mit ihre kurze Schwänz’.
So sangen die Kinder noch mancherlei, eins schien das andre an Liederreichtum überbieten zu wollen. Endlich sagte Ivo: „Treib du jetzt deine Geitle heim, i gang au bald.“ Ein gewisses Schamgefühl hielt ihn ab, mit Emmerenz zugleich durch das Dorf heimzukehren; er war sich bloß der Scheu vor seinen neckenden Kameraden bewußt.
Nachdem Emmerenz eine Weile fort war, machte sich Ivo mit seinem Muckele auf den Heimweg.
Ivo, der, mit einer besonders feinen Empfindung begabt, auf alles sein Gefühl übertrug, sah mit Schmerz, daß die Algäuerin, seitdem ihr Junges abgewöhnt war, sich gar nicht mehr um dasselbe bekümmerte. Er hatte noch nicht gewußt, daß die Tiere nur so lange mit liebender Sorgfalt an ihren Jungen hängen, als diese in unmittelbarer Abhängigkeit und in natürlichem Zusammenhange mit ihnen stehen. Nur so lange die jungen Vögel noch nicht recht fliegen und ihre Nahrung holen können, nur so lange ein Junges an der Mutter saugt, dauert das elterliche Verhältnis. Aus dem natürlichen Zusammenhange herausgerissen, oder ihm entwachsen, kennen die Eltern, und besonders die Haustiere, die Jungen nicht mehr. Der Mensch allein, der zu seinem Kinde nicht bloß in leiblichem, sondern auch in geistigem Zusammenhange steht, nur der Mensch allein erhält ewige Liebe für seine Sprößlinge.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 1