5. Feldleben. - Nicht nur zu Hause bei Mensch und Vieh, sondern auch draußen bei der stillwachsenden Saat ...

5. Feldleben. - Nicht nur zu Hause bei Mensch und Vieh, sondern auch draußen bei der stillwachsenden Saat und unter den rauschenden Bäumen hatte Ivo ein reich angeregtes Leben; die ganze Welt mit ihren Herrlichkeiten und stillen Freuden zog in die offenen Paradiesespforten dieser jungen Seele ein.

Wenn wir durch das ganze Leben so fortfahren könnten, an Wachstum und Fülle zuzunehmen wie in der Kindheit, ein himmlisch gesegnetes Dasein wäre unser Los; aber das All dringt plötzlich in uns ein, und wir haben unser ganzes Leben lang nur damit zu thun, es zu zerlegen, zu enträtseln und zu erklären.


Während der großen Vakanz, zur Zeit der Ernte und der Heberet (Des Pflügens), war Ivo fast immer mit Nazi im Felde. Da draußen lebte er erst recht und doppelt auf, und wenn er den Blick aufwärts richtete, so war das Blau seiner Augen wie ein Tropfen aus der Himmelsbläue droben, die sich so still und klar über die Erde und die emsigen Menschen ausbreitete, und es war, als ob dieses leibhaftige Stückchen in einen Menschen versenkten Himmels wieder aufstrebe zu seinem unendlichen Urquell.

So etwas wenigstens dachte einst Nazi, als er den aufschauenden Ivo am Kinn faßte und ihn inbrünstig auf die Augen küßte. Gleich darauf aber schämte er sich dieser Zärtlichkeit und neckte und schlug im Scherze den Ivo.

Wenn die Kühe angespannt wurden, war Ivo immer zur Hand, er legte der Algäuerin, die nun auch zum Felddienste angehalten wurde, das Polster zwischen die Hörner; es freute ihn, daß das hölzerne Joch doch nicht gerade so hart auf dem Kopf der Tiere liege. Dann stand er im Felde bei den Tieren und wehrte ihnen mit einem Baumzweige die Bremsen ab. Zu dieser Sorgfalt für die wehrlos Angefochten hielt ihn Nazi mit weisen Ermahnungen an.

Ivo und Emmerenz stellten sich auch oft, schon lange ehe die Kühe oder der Falb angespannt wurde, auf den Wagen und tanzten auf dem Brette; dann fuhren sie selig hinaus ins Feld; tummelten sich auf der Wiese, sammelten das Heu auf Schochen (Haufen, nur beim Heu gebräuchlich) und stießen einander mutwillig hinein.

So oft der Nazi ins Feld fuhr, stand Ivo bei ihm auf dem Wagen, oder er saß auch allein oben, die Hände in den Schoß gelegt; und wie sein Leib erzitterte von dem Rütteln des Wagens, so hüpfte ihm das Herz im Leibe. Er sah träumerisch hinaus in die Gefilde. Wer mag ermessen, welches lautlose Naturleben die Brust eines solchen Kindes bewegt?

Auch fromme Wohlthätigkeit übte Ivo schon frühe.

Emmerenz mußte als Kind armer Eltern die abgefallenen Aehren auf dem Felde zusammenlesen. Ivo ließ sich nun von seiner Mutter ein Säckchen nähen, hing es an einem Bändel um den Hals und sammelte für Emmerenz die Aehren. Die Mutter warnte ihn nur, während sie ihm das Säckchen umhing, er solle acht geben, daß der Vater ihn nicht sehe, denn er würde zanken, da es sich für ein Kind vermögender Eltern nicht schicke, Aehren zu lesen. Ivo sah verwundert nach seiner Mutter, eine tiefe Betrübnis blickte aus seinem Antlitze, aber sie haftete nicht lange.

Mit himmlischer Freude, wie er sie fast noch nie empfunden, ging er barfuß über die scharfen Stoppeln und sammelte für Emmerenz einen ganzen Sack voll Gerste. Er war dann dabei, als Emmerenz mit einem Teile davon die jungen Entchen fütterte, er ahmte die Tierchen nach, wie sie so hastig hin und her springend die Körner aufschnabelten.

Einst ging Ivo mit Nazi ins Feld. Der Falb, ein wohlbeleibtes Pferd mit tief eingeschnittenem Kreuze und weißer Mähne, die bis auf die Brust hinabreichte, war an die Egge gespannt. An des Schloßbauern Haus trieb der Wirbelwind eine Staubsäule in die Höhe.

„Meine Mutter hat gesagt,“ erzählte Ivo, „daß in so einem Wirbelwind böse Geister einander würgen, und wenn man dazwischen kommt, erwürgen sie einen.“

„Wir kriegen heute noch bös Wetter,“ erwiderte Nazi, „bleib du daheim.“
„Nein, laß mich mit,“ erwiderte Ivo, die rauhe Hand Nazis fassend.

Nazi hatte recht prophezeit. Sie waren kaum eine Stunde im Felde, als sie von einem furchtbaren Hagelwetter überfallen wurden. Schnell wurde das Pferd von der Egge gespannt, Nazi schwang sich mit Ivo hinauf, und im Galopp ging es der Heimat zu. Es war so dunkel geworden, als ob die Nacht hereinbräche. Ivo schmiegte sich furchtsam an Nazi: „Gelt,“ sagte er, „das Wetter haben die bösen Geister vom Wirbelwind gebracht?“

„Es gibt keine böse Geister, es gibt nur böse Menschen,“ erwiderte Nazi.

Sonderbar! Ivo fing vor Furcht an, laut zu lachen, so daß es dem Nazi angst und bange wurde. Schrecken und Freude sind so nahe verwandt, daß Ivo in dem Zittern seiner Seele sozusagen ein kitzelndes Wohlgefühl empfand.

Leichenblaß und zähneklappernd kam Ivo nach Haus, seine Mutter brachte ihn schnell ins Bette, besonders auch um ihn vor dem Vater zu verbergen, der es schon lange nicht leiden wollte, daß das zarte, zum Pfarrer bestimmte Kind mit ins Feld ging.

Ivo war kaum einige Minuten im Bette, da kam der Nazi mit einem Apothekerglas, gab ihm einige Tropfen daraus zu trinken, worauf er in einen sanften Schlaf verfiel und schon nach einer Stunde so gesund war wie zuvor. – –

Die unvergleichlichste Freude genoß einst Ivo, als er einen ganzen Tag lang, ohne zwischendrein nach Hause zu kommen, mit ins Feld durfte. Morgens in aller Frühe, schon vor der Frühmesse, ging er mit Nazi und dem Falben, der an den Pflug gespannt war, hinaus ins Feld, nach dem größten und entferntesten Acker Valentins, der an der Isenburger Gemarkung im Würmlesthäle liegt.

Es war ein schöner heller Augustmorgen, es hatte in der Nacht gewittert, ein frischer Lebensatem wehte von den Bäumen und Feldern. Die Kleeblumen, das einzig Blühende im Felde, schauten wie mit glitzernden Augen auf zur Sonne, die man noch nicht sehen konnte, obgleich es längst heller Tag war; sie war jenseits hinter dem Hohenzollern aufgegangen.

Der Pflug griff wacker ein, ein erquickender Brodem stieg aus der braunen, regengesättigten Erde auf. Der Falb schien sich fast gar nicht anzustrengen, und Nazi lenkte den Pflug so leicht wie ein Fährmann das Ruder eines mit dem Strome schwimmenden Kahnes. Weit ringsum war alles so hell, und bald da, bald dort sah man Menschen und Vieh fröhlich arbeiten.

Als es in Horb zur Frühmesse läutete, hielt Ivo an. Das Pferd stand still, der Pflug ruhte in der Furche, Ivo und Nazi falteten die Hände; es war fast, als ob der Falb auch mit bete, denn er schwenkte den Kopf mehrmals auf und nieder. Darauf zogen sie noch die Furche bis ans Ende, setzten sich an den Rain und verzehrten ein Stück Brot.

„Wenn wir nun heut einen Schatz finden thäten,“ sagte Ivo, „weißt du, wie selber Bauer, von dem der Emmerenz ihr Mutter erzählt hat, dem ein ganzer Hafen voll goldener Karlin beim Pflügen unterm Fuß gelegen ist; da thät ich der Emmerenz ein neu Kleid kaufen und ihrem Vater die Schuld von seinem Häusle bezahlen, und was thätst du?“

„Nichts,“ sagte Nazi, „ich brauch’ kein Geld.“

Nun ging es wieder tapfer zur Arbeit, die heute so leicht war, daß Nazi zu singen begann, aber nichts vom Pflügen und nichts vom Säen und überhaupt nichts von der Feldarbeit. Er sang:

Wir sind der Geschwister drei,
Die Lise, die Käthi, die Mei,
Die jüngste, die ließ den Knaben herein.

Sie stellt’ ihn wohl hinter die Thür,
Bis Vater und Mutter im Bette war –
Da zog sie ihn wieder herfür.

Sie führt’ ihn wohl oben ins Haus,
Sie führt’ ihn wohl in ein Zimmer hinein
Und warf ihn zum Fenster hinaus.

Er fiel wohl auf einen Stein,
Er brach sich das Herz im Leibe entzwei,
Dazu auch ein Achselbein.

Er raffte sich wiederum heim;
Ach, Mutter! ich bin es gefallen
Auf einen harten Stein.

Mein Sohne, und das geschieht dir recht,
Wärst du es bei Tage nach Hause,
Wie ein anderer Bauernknecht.

Er legt sich wohl oben aufs Bett,
Und als das Glöcklein zwölfe schlägt,
Da hat ihn der Tod gestreckt.

Jetzt schlug Nazi ein Schnippchen, setzte den Hut fester und sang, wohl in Erinnerung an die Vergangenheit:

Ei, liedricher Knecht!
Und zum Saufen bist recht,
Und zum Tanzen bist g’macht,
Und kein Geld hast im Sack.

Wenn i au kei Geld han,
Was geht’s andere Leut’ an?
D’Frau Wirtin schenkt ein,
Wenn i austrunken han.

Und wenn i’s net zahl,
So schreibt se’s an d’Thür,
Daß e jeder kann sehen,
Daß i liederich bin.

Jo, liederich bin i,
Kein Mensch und der mag mi,
Han kein Haus und kein Feld
Und kein Teil an der Welt.

Plötzlich hielt: Nazi inne und schrie dem Pferde zu: „Hio!“ Man konnte nicht wissen, ob er vergessen, daß Ivo bei ihm war, oder ob er seiner nicht achtete. So viel aber ist gewiß, daß derartige Lieder auf ein Dorfkind nicht, wie man glauben sollte, einen verderblichen Einfluß ausüben.

In frühester Jugend hörte Ivo besonders in Liedern allerlei Dinge bei ihren unverhüllten Benennungen, aber die Feinheit seines Gemüts ward dadurch keineswegs befleckt, vielmehr machte gerade das Offene und Unverhüllte derselben sie spurlos abgleiten. In Nazi schienen heute allerlei Erinnerungen aufzusteigen, und nach einer längeren Pause sang er halblaut:

Ich leb’ schon vierzig Jahre,
Hab’ auch schon graue Haare,
Und wenn ich halt kein Weib bekomm,
Ist Feuer auf dem Dach;
Und wenn ich halt kein Weib bekomm,
Da spring’ ich in den Bach.

Gleich darauf sang er wieder:

Ach, Schatz, wo fehlt es dir,
Daß du nicht red’st mit mir?
Hast du einen anderweiten,
Der dir thut die Zeit vertreiben,
Der dir ja lieber ist?

Und wenn er dir ja lieber ist,
So reis’ ich weg von dir,
Reis’ ich auf fremde Straßen,
Thu mein’ Schatz einem andern lassen
Und schreib ihm einen Brief;

Laß dich grüßen,
Du mußt wissen,
Daß ich ein Reiter bin.
Thu’ ich reisen fremde Straßen,
Thu’ mein’n Schatz ein’m andern lassen,
O wie hart ist das,

O wie leicht ist das,
Wenn man kein’n Schatz nicht hat,
Kann man schlafen ohne Sorgen
Von dem Abend bis zum Morgen,
O wie leicht ist das.

Es hätt’ auch wohl schöne Städt’,
Die ich gewandret hätt’,
In dem spanischen Niederland,
Und wo ich auch wandern thät,
Ich niemals mein Schätzichen fand.

Wer hat das Liedlein gemacht und erdacht?
Es hat’s gemacht, es hat’s erdacht
Ein schöner junger Knab’,
Seiner Herzlieben zu guter Nacht.

Wie Sehnsuchtsblicke, die in endloser Ferne schweifen, so zogen die Töne dahin, weit über das Feld, und sie verklangen, und wer weiß, wem sie gegolten.

Sollte der alte Knecht noch eine so tiefe Liebe in der Seele nähren?

Es läutete elf Uhr, und nun wurde wiederum angehalten und gebetet; das Pferd wurde vom Pfluge gespannt und ihm ein Bündel Klee vorgeworfen. Ivo und Nazi setzten sich auf den Rain neben dem Kleeacker und harrten auf Gretle, die das Essen bringen sollte; es ließ auch nicht lange auf sich warten. Aus einer Schüssel aßen nun die beiden, und es schmeckte ihnen wohl, denn sie hatten tüchtig gearbeitet; sie aßen so rein aus, daß das Gretle sagte:

„Es gibt morgen gut Wetter, ihr machet sauber G’schirr.“

„Ja,“ sagte Nazi, die Schüssel umkehrend, „da versauft kein’ Wanz’ mehr drin.“

Nach dem Essen legten sich die beiden ein wenig nieder, denn:

Es ist kein’m Tierle zu vergessen,
Es ruht ein Stündle nach dem Essen.

Ivo lag an dem Raine ausgestreckt, und auf das tausendstimmige Zirpen im Kleeacker hinhorchend, sagte er, indem er die Augen schloß:

„Es ist just, wie wenn der ganz’ Kleeacker leben und die Blumen singen thäten . . . und droben die Lerch’ . . . und die Grasmück“ – er beendete seine Rede nicht, denn er war eingeschlafen. Nazi betrachtete ihn lange mit Wohlgefallen, dann holte er einige Stäbe herbei, steckte sie behutsam in den Boden und breitete das Grastuch, in welches der Klee eingebunden war, darüber aus. so daß der Knabe im Schatten schlief; leise stand er dann auf, spannte das Pferd wieder an und fuhr lautlos in seiner Arbeit fort.

Man wußte nicht, ob er die Lieder von seinem Munde zurückdrängte, oder ob ein tiefer Ernst ihn so stille machte. Der Falb war sehr folgsam, er zog von selbst die Furchen ganz schnurgerade, und es bedurfte nur eines leisen Rucks am Zügel und keines lauten Worts, um ihn stets in gleichmäßiger Richtung zu erhalten.

Die Sonne war schon im Hinabsteigen, als Ivo erwachte. Er riß das über ihm aufgebaute Zelt schnell ein und sah sich verwundert um, er wußte eine Zeitlang nicht, wo er war; als er den Nazi erblickte, sprang er mit Freudenjubel auf ihn zu. Er half nun die Arbeit vollenden, und es that ihm fast wehe, daß der Nazi auch ohne ihn hatte pflügen können, denn er that sich was darauf zu gut, bei der Arbeit helfen zu müssen.

Es war Abend geworden, als man den Pflug abspannte, um mit dem ledigen Pferde heimzukehren. Nazi hob den Ivo auf das Pferd und folgte hinterdrein den Berg hinan; plötzlich erinnerte er sich, daß er sein Messer beim Pfluge hatte liegen lassen, er kehrte um, und nun stand er unten und schaute hinauf nach der scheidenden Sonne, die zwischen den zwei von schwarzen Tannen bekränzten Bergen unterging. Wie ein aus lauter Licht und fließendem Gold erbauter Chor einer Kirche sah Himmel und Erde aus, es war, als ob die ganze Ewigkeit ihre Heiligtümer aufgeschlossen hätte; lange Glutstreifen flatterten ringsum vom brennendsten Flammenpurpur bis zum weichsten, kaum gehauchten Rot, die kleinen Wölkchen glichen lichten Engelsköpfen, und mitten drin stand eine große Wolke in feierlicher Stille, gleich einem großen Altar; das Fußgestell war blau, und drüber brannte eine Flammendecke; es war, als müßte man sich plötzlich da hinaufschwingen und verzehren, verglühen, und es war wiederum, als müßte jetzt plötzlich diese Wolke sich zerteilen und heraustreten der Herr in seiner Glorie und verkünden das tausendjährige Reich des Heils und des Friedens.

Droben am Bergesrande ritt Ivo auf dem Pferde, und es war, als ob das Tier, das, an die Erde gebannt heute ihre Furchen aufwühlte, jetzt plötzlich hinweggehoben von der Scholle in der Luft schwebe und mit dem Kinde hinausgezogen werde in den Himmel; man sah die Füße nur sich sanft in der Luft heben, Ivo streckte die Arme aus, als winke ihm ein Engel. Zwei Tauben flogen hoch in den Lüften der Heimat zu, sie flogen hoch, sie flogen weit – was ist hier weit, und was ist hoch? – ihre Flügel regten sich nicht, sie schwebten dahin, wie von einer unendlichen Macht gezogen, und verschwanden in den Gluten.

Wer verkündet all die Himmelspracht, wo das Herz, durchglüht vom heiligen Geiste des Alls, sich ausdehnt bis dahin, wo keine Schranke mehr, wo man aufgegangen, ins Unendliche, doch beseligt, befriedigt, in sich, in Gott, die klopfende Brust hält.

So stand Nazi da, alle Erdenpein und alle Begierde war von ihm genommen. In die Seele dieses armen, einfältigen Knechtes fiel ein Strahl aus der unerschöpflichen Glorie Gottes, und er stand höher als alle die Großen auf den Thronen des Geistes und der Macht – die Majestät Gottes hatte sich auf ihn herniedergesenkt.

Unvergeßlich blieb dieser Tag für Nazi und Ivo.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 1