In der spärlich bewohnten kalten Gasse, „der Kniebis“ genannt, steht ein kleines Häuschen, ...

In der spärlich bewohnten kalten Gasse, „der Kniebis“ genannt, steht ein kleines Häuschen, das außer einem Stall und einem Schuppen nur drei zum Teil mit Papier zugeklebte Fenster hat; oben am Dachfenster hängt ein Laden nur an einer Angel und droht jeden Augenblick herunterzufallen. Neben dem Hause ist ein kleines Gärtchen, das noch durch einen der Länge nach hindurchlaufenden Zaun von dürren Dornen in zwei Hälften geschieden ist. In dem Hause wohnten zwei Brüder schon seit vierzehn Jahren in unabänderlicher Feindschaft. Wie im Garten, so war auch im Hause alles geteilt, von der Dachkammer bis hinab in den kleinen Keller; die Fallthüre war offen, aber drunten hatte jeder seinen durch Latten abgeteilten verschlossenen Raum. Auch sonst waren an allen Thüren noch Hängeschlösser befestigt, als ob man stündlich den Ueberfall von Dieben fürchtete; der Stall gehörte dem einen, der Schuppen dem andern Bruder. Kein Wort wurde im Hause vernommen, wenn nicht einer bisweilen laut vor sich hinfluchte.

Michel und Koanradle, so hießen die beiden Brüder, waren beide schon sehr bei Jahren und beide unbeweibt. Dem Koanradle war seine Frau schon früh gestorben, und er lebte nun so für sich allein; der Michel war nie verheiratet gewesen.


Eine blau angestrichene, lange, sogenannte Bankkiste war die erste Ursache des Bruderhasses.

Nach dem Tode der Mutter sollte alles geteilt werden; die im Dorfe verheiratete Schwester hatte schon ihr Pflichtteil bekommen. Der Koanradle behauptete, er habe die Kiste aus seinem eigenen Gelde gekauft, das er sich als Wegknecht durch Steinschlagen auf der Straße verdient, er habe sie nur der Mutter geliehen, und sie sei sein eigen; der Michel aber behauptete, der Koanradle habe der Mutter Brot gegessen und habe somit kein eigenes Vermögen. Nach einem persönlich heftigen Streite kam die Sache vor den Schultheiß und sodann vor das Gericht; es wurde entschieden, daß, da die Brüder nicht übereinkommen können, alles im Hause samt der Kiste verkauft und der Erlös geteilt werden solle. Ja, das Haus selber wurde versteigert; da sich aber kein Käufer dafür fand, mußten es in Gottes Namen die Brüder behalten.

Die Brüder mußten nun ihre eigenen Sachen, ihr Bett und andres öffentlich wieder kaufen. Das machte dem Koanradle manchen Kummer, denn er hatte etwas mehr Empfindung als gewöhnlich. – Es gibt in jedem Hause mancherlei Dinge, die keinem Fremden für Geld zu haben sind; sie sind viel mehr wert, als man eigentlich dafür bezahlen kann, denn es haften Gedanken und Lebenserinnerungen daran, die für keinen andern in der Welt Wert haben.

Solche Sachen müssen sich still von Geschlecht zu Geschlecht forterben; dadurch bleibt ihr steter innerer Wert unangetastet. Muß man sie aber erst wieder aus den Händen andrer reißen und um Geld mit Fremden darum ringen, so ist ein großer Teil ihrer ursprünglichen Weihe dahin; sie sind in ihrem Geldeswerte errungen und nicht still, man möchte sagen, wie ein Heiligtum, ererbt. Solcherlei Gedanken waren es, worüber der Koanradle oft den Kopf schüttelte, wenn ihm ein altes Hausgeräte zugeschlagen wurde; und als das in schwarzen Samt eingebundene Gesangbuch der Mutter mit den silbernen Spangen und den silbernen Buckeln zum Verkaufe kam und ein Trödler das Silber in der Hand wog, um das Gewicht zu schätzen, schoß ihm alles Blut in den Kopf. Er steigerte das Gesangbuch um hohen Preis.

Endlich kam die Kiste an die Reihe. Der Michel räusperte sich laut und betrachtete mit einem herausfordernden Blicke seinen Bruder; er setzte sogleich eine namhafte Summe darauf. Der Koanradle bot schnell einen Gulden mehr, ohne dabei aufzuschauen, und zählte die Knöpfe an seinem Wams. Der Michel aber bot, sich keck umschauend, höher: kein Fremder steigerte mit, und von den Brüdern wollte zum Hohne keiner dem andern die Streitsache lassen. Ein jeder dachte auch bei sich: du brauchst ja nur die Hälfte zu bezahlen, und so gingen sie immer höher und höher, und endlich wurde die Kiste für mehr als das Fünffache ihres Wertes, für achtundzwanzig Gulden, dem Koanradle zugeschlagen.

Jetzt erst schaute er auf, und sein Gesicht war ganz verändert; Hohn und Spott sprachen aus den aufgerissenen Augen, dem offenen Munde und dem ganzen vorgebeugten Antlitze. „Wenn du stirbst, so schenk’ ich dir die Kist’, daß man dich drein n’einlegt,“ sagte er zitternd vor Wut zum Michel, und das waren die letzten Worte, die er seit vierzehn Jahren zu ihm gesprochen hat.

Im ganzen Dorfe wurde die Kistengeschichte zu allerlei Spaß und Lustbarkeit benutzt, und wo einer den Koanradle sah, bemerkte er, wie schändlich der Michel gehandelt habe, und der Koanradle redete sich immer mehr in Wut gegen seinen Bruder hinein.

Auch sonst waren die beiden Brüder ganz verschiedener Sinnesart und gingen auch ihre verschiedenen Wege.

Der Koanradle hielt sich eine Kuh, die er mit der Kuh seines Nachbarn Christian zur Feldarbeit zusammenspannte. In der übrigen Zeit schlug er für fünfzehn Kreuzer des Tages Steine auf der Straße. Auch war der Koanradle sehr beisichtig; er trat unsicher auf, und wenn er sich Feuer schlug, brachte er den Zunder immer nahe zur Nase, um dadurch gewiß zu sein, daß er brenne. Er hieß im ganzen Dorfe der „blind’ Koanradle“; das „le“ wurde ihm gegeben, weil er eine kurze, untersetzte Gestalt hatte.

Der Michel hingegen war gerade das Gegenspiel. Er war lang und hager und schritt ganz sicher einher; er trug sich vollkommen bäuerisch, nicht weil er ein besonderer Bauer war, denn er war eigentlich gar keiner, sondern weil ihm das zu seinem Handel sehr förderlich war. Er handelte nämlich mit alten Pferden, und die Leute haben weit mehr Zutrauen zu einem Pferde, das sie von einem bäuerisch gekleideten Manne kaufen. Der Michel war ein verdorbener Hufschmied; er verpachtete und verkaufte zum Teil seine Aecker, legte sich ganz auf den Pferdehandel und führte dabei ein Herrenleben. Er war eine wichtige Person in der ganzen Gegend. Er kannte auf sechs, acht Stunden im Umkreis, im Württembergischen, im ganzen Sigmaringer und Hechinger „Ländle“ und bis ins Badische hinein den Zustand und das Kontingent der Ställe so gut wie ein großer Staatsmann die statistischen Berichte fremder Staaten und die Stellung der Kabinette; und wie dieser in den Zeitungen, so sondierte Michel die Stimmung des Volkes in den Wirtshäusern. Er hatte auch in jedem Orte einen Thunichtgut als Residenten, mit denen er manche geheime Konferenzen hielt und die im Notfalle eine Stafette zum Michel sandten, nämlich sich selber, für die sie weiter nichts verlangten, als ein gutes Trinkgeld im buchstäblichen Sinne des Wortes. Dann aber hatte auch Michel geheime Agenten, die die Leute zu Revolutionen in ihren Ställen verleiteten, und so kam es, daß in seinem Schuppen, der als Stall diente, fast immer ein Marodegaul war, den er für einen neuen Feldzug, für die Oeffentlichkeit, d. h. für den Verkauf auf dem Markt zustutzte. Er färbte die Haare über den Augen, er feilte die Zähne, und wenn das arme Tier auch nichts mehr als Kleien fressen konnte und bei andrem Futter verhungern mußte, ihn kümmerte das wenig, denn er schlug es auf dem nächsten Markte unfehlbar wieder los.

Dabei hatte er seine besonderen Kunststückchen; er stellte z. B. einen Helfershelfer auf, der zum Scheine einen Tausch mit ihm machen wollte; sie lärmten dabei ganz ungeheuer, dann rief aber der Michel ganz laut: „Ich kann nicht tauschen, ich hab’ kein Futter und keinen Platz, und wenn ich den Gaul für eine Karolin weggeben muß, fort muß er!“ Oder er machte es noch gescheiter: er stellte für ein paar Kreuzer ein dummes Bäuerchen hin, gab ihm den Gaul, ließ sich ihn vorreiten und sagte: „Wenn ein rechter Bauer das Tier hätt’, da könnt’ man einen schönen Gaul hinfüttern; das Gestell ist überaus, die Knochen sind englisch, dem fehlt nichts als Fleisch, und da ist er seine zwanzig Karolin wert.“ Dann brachte er einen Käufer, bedingte sich noch ein Unterhändlergeld und erhielt beim Verkaufe seines eigenen Pferdes noch einen Nebenverdienst. Am meisten war der Michel den gerichtlichen Urkunden feind, in denen man gegen die Hauptfehler gewährleisten mußte; er ließ, wenn es drauf und dran kam, lieber noch ein paar Gulden nach, ehe er solche Verbindlichkeiten einging. Dabei hatte er aber doch manchen Prozeß, der den Gaul samt dem Profit auffraß; aber es liegt in dieser Art Leben, von freiem, arbeitslosem Herumstreifen etwas so Verführerisches, und der Michel rechnete immer auch wieder eins ins andre, daß er vom Pferdehandel nicht lassen konnte. Sein Grundsatz war: „Ich geh’ nicht vom Markt, gepatscht muß sein.“ Damit meinte er, ein Handel muß abgeschlossen sein, wobei man die Hände schallend zusammenschlägt. Die Handelsjuden auf den Märkten waren ihm auch vielfach behilflich, und er spielte wieder mit ihnen unter einer Decke.

Wenn der Michel so zu Markte ritt oder vom Markte heimfuhr und der Koanradle an der Straße Steine schlug, da sah er seinen Bruder halb mitleidig, halb höhnisch an, denn er dachte: „O du armer Schelm! Schlägst Stein’ von morgens bis abends um fünfzehn Kreuzer, und ich verdiene, wenn’s nur ein bißle gut geht, fünfzehn Gulden.“

Der Koanradle, der das mit seinen blöden Augen doch bemerkte, schlug dann auf die Steine, daß die Splitter weit umherspritzten.

Wir wollen aber sehen, wer es weiter bringt, der Michel oder der Koanradle.

Der Michel war einer der beliebtesten Unterhaltungsmenschen im ganzen Dorfe, denn er konnte Tag und Nacht immerfort erzählen, so viel Schliche und Streiche wußte er, und er kannte auch Gott und die Welt. Freilich Gott kannte er wenig, obgleich er manchmal in die Kirche ging, denn davon kann sich auf dem Lande keiner ganz ausschließen; aber er ging eben in die Kirche wie gar viele, ohne etwas dabei zu denken und sein Leben danach einzurichten.

Der Koanradle hatte auch seine Untugenden, und dazu gehörte besonders sein Haß gegen seinen Bruder und die Art, wie er denselben äußerte. Wenn man ihn fragte: „Wie geht’s deinem Michel?“ antwortete er immer: „Dem geht’s noch so;“ dabei machte er unter dem Kinn mit beiden Händen, als ob er einen Knoten schlinge, dann fuhr er nach beiden Seiten aus und streckte die Zunge heraus. Er wollte, wie leicht erkenntlich, damit sagen: der wird noch gehenkt.

Natürlich sparten die Leute diese Frage nicht sehr, und es war immer ein besonderes Hallo, wenn man den Koanradle zu seiner feststehenden Antwort brachte.

Auch sonst schürten die Leute den Haß der Brüder, nicht gerade immer aus Bosheit, sondern weil es ihnen Spaß machte. Der Michel aber zuckte nur verächtlich die Achseln, wenn man von dem „armen Schelm“ sprach.

Nie blieben die Brüder in einer Stube; wenn sie sich in dem Wirtshause oder bei ihrer Schwester trafen, ging immer einer von ihnen fort.

Niemand dachte mehr daran, sie zu versöhnen, und wenn zwei Leute in Feindschaft miteinander waren, hieß es sprichwörtlich: „Die leben wie der Michel und der Koanradle.“

Zu Hause redeten die beiden kein Wort, wenn sie sich begegneten, ja sie sahen sich nicht einmal an. Dennoch, wenn einer merkte, daß der andre unwohl im Bette lag, ging er den weiten Weg zu der Schwester, die in der Froschgasse wohnte, und sagte: „Gang ‘nuf, i glaub’, es ischt ihm et reacht“; und dann arbeitete ein jeder von den Brüdern gewiß leise und ohne Geräusch, um den andern nicht zu stören.

Außer dem Hause aber und unter den Leuten lebten sie in gleichmäßiger Feindschaft, und niemand dachte daran, daß noch ein Funke Liebe in ihnen sei.

Das dauerte nun in das vierzehnte Jahr. Dem Michel war unter dem vielen Hin- und Herhandeln das Geld von seinen verkauften zwei Aeckern durch die Finger gefallen, er wußte nicht, wie; der Koanradle aber hatte sich von einem Auswanderer noch einen neuen Acker gekauft und fast ganz bezahlt. Der Michel gab sich nun meist damit ab, andren Leuten beim Handel behilflich zu sein, und er dachte daran, durch den Verkauf eines neuen Ackers sich wieder flott und selbsthandelnd zu machen.

„Und es kam ein neuer König in Aegypten,“ diesen Vers im zweiten Buch Moses, Kap. 1, V. 8, konnten die Leute im Dorf auf eine eigene Weise auf sich anwenden. Der alte Pfarrer war gestorben; er war ein guter Mann, aber er ließ alles gehen, wie es ging. Der neue Pfarrer, der in das Dorf gekommen war, war ein eifriger junger Mann; er wollte alles in Ordnung bringen, und er brachte auch vieles zustande, bis er endlich in ein offenbares Verhältnis zu dem Schäpflewirts Lisle kam, worauf er sich eben auch nicht mehr in die Privatangelegenheiten der Leute mischte, denn man konnte sagen: kehr du vor deiner Thür! Jetzt aber war noch alles im frischen Schwunge.

Es war an einem Sonntage nach der Mittagskirche, da saßen die Leute bei einander auf dem Bauholz für das neue Feuerspritzenhaus neben dem Rathausbrunnen; auch der Michel war darunter, er saß gebückt da und kaute spielend an einem Strohhalm. Da ging der Peter, der fünfjährige Bub des Schackerles Hannes, vorbei. Einer rief das Kind herbei und sagte, in die Tasche greifend: „Guck, Peter, du kriegst ein Häufle (Vier) Nuß, wenn du dem Koanradle nachmachst; wie macht der Koanradle?“ Der Bub schüttelte Nein und wollte gehen, denn er war gescheit und fürchtete den anwesenden Michel, aber er wurde festgehalten und fast gezwungen, und endlich machte er das Knotenschlingen, das Ausziehen und das Zungenausstrecken; es war ein Gelächter, daß man’s durch das halbe Dorf hörte. Als nun der Bub die Nüsse wollte, zeigte sich’s, daß der Versprecher keine hatte, und neues Gelächter entstand, als der Knabe mit den Füßen nach dem Betrüger ausschlug.

Der neue Pfarrer war indes den kleinen Hügel am Rathause herahgekommen; er war stehen geblieben und hatte dem ganzen Handel zugesehen. Als nun der Knabe für seine dringende Forderung noch geprügelt werden sollte, da trat der Pfarrer schnell herzu und riß das Kind weg; alle Bauern standen schnell auf und rissen die Mützen vom Kopfe. Der Pfarrer nahm den Heiligenpfleger, der mit darunter gewesen war, mit durch das Dorf und ließ sich alles von ihm erzählen. Er erfuhr nun die Feindschaft der Brüder und alles, was wir bisher erfahren.

Am Samstag darauf wurde der Koanradle, als er mitten im Dorfe Steine schlug, auf morgen früh nach der Kirche zum Pfarrer vorgeladen. Er glotzte verwundert drein, die Pfeife ging ihm aus, und fast zwei Sekunden lang blieb der Stein unter seinem mit einem Brette besohlten Fuße unzerspalten, er konnte sich gar nicht denken, was es im Pfarrhause gebe; er wäre lieber gern gleich hingegangen.

Den Michel traf die Vorladung, als er gerade einem alten Gaul „seine Sonntagsstiefel schmierte“, so hieß er nämlich das Aufputzen der Hufe; er pfiff dann die Melodie eines unzüchtigen Liedes, hörte aber doch mitten drin auf, denn er wußte wohl, was es morgen geben würde. Er war froh, daß er sich auch noch auf eine tüchtig gesalzene Gegenpredigt vorbereiten konnte; ein paar Brocken davon murmelte er schon jetzt leise vor sich hin.

Am Sonntag Morgen hielt der Pfarrer eine Predigt über den Text Psalm 133, Vers 1: „Siehe, wie gut und wie lieblich ist’s, wenn Brüder beisammen sitzen.“ Er zeigte, wie alles Glück und alle Freude auf Erden nur halb oder gar nichtig ist, wenn wir es nicht mit denen genießen und teilen, die unter demselben Mutterherzen wie wir geruht; er zeigte, wie die Eltern diesseits nicht glücklich und jenseits nicht selig werden können, deren Kinder Haß, Neid und Bosheit trennt; er wies auf das Beispiel von Kain und Abel hin und zeigte, wie der Brudermord die erste giftige Frucht des Sündenfalls war. Alles dies und wohl noch viel mehr sprach der Pfarrer mit klangvoller donnernder Stimme, so daß die Bauern von ihr sagten: ??sie druckt die Wänd’ auseinander“. Aber freilich ist es oft fast noch leichter, die Wände auseinander zu drücken, als die verhärtete, verschlossene Brust der Menschen zu öffnen. Die Bärbel weinte bittere Thränen über die Hartherzigkeit ihrer Brüder, und obgleich der Pfarrer zehnmal wiederholte, er meine nicht diesen oder jenen, sondern jeder möge die Hand aufs Herz legen und fragen, ob er die echte Liebe gegen die Seinigen hege, so dachte doch eben jeder nur: „Das geht auf den Michel und den Koanradle, das ist bloß auf die gemünzt.“

Diese beiden standen nicht weit voneinander, der Michel kaute an seiner Mütze, die er zwischen den Zähnen hielt, der Koanradle aber hörte mit offenem Munde zu, und als sich einmal die Blicke beider begegneten, fiel dem Michel die Mütze aus der Hand. und er bückte sich schnell.

Das Lied machte einen sanften, beruhigenden Schluß; aber noch ehe die letzten Töne verklungen waren, war der Michel aus der Kirche und stand vor der Thüre des Pfarrhauses. Sie war noch geschlossen; er ging in den Garten. Lange stand er hier an den Bienenstöcken und sah dem emsigen Treiben der Tierchen zu:

„Die wissen’s nit, daß Sunntig isch,“

und er dachte: „Du hast auch keinen Sonntag bei deinem Handel, denn du hast auch keinen rechten Werktag,“ und er dachte wieder: „Wie viel hundert Geschwister in so einem Bienenstock bei einander wohnen,, und alle arbeiten, wie die Alten;“ aber er blieb nicht lange bei derlei Gedanken, sondern nahm sich vor, sich von dem Pfarrer keine Trense aufsetzen zu lassen, und als er nach dem Gottesacker drüben sah, dachte er an die letzten Worte Koanradles, und seine Fäuste ballten sich.

Im Pfarrhause traf der Michel den Pfarrer und den Koanradle schon in eifrigem Gespräche beisammen; der Pfarrer stand auf; er schien den Ankömmling nicht mehr erwartet zu haben. Er bot Michel einen Stuhl an; auf seinen Bruder deutend, erwiderte aber Michel:

„Herr Pfarrer, allen Respekt vor Euch, aber ich setz’ mich nicht nieder, wo der da ist; Herr Pfarrer, Ihr seid erst kurz im Dorf, Ihr wisset nicht, was der für ein Lugenbeutel ist, das ist ein scheinheiliger Duckmäuser, der hat’s aber faustdick hinter den Ohren. Alle Kinder machen ihm nach,“ fuhr er zähneknirschend fort, „wie geht’s deinem Michel?“ er machte nun ebenfalls die uns sattsam bekannten Manieren, dann sagte er wieder, zitternd vor Wut: „Herr Pfarrer, der da ist an meinem Unglück schuldig, er hat mir den Frieden im Haus verscheucht, und ich hab’ mich dem Teufel mit seinem Roßhandel ergeben. Du hast mir’s prophezeit, du,“ sagte er, auf seinen Bruder losfahrend; „ich häng’ mich noch an einem Roßhalfter auf, aber zuerst mußt du dran.“

Der Pfarrer ließ die beiden Brüder austoben; er gebrauchte seine Würde nur in so weit, um von Tätlichkeiten zurückzuhalten. Er wußte wohl, daß, wenn der lang verhaltene Ingrimm ausgeschüttet, auch die Liebe zum Vorschein kommen müsse, aber er täuschte sich noch halb.

Endlich saßen die beiden Brüder wortlos und nur noch laut atmend da, keiner regte sich. Da sprach der Pfarrer zuerst mit sanften Worten, er öffnete alle verborgenen Falten des Herzens; es half nichts! die beiden sahen zur Erde. – Der Pfarrer schilderte ihnen die Qualen ihrer Eltern im Jenseits, der Koanradle seufzte, aber er sah nicht auf; da faßte der Pfarrer alle seine Kraft zusammen, seine Stimme dröhnte wie die eines strafenden Propheten, er schilderte ihnen, wie sie nach ihrem Tode vor den Richterstuhl des Herrn kommen, und der Herr ruft: „Wehe! Wehe! Wehe! ihr habt verstockten Herzens in Haß gelebt, ihr habt die Bruderhand einander entzogen, gehet hin aneinander geschmiedet, verschmachtet ewig in der Hölle.“

Alles war stille, der Koanradle wischte sich mit seinem Aermel die Thränen ab, dann stand er auf und sagte: „Michel.“

Der Angeredete hatte seit so vielen Jahren diesen Ton nicht gehört, daß er plötzlich aufschaute, und der Koanradle trat näher und sagte: „Michel, verzeih!“ – Die Hände der Brüder lagen fest ineinander, die Hand des Pfarrers wie segnend darauf.

Alles im Dorfe schaute auf und freute sich, als man den Michel und den Koanradle Hand in Hand den kleinen Hügel am Rathause herunterkommen sah.

Bis nach Hause ließen sie ihre Hand nicht los, es war, als ob sie die lange Entbehrung einbringen müßten. Zu Hause aber rissen sie schnell die Hängeschlösser ab; dann gingen sie in den Garten und stürzten den Zaun um; so viel Kohl auch dabei zu Grunde ging, dies Zeichen der Zwietracht mußte fort.

Dann gingen sie zu ihrer Schwester und aßen an einem Tisch nebeneinander.

Nachmittags saßen die beiden Brüder in der Kirche, und ein jeder hielt eine Seite von dem Gesangbuche der Mutter in der Hand.

Ihr ganzes Leben ward fortan wiederum ein einiges.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 1