1. Die Primiz. - An einem Samstagnachmittage wurde auf der Hochbur emsig gezimmert und gehämmert. ...
1. Die Primiz. - An einem Samstagnachmittage wurde auf der Hochbur emsig gezimmert und gehämmert. Der Zimmermeister Valentin schlug mit seinen beiden Söhnen ein Gerüste auf, das nichts weniger war, als ein Altar und eine Kanzel. Des Schneider Christles Gregor sollte hier morgen seine Primiz (Primitiae, latein., d. i. Anfang) halten, so nennt man nämlich die Feier des ersten Meßopfers und die erste Predigt eines neugeweihten Geistlichen.
Ivo, der kleinste Sohn Valentins, ein blonder Knabe von sechs Jahren, half seinem Vater mit wichtiger Miene bei der Arbeit. Barhaupt und barfuß kletterte er behend wie ein Eichhorn auf dem Gebälke umher, bei jeder Hebung eines Balkens schrie er gleichfalls: „Holz her!“ stemmte sich an und schnaufte, als ob er das meiste dazu vollbringe. Valentin gab dem kleinen Ivo auch sonst immer „etwas zu schaffen“; er mußte den Bindfaden auf die Spule wickeln, das (Handwerks-) „Geschirr“ zusammentragen oder die Späne auf einen Haufen sammeln. Mit einem Ernst und mit emsigen Gebärden, als ob er das größte Werk vollführe, befolgte Ivo seinen Auftrag, und als er einmal als Beschwerungslast auf die Spitze eines schwanken Balkens sitzen mußte, zitterten ihm die Bewegungen der Säge so durch alle Glieder, daß er beständig laut auflachen mußte und fast herunterfiel; er hielt sich aber fest und bemühte sich, sein gewichtiges Amt still zu vollziehen.
Das Gerüste war endlich fertig. Der Sattler Ludwig war bereit, die Teppiche anzunageln. Ivo wollte ihm gleichfalls dabei helfen, aber der barsche Mann jagte ihn fort, und Ivo setzte sich still auf die zusammengelesenen Späne und schaute hinaus nach den jenseitigen Bergen, über denen die Sonne glühendrot unterging. Da hörte er den Pfiff seines Vaters, er sprang auf und eilte zu ihm.
„Vater,“ sagte Ivo, „wenn ich nur einmal in Hochdorf wär’.“
„Warum?“
„Gucket, das ist ganz nah beim Himmel, und da möcht’ ich einmal ‘naufsteigen.“
„Du dummes Kind, das ist nur so, wie wenn dort der Himmel aufstehen thät; hinter Hochdorf ist noch weit bis Stuttgart, und von da ist es auch noch weit bis in den Himmel.“
„Wie weit?“
„Man kann eben nicht hinkommen, bis man tot ist.“
Seinen kleinen Sohn an der rechten Hand führend und am linken Arm das Handwerkszeug tragend, ging Valentin durch das Dorf. Ueberall wurde gescheuert und gewaschen, die Stühle und Tische standen vor den Häusern; denn jedes erwartete zu der heiligen Handlung auf morgen einen Besuch aus einem nahen oder entfernten Dorfe.
Als Valentin an des Schneider Christles Haus vorüber ging, langte er an seine Mütze, bereit, sie abzuziehen, wenn jemand heraussähe; aber es sah niemand heraus, das ganze Haus war so still wie ein Kloster. Einige Bauernweiber gingen mit Schüsseln unter den Schürzen in das Haus, andre kamen mit leeren Schüsseln unterm Arme heraus; sie begrüßten sich still; sie hatten die Hochzeitsgeschenke für den jungen Pfarrer ins Haus gebracht, der ja morgen öffentlich getraut wurde mit seiner heiligen Braut, der Kirche.
Die Abendglocke läutete, Valentin ließ die Hand seines Sohnes los, der schnell seine Händchen faltete; auch Valentin legte über dem schweren Handwerkszeuge die Hände übereinander und betete ein Ave. – –
Andern Morgens schaute ein heller Tag auf das Dorf herab. Ivo wurde schon früh von seiner Mutter schön angekleidet mit einem neuen Janker von gestreiftem Manchester und, wie ihm schien, silbernen Knöpfen und frisch gewaschenen, kurzen ledernen Beinkleidern; er sollte das Kruzifix tragen. Gretle, die älteste Schwester Ivos, nahm diesen bei der Hand und führte ihn auf die Gasse, damit es „Platz im Hause gebe“. Sie schärfte ihm ein, daß er ja nicht mehr zurückkehren solle; dann eilte sie geschäftig ins Haus zurück. Ivo ging das Dorf hinein, überall standen die Männer und Burschen in Rädchen auf der Straße; sie waren nur in halbem Putze, ohne Jacke oder Rock, die weißen Hemdärmel zur Schau tragend. Hier und dort sprangen Frauen und Mädchen, ebenfalls ohne Mieder, mit halb aufgelösten Haaren und das flatternde rote Wickelband in der Hand tragend, von einem Hause ins andre. Es erschien Ivo als eine grausame Tyrannei seiner Schwester, daß er so aus dem Hause verstoßen war. Er wäre auch gar zu gerne wie die großen Leute zuerst im Halbstaate und dann unter dem Geläute der Glocken in voller Pracht erschienen; aber er wagte es nicht, wieder zurückzukehren, noch irgendwo sich niederzulassen, aus Furcht, seine Kleider zu verderben. Behutsam ging er so durch das Dorf. Wagen an Wagen brachte fremde Bauern und Bäuerinnen, aus den Häusern wurden ihnen Stühle zum Absteigen entgegengetragen und sie freundlich bewillkommt. Alle Leute sahen heute so in sich vergnügt, so erhaben aus, wie eine Einwohnerschaft, die einen sieggekrönten Helden aus ihrer Mitte im Triumphe empfängt. Von der Kirche bis zur Hochbur war die Straße mit Gras und Blumen bestreut, die einen würzigen Duft emporsteigen ließen. Der Schultheiß kam aus des Schneider Christles Haus und setzte erst auf der Straße seinen Hut wieder auf. Der Soges hatte ein frisch lackiertes Bandelier an seinem Säbel.
Bald darauf kam auch die Frau Schultheißin, ihr sechsjähriges Töchterchen, Bäbele, an der Hand führend. Bäbele war geschmückt, just wie eine Braut. Es hatte die Schappel samt dem Kränzchen auf dem Kopfe und war überaus prächtig gekleidet; in der That stellte Bäbele, als reine Jungfrau, die Braut des jungen Geistlichen vor.
Es läutete zum erstenmal, und wie durch einen Zauberruf zerstreuten sich plötzlich die Gruppen der hemdärmeligen Leute, sie gingen in die Häuser, um sich würdig anzukleiden, Ivo ging nach der Kirche.
Unter dem Geläute aller Glocken bewegte sich endlich der Zug aus der Kirche hervor. Die Fahnen flatterten, die Stadtmusik, die von Horb herbeigekommen war, schallte drein, und dazwischen hörte man wieder die Gebete der Männer und Frauen. Ivo ging voraus neben dem Lehrer mit dem Kruzifix. Auf der Hochbur war der Altar schön geschmückt, die Kelche und Lampen, die Flitterkleider der Heiligen glitzerten im Sonnenlichte, und unabsehbar über die ganze Heide und über die Felder war die Menge der Andächtigen ausgebreitet. Ivo wagte es kaum, den Hajrle (Herrlein, Pfarrer) anzuschauen, der in golddurchwirktem Gewande, entblößten, nur mit dem goldenen Kranze geschmückten Hauptes und bleichen, frommen Antlitzes, unter dem Schalle der Musik sich stets tief verbeugend, die kleinen weißen Hände auf der Brust übereinander legend, die Stufen des Altars hinaufstieg. Ihm voraus war des Schultheißen Bäbele gegangen, das als seine Braut eine mit Rosmarin umwundene, brennende Kerze in der Hand trug. Es stellte sich zur Seite des Altars auf. Das Hochamt begann, und als die Klingel läutete, stürzte alles auf das Antlitz nieder, kein Laut war weit umher vernehmbar; nur ein Flug Tauben flog gerade über den Altar weg, und man hörte das Flattern und Zwitschern dieser Tiere, das man stets bei ihrem Fluge vernimmt. Um alles in der Welt hätte Ivo nicht aufgeschaut, denn er wußte wohl, daß jetzt der heilige Geist herniedersteigt, um die geheimnisvolle Wandlung des Weines in Blut und des Brotes in Fleisch vorzunehmen, und daß kein sterbliches Auge sich zu ihm erheben darf, ohne zu erblinden.
Der Kaplan von Horb bestieg nun die Kanzel und redete den Primizianten feierlich an.
Hierauf bestieg der Hajrle die Kanzel. Ivo saß nicht weit davon auf einem Schemel; den rechten Arm auf das Knie gestemmt und das Kinn auf die Hand gelehnt, horchte er eifrig zu. Er verstand wenig von allem, aber sein Blick hing an den Lippen und den Mienen des Predigers, die so treuherzig sprachen, und sein Sinn war kindlich und liebend bei Gott und dem guten Hajrle.
Als darauf unter abermaligem Geläute der Glocken und den Siegestönen der rauschenden Musik der Zug sich wieder heim nach der Kirche bewegte, da faßte Ivo das Kruzifix mit beiden Händen fest; es war, als ob er mit erneuter Kraft seinen Herrgott vor sich hertragen wollte.
Unter der Menge, die sich nun zerstreute, sprach alles mit Entzücken von dem Hajrle, und wie glücklich die Eltern eines solchen Sohnes zu preisen wären. Der Schneider Christle und seine Frau gingen, von seliger Lust getragen, die überdachte Treppe an dem Kirchberg herab. Man achtete doch sonst wenig auf diese Leute, heute aber drängte sich alles mit ausnehmender Verehrung zu ihnen, um ihnen Glück zu wünschen. Die Mutter des jungen Pfarrers dankte mit thränenverklärten Blicken, sie konnte vor seligem Weinen nicht reden. – Ivo hörte von seiner Base aus Rexingen, die zu der heiligen Handlung herübergekommen war, daß die Eltern Gregors diesen nun mit Sie anreden müßten.
„Ist das wahr, Mutter?“ fragte er.
„G’wiß. der ist jetzt mehr, als andre Menschen,“ lautete die Antwort.
Bei allem Entzücken blieb auch der wirkliche Vorteil des Schneider Christles nicht unbesprochen. Man sagte, der habe nun ausgesorgt für sein ganzes Leben; das Kordele, des Gregors Schwester, werde „Hausere“ (Hauserin, Haushälterin) , und der Gregor sei ein Glück für die ganze Familie und eine Ehre für das ganze Dorf.
Zwischen seinen Eltern, von beiden an der Hand geführt, ging Ivo nach Haus.
„Vater,“ sagte er, „der Gregor sollt’ hier Pfarrer sein.“
„Das geht nicht, man macht nie einen zum Pfarrer, wo er geboren ist.“
„Warum?“
„Mit deinem ewigen dummen Warum! Weil’s eben so ist,“ entgegnete Valentin. Die Mutter aber sagte: „Er hätt’ sonst zu viel Anhang im Dorf und wär’ nicht unparteiisch.“
Entweder wußte sie es nicht oder konnte sie dem Kinde nicht erklären, daß bei einem Ortsangehörigen die Heiligkeit des Amtes und die Ehrfurcht vor der Person des Priesters beeinträchtigt würde, da man seinen menschlichen Ursprung und sein Wachstum kennt.
Valentin aber sagte nach einer Weile:
„Das best’ Leben hat doch so ein Pfarrer. Er kriegt keine Schwiele in die Hand vom Pflügen und kein Rückenweh vom Schneiden, und die Pfarrscheuer ist doch voll Frucht; er legt sich aufs Kanapee hin und denkt sich sein’ Predigt aus und macht seine ganze Familie glücklich. Ivo, wenn du brav bist, kannst du auch Hajrle werden. Möchtest du gern?“
„Ja,“ sagte Ivo mit voller Stimme und schaute mit weit aufgerissenen Augen nach seinem Vater auf, „aber Ihr dürfet nicht Sie zu mir sagen,“ setzte er dann hinzu.
„Das hat noch gute Weil’,“ erwiderte Valentin lächelnd.
Nach dem Mittagessen stellte sich Ivo hinter dem Tisch auf die Bank, dort in die Ecke unter dem Kruzifix, wo der Vater gesessen. Zuerst bewegten sich seine Lippen leise, dann hielt er mit lauter Stimme eine Predigt. Mit der ernstesten Miene sprach er das kunterbunteste Zeug, er wollte gar nicht aufhören, bis ihm Valentin freundlich mit der Hand über den Kopf fuhr und sagte: „So, jetzt ist’s genug.“
Die Mutter aber nahm den Ivo herab auf ihren Schoß, herzte und küßte ihn und sagte fast weinend: „O liebe Mutter Gottes! ich möcht’ nicht länger leben, als daß mich unser Herrgott den Tag sehen ließ’, an dem du dein’ Primiz hältst;“ dann setzte sie kopfschüttelnd und leise hinzu: „Verzeih mir Gott meine Sünden, ich denk’ schon wieder zu viel an mich.“ Sie stellte ihren Sohn nieder und hielt ihre Hand auf seinem Kopfe.
„Gelt,“ sagte Ivo, „und unser Gretle wird mein’ Hauserin, und ich laß ihm auch Stadtkleider machen, wie die Pfarrköchin hat?“
Die gute Base Magdalena von Rexingen schenkte dem Ivo einen Kreuzer für seine Predigt. Schnell sprang er dann zu dem Knechte, der vor dem Hause unter dem Nußbaum saß, und erzählte ihm, daß er Hajrle werde. Nazi schüttelte nur mit dem Kopfe und drückte den überquellenden, brennenden Tabak in seiner Pfeife nieder.
Die Mittagskirche war nicht so feierlich und so besucht wie sonst, die Andacht hatte sich heute morgen erschöpft.
Gegen Abend ging der junge Pfarrer mit dem Kaplan von Horb und mehreren andern Geistlichen durch das Dorf. Alle Leute, die vor den Häusern saßen, standen auf und grüßten freundlich; die ältern Frauen lächelten dem jungen Pfarrer zu, wie wenn sie sagen wollten: „Wir kennen dich und haben dich gern; denkt dir’ s noch, wie ich dir eine Birn’ geschenkt hab’? Und ich hab’s ja schon lang gesagt, der Gregor wird ein großer Mann.“ Die jungen Burschen zogen die Pfeifen aus dem Munde und die Mützen ab, und die Mädchen flüchteten sich unter ein Haus und stießen einander und blickten verstohlen heraus. Die Kinder aber kamen herbei, gaben dem Gregor die Hand und küßten die seinige.
Auch Ivo kam herbei. Der junge Geistliche mochte vielleicht das Zittern des Knaben und seinen andächtig frommen Kuß herausfühlen, er hielt seine Hand noch länger, strich ihm mit der andern Hand über die Wange und sagte:
„Wie heißt du, liebes Kind?“
„Ivo.“
„Und dein Vater?“
„Der Zimmermann Valentin.“
„Sag einen schönen Gruß von mir an deinen Vater und deine Mutter und sei recht fromm und brav.“
Ivo stand noch lange wie festgezaubert da, als die Männer schon längst fort waren, es war ihm, als ob ihm ein Heiliger erschienen wäre und mit ihm geredet hätte. Er blickte lange staunend zur Erde, dann eilte er in großen Sätzen jubelnd nach Hause und erzählte alles.
Die ganze Familie saß auf dem Bauholze unter dem Nußbaume, der Nazi nicht weit davon auf einem Steine an der Hausthür. Ivo ging zu ihm und berichtete auch ihm seine Begegnung, der Knecht aber war heute mürrisch, und Ivo setzte sich zu Füßen seines Vaters nieder.
Es war Nacht geworden, man sprach wenig, nur der Schreiner Koch sagte noch:
„Ich will sehen, wo Ihr Geld krieget unter fünf Prozent.“ Niemand antwortete.
Ivo blickte einmal zu seinem Vater auf, aus seinem Auge leuchtete eine stille Verklärung, niemand konnte ahnen, was die junge Seele bewegte.
„Vater,“ sagte Ivo, „schlaft denn des Schneider Christles Hajrle auch wie andre Menschen?“
„Ja, aber nicht so lang wie du; wenn man Hajrle werden will, muß man früh aufstehen und beten und lernen. Gang jetzt, marsch ins Bett!“
Die Mutter begleitete Ivo ins Haus, und in sein Nachtgebet, das er ihr vorsagte, schloß er freiwillig neben den namhaft gemachten Verwandten auch den Hajrle ein.
Die Primiz hatte die unmittelbarsten Folgen. Gleich andern Tages ging der Hansjörg, den wir noch von der Kriegspfeife her kennen, mit seinem Sohne, Peter, nach Horb zum Kaplan; auch der reiche Johannesle von der Bruck, der den Beinamen der Schmutzige hatte, brachte seinen Konstantin, einen aufgeweckten, gescheiten Buben, zum Kaplan. Die beiden Knaben sollten fortan die lateinische Schule besuchen, Ivo war hierfür noch zu jung. –
Wir treffen die beiden andern Knaben wohl später wieder, jetzt bleiben wir beim Ivo und wollen sein ganzes Jugendleben möglichst genau beobachten.
Ivo, der kleinste Sohn Valentins, ein blonder Knabe von sechs Jahren, half seinem Vater mit wichtiger Miene bei der Arbeit. Barhaupt und barfuß kletterte er behend wie ein Eichhorn auf dem Gebälke umher, bei jeder Hebung eines Balkens schrie er gleichfalls: „Holz her!“ stemmte sich an und schnaufte, als ob er das meiste dazu vollbringe. Valentin gab dem kleinen Ivo auch sonst immer „etwas zu schaffen“; er mußte den Bindfaden auf die Spule wickeln, das (Handwerks-) „Geschirr“ zusammentragen oder die Späne auf einen Haufen sammeln. Mit einem Ernst und mit emsigen Gebärden, als ob er das größte Werk vollführe, befolgte Ivo seinen Auftrag, und als er einmal als Beschwerungslast auf die Spitze eines schwanken Balkens sitzen mußte, zitterten ihm die Bewegungen der Säge so durch alle Glieder, daß er beständig laut auflachen mußte und fast herunterfiel; er hielt sich aber fest und bemühte sich, sein gewichtiges Amt still zu vollziehen.
Das Gerüste war endlich fertig. Der Sattler Ludwig war bereit, die Teppiche anzunageln. Ivo wollte ihm gleichfalls dabei helfen, aber der barsche Mann jagte ihn fort, und Ivo setzte sich still auf die zusammengelesenen Späne und schaute hinaus nach den jenseitigen Bergen, über denen die Sonne glühendrot unterging. Da hörte er den Pfiff seines Vaters, er sprang auf und eilte zu ihm.
„Vater,“ sagte Ivo, „wenn ich nur einmal in Hochdorf wär’.“
„Warum?“
„Gucket, das ist ganz nah beim Himmel, und da möcht’ ich einmal ‘naufsteigen.“
„Du dummes Kind, das ist nur so, wie wenn dort der Himmel aufstehen thät; hinter Hochdorf ist noch weit bis Stuttgart, und von da ist es auch noch weit bis in den Himmel.“
„Wie weit?“
„Man kann eben nicht hinkommen, bis man tot ist.“
Seinen kleinen Sohn an der rechten Hand führend und am linken Arm das Handwerkszeug tragend, ging Valentin durch das Dorf. Ueberall wurde gescheuert und gewaschen, die Stühle und Tische standen vor den Häusern; denn jedes erwartete zu der heiligen Handlung auf morgen einen Besuch aus einem nahen oder entfernten Dorfe.
Als Valentin an des Schneider Christles Haus vorüber ging, langte er an seine Mütze, bereit, sie abzuziehen, wenn jemand heraussähe; aber es sah niemand heraus, das ganze Haus war so still wie ein Kloster. Einige Bauernweiber gingen mit Schüsseln unter den Schürzen in das Haus, andre kamen mit leeren Schüsseln unterm Arme heraus; sie begrüßten sich still; sie hatten die Hochzeitsgeschenke für den jungen Pfarrer ins Haus gebracht, der ja morgen öffentlich getraut wurde mit seiner heiligen Braut, der Kirche.
Die Abendglocke läutete, Valentin ließ die Hand seines Sohnes los, der schnell seine Händchen faltete; auch Valentin legte über dem schweren Handwerkszeuge die Hände übereinander und betete ein Ave. – –
Andern Morgens schaute ein heller Tag auf das Dorf herab. Ivo wurde schon früh von seiner Mutter schön angekleidet mit einem neuen Janker von gestreiftem Manchester und, wie ihm schien, silbernen Knöpfen und frisch gewaschenen, kurzen ledernen Beinkleidern; er sollte das Kruzifix tragen. Gretle, die älteste Schwester Ivos, nahm diesen bei der Hand und führte ihn auf die Gasse, damit es „Platz im Hause gebe“. Sie schärfte ihm ein, daß er ja nicht mehr zurückkehren solle; dann eilte sie geschäftig ins Haus zurück. Ivo ging das Dorf hinein, überall standen die Männer und Burschen in Rädchen auf der Straße; sie waren nur in halbem Putze, ohne Jacke oder Rock, die weißen Hemdärmel zur Schau tragend. Hier und dort sprangen Frauen und Mädchen, ebenfalls ohne Mieder, mit halb aufgelösten Haaren und das flatternde rote Wickelband in der Hand tragend, von einem Hause ins andre. Es erschien Ivo als eine grausame Tyrannei seiner Schwester, daß er so aus dem Hause verstoßen war. Er wäre auch gar zu gerne wie die großen Leute zuerst im Halbstaate und dann unter dem Geläute der Glocken in voller Pracht erschienen; aber er wagte es nicht, wieder zurückzukehren, noch irgendwo sich niederzulassen, aus Furcht, seine Kleider zu verderben. Behutsam ging er so durch das Dorf. Wagen an Wagen brachte fremde Bauern und Bäuerinnen, aus den Häusern wurden ihnen Stühle zum Absteigen entgegengetragen und sie freundlich bewillkommt. Alle Leute sahen heute so in sich vergnügt, so erhaben aus, wie eine Einwohnerschaft, die einen sieggekrönten Helden aus ihrer Mitte im Triumphe empfängt. Von der Kirche bis zur Hochbur war die Straße mit Gras und Blumen bestreut, die einen würzigen Duft emporsteigen ließen. Der Schultheiß kam aus des Schneider Christles Haus und setzte erst auf der Straße seinen Hut wieder auf. Der Soges hatte ein frisch lackiertes Bandelier an seinem Säbel.
Bald darauf kam auch die Frau Schultheißin, ihr sechsjähriges Töchterchen, Bäbele, an der Hand führend. Bäbele war geschmückt, just wie eine Braut. Es hatte die Schappel samt dem Kränzchen auf dem Kopfe und war überaus prächtig gekleidet; in der That stellte Bäbele, als reine Jungfrau, die Braut des jungen Geistlichen vor.
Es läutete zum erstenmal, und wie durch einen Zauberruf zerstreuten sich plötzlich die Gruppen der hemdärmeligen Leute, sie gingen in die Häuser, um sich würdig anzukleiden, Ivo ging nach der Kirche.
Unter dem Geläute aller Glocken bewegte sich endlich der Zug aus der Kirche hervor. Die Fahnen flatterten, die Stadtmusik, die von Horb herbeigekommen war, schallte drein, und dazwischen hörte man wieder die Gebete der Männer und Frauen. Ivo ging voraus neben dem Lehrer mit dem Kruzifix. Auf der Hochbur war der Altar schön geschmückt, die Kelche und Lampen, die Flitterkleider der Heiligen glitzerten im Sonnenlichte, und unabsehbar über die ganze Heide und über die Felder war die Menge der Andächtigen ausgebreitet. Ivo wagte es kaum, den Hajrle (Herrlein, Pfarrer) anzuschauen, der in golddurchwirktem Gewande, entblößten, nur mit dem goldenen Kranze geschmückten Hauptes und bleichen, frommen Antlitzes, unter dem Schalle der Musik sich stets tief verbeugend, die kleinen weißen Hände auf der Brust übereinander legend, die Stufen des Altars hinaufstieg. Ihm voraus war des Schultheißen Bäbele gegangen, das als seine Braut eine mit Rosmarin umwundene, brennende Kerze in der Hand trug. Es stellte sich zur Seite des Altars auf. Das Hochamt begann, und als die Klingel läutete, stürzte alles auf das Antlitz nieder, kein Laut war weit umher vernehmbar; nur ein Flug Tauben flog gerade über den Altar weg, und man hörte das Flattern und Zwitschern dieser Tiere, das man stets bei ihrem Fluge vernimmt. Um alles in der Welt hätte Ivo nicht aufgeschaut, denn er wußte wohl, daß jetzt der heilige Geist herniedersteigt, um die geheimnisvolle Wandlung des Weines in Blut und des Brotes in Fleisch vorzunehmen, und daß kein sterbliches Auge sich zu ihm erheben darf, ohne zu erblinden.
Der Kaplan von Horb bestieg nun die Kanzel und redete den Primizianten feierlich an.
Hierauf bestieg der Hajrle die Kanzel. Ivo saß nicht weit davon auf einem Schemel; den rechten Arm auf das Knie gestemmt und das Kinn auf die Hand gelehnt, horchte er eifrig zu. Er verstand wenig von allem, aber sein Blick hing an den Lippen und den Mienen des Predigers, die so treuherzig sprachen, und sein Sinn war kindlich und liebend bei Gott und dem guten Hajrle.
Als darauf unter abermaligem Geläute der Glocken und den Siegestönen der rauschenden Musik der Zug sich wieder heim nach der Kirche bewegte, da faßte Ivo das Kruzifix mit beiden Händen fest; es war, als ob er mit erneuter Kraft seinen Herrgott vor sich hertragen wollte.
Unter der Menge, die sich nun zerstreute, sprach alles mit Entzücken von dem Hajrle, und wie glücklich die Eltern eines solchen Sohnes zu preisen wären. Der Schneider Christle und seine Frau gingen, von seliger Lust getragen, die überdachte Treppe an dem Kirchberg herab. Man achtete doch sonst wenig auf diese Leute, heute aber drängte sich alles mit ausnehmender Verehrung zu ihnen, um ihnen Glück zu wünschen. Die Mutter des jungen Pfarrers dankte mit thränenverklärten Blicken, sie konnte vor seligem Weinen nicht reden. – Ivo hörte von seiner Base aus Rexingen, die zu der heiligen Handlung herübergekommen war, daß die Eltern Gregors diesen nun mit Sie anreden müßten.
„Ist das wahr, Mutter?“ fragte er.
„G’wiß. der ist jetzt mehr, als andre Menschen,“ lautete die Antwort.
Bei allem Entzücken blieb auch der wirkliche Vorteil des Schneider Christles nicht unbesprochen. Man sagte, der habe nun ausgesorgt für sein ganzes Leben; das Kordele, des Gregors Schwester, werde „Hausere“ (Hauserin, Haushälterin) , und der Gregor sei ein Glück für die ganze Familie und eine Ehre für das ganze Dorf.
Zwischen seinen Eltern, von beiden an der Hand geführt, ging Ivo nach Haus.
„Vater,“ sagte er, „der Gregor sollt’ hier Pfarrer sein.“
„Das geht nicht, man macht nie einen zum Pfarrer, wo er geboren ist.“
„Warum?“
„Mit deinem ewigen dummen Warum! Weil’s eben so ist,“ entgegnete Valentin. Die Mutter aber sagte: „Er hätt’ sonst zu viel Anhang im Dorf und wär’ nicht unparteiisch.“
Entweder wußte sie es nicht oder konnte sie dem Kinde nicht erklären, daß bei einem Ortsangehörigen die Heiligkeit des Amtes und die Ehrfurcht vor der Person des Priesters beeinträchtigt würde, da man seinen menschlichen Ursprung und sein Wachstum kennt.
Valentin aber sagte nach einer Weile:
„Das best’ Leben hat doch so ein Pfarrer. Er kriegt keine Schwiele in die Hand vom Pflügen und kein Rückenweh vom Schneiden, und die Pfarrscheuer ist doch voll Frucht; er legt sich aufs Kanapee hin und denkt sich sein’ Predigt aus und macht seine ganze Familie glücklich. Ivo, wenn du brav bist, kannst du auch Hajrle werden. Möchtest du gern?“
„Ja,“ sagte Ivo mit voller Stimme und schaute mit weit aufgerissenen Augen nach seinem Vater auf, „aber Ihr dürfet nicht Sie zu mir sagen,“ setzte er dann hinzu.
„Das hat noch gute Weil’,“ erwiderte Valentin lächelnd.
Nach dem Mittagessen stellte sich Ivo hinter dem Tisch auf die Bank, dort in die Ecke unter dem Kruzifix, wo der Vater gesessen. Zuerst bewegten sich seine Lippen leise, dann hielt er mit lauter Stimme eine Predigt. Mit der ernstesten Miene sprach er das kunterbunteste Zeug, er wollte gar nicht aufhören, bis ihm Valentin freundlich mit der Hand über den Kopf fuhr und sagte: „So, jetzt ist’s genug.“
Die Mutter aber nahm den Ivo herab auf ihren Schoß, herzte und küßte ihn und sagte fast weinend: „O liebe Mutter Gottes! ich möcht’ nicht länger leben, als daß mich unser Herrgott den Tag sehen ließ’, an dem du dein’ Primiz hältst;“ dann setzte sie kopfschüttelnd und leise hinzu: „Verzeih mir Gott meine Sünden, ich denk’ schon wieder zu viel an mich.“ Sie stellte ihren Sohn nieder und hielt ihre Hand auf seinem Kopfe.
„Gelt,“ sagte Ivo, „und unser Gretle wird mein’ Hauserin, und ich laß ihm auch Stadtkleider machen, wie die Pfarrköchin hat?“
Die gute Base Magdalena von Rexingen schenkte dem Ivo einen Kreuzer für seine Predigt. Schnell sprang er dann zu dem Knechte, der vor dem Hause unter dem Nußbaum saß, und erzählte ihm, daß er Hajrle werde. Nazi schüttelte nur mit dem Kopfe und drückte den überquellenden, brennenden Tabak in seiner Pfeife nieder.
Die Mittagskirche war nicht so feierlich und so besucht wie sonst, die Andacht hatte sich heute morgen erschöpft.
Gegen Abend ging der junge Pfarrer mit dem Kaplan von Horb und mehreren andern Geistlichen durch das Dorf. Alle Leute, die vor den Häusern saßen, standen auf und grüßten freundlich; die ältern Frauen lächelten dem jungen Pfarrer zu, wie wenn sie sagen wollten: „Wir kennen dich und haben dich gern; denkt dir’ s noch, wie ich dir eine Birn’ geschenkt hab’? Und ich hab’s ja schon lang gesagt, der Gregor wird ein großer Mann.“ Die jungen Burschen zogen die Pfeifen aus dem Munde und die Mützen ab, und die Mädchen flüchteten sich unter ein Haus und stießen einander und blickten verstohlen heraus. Die Kinder aber kamen herbei, gaben dem Gregor die Hand und küßten die seinige.
Auch Ivo kam herbei. Der junge Geistliche mochte vielleicht das Zittern des Knaben und seinen andächtig frommen Kuß herausfühlen, er hielt seine Hand noch länger, strich ihm mit der andern Hand über die Wange und sagte:
„Wie heißt du, liebes Kind?“
„Ivo.“
„Und dein Vater?“
„Der Zimmermann Valentin.“
„Sag einen schönen Gruß von mir an deinen Vater und deine Mutter und sei recht fromm und brav.“
Ivo stand noch lange wie festgezaubert da, als die Männer schon längst fort waren, es war ihm, als ob ihm ein Heiliger erschienen wäre und mit ihm geredet hätte. Er blickte lange staunend zur Erde, dann eilte er in großen Sätzen jubelnd nach Hause und erzählte alles.
Die ganze Familie saß auf dem Bauholze unter dem Nußbaume, der Nazi nicht weit davon auf einem Steine an der Hausthür. Ivo ging zu ihm und berichtete auch ihm seine Begegnung, der Knecht aber war heute mürrisch, und Ivo setzte sich zu Füßen seines Vaters nieder.
Es war Nacht geworden, man sprach wenig, nur der Schreiner Koch sagte noch:
„Ich will sehen, wo Ihr Geld krieget unter fünf Prozent.“ Niemand antwortete.
Ivo blickte einmal zu seinem Vater auf, aus seinem Auge leuchtete eine stille Verklärung, niemand konnte ahnen, was die junge Seele bewegte.
„Vater,“ sagte Ivo, „schlaft denn des Schneider Christles Hajrle auch wie andre Menschen?“
„Ja, aber nicht so lang wie du; wenn man Hajrle werden will, muß man früh aufstehen und beten und lernen. Gang jetzt, marsch ins Bett!“
Die Mutter begleitete Ivo ins Haus, und in sein Nachtgebet, das er ihr vorsagte, schloß er freiwillig neben den namhaft gemachten Verwandten auch den Hajrle ein.
Die Primiz hatte die unmittelbarsten Folgen. Gleich andern Tages ging der Hansjörg, den wir noch von der Kriegspfeife her kennen, mit seinem Sohne, Peter, nach Horb zum Kaplan; auch der reiche Johannesle von der Bruck, der den Beinamen der Schmutzige hatte, brachte seinen Konstantin, einen aufgeweckten, gescheiten Buben, zum Kaplan. Die beiden Knaben sollten fortan die lateinische Schule besuchen, Ivo war hierfür noch zu jung. –
Wir treffen die beiden andern Knaben wohl später wieder, jetzt bleiben wir beim Ivo und wollen sein ganzes Jugendleben möglichst genau beobachten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 1