Vefele zog nun zu seinem Bruder Melchior nach Ergenzingen; ...
3. Vefele zog nun zu seinem Bruder Melchior nach Ergenzingen; nichts war ihm aus dem Dorfe gefolgt als das Mohrle. Die Schwester Agathle starb bald nach dem Tode des Vaters, und die Leute munkelten, Vefele werde nun ihren Schwager heiraten; das konnte aber nie und nimmer geschehen. Brönner kam jede Woche mehrmals nach Ergenzingen; er mußte irgendwo Geld aufgetrieben haben, denn er war überaus prächtig gekleidet, auch benahm er sich gegen Vefele und die andern ganz sicher, ja fast vornehm. Er gab zu verstehen, daß man ihn künftighin „Herr Doktor“ heißen solle. Vefele mußte nicht, was das sein sollte, es ließ sich aber alles gefallen, denn es hatte ihm seinen Stand eröffnet.
Im Hause Melchiors war ein Knecht, Wendel mit Namen, ein baumstarker und arbeitsamer Bursch; der teilte gleiche Freundschaft und Feindschaft mit dem Mohrle: er liebte den Hund, weil er gleich ihm den Brönner haßte, und er liebte ihn doppelt, weil er ebenfalls dem Vefele so gut war. Brönner hatte einmal per „Er“ mit dem Wendel gesprochen, und dieser, der schon lang gern einen Grund gehabt hätte, um Brönner zu hassen, faßte von da an eine Todfeindschaft auf den „Bartkratzer“. Dennoch aber ließ er sich mehr als zwanzigmal und oft spät in der Nacht zu ihm nach der Stadt schicken, wenn Vefele sagte: „Wendel, willst du nicht so gut sein?“ Da wanderte er dann hin, und das Mohrle sprang mit, und sie brachten einen Brief von Vefele an den „Doktor“. Oft auch, wenn der Wendel den ganzen Tag geackert hatte und müder war als seine Gäule, brauchte das Vefele nur ein gut Wort zu sagen, und er spannte nochmals ein und führte den Brönner durch Nacht und Wetter heim.
Eines Samstagabends sagte Vefele im Hofe zum Wendel: „Morgen früh mußt du so gut sein und ganz früh nach Horb fahren und den Brönner holen.“
„Ist’s denn wahr?“ fragte Wendel, „daß Ihr Euch miteinander versprechen wollt?“
„Ja.“
„Wenn ich Euch raten soll, so thut’s nicht, es gibt noch rechtschaffene Bauersleut’ genug.“
Vefele erwiderte: „Du kannst’s eben dem Brönner nicht vergeben, daß er einmal Er zu dir gesagt hat.“ Es wollte noch mehr hinzusetzen, aber es bedachte sich, denn es wollte den Wendel nicht beleidigen. Innerlich aber sagte es sich: „es ist doch gräßlich, wie dumm und hartnäckig so ein Bauer ist,“ und es freute sich, darüber hinausgekommen zu sein. – Trotz seiner Widerrede war Wendel doch schon lange, ehe es tagte, mit dem Wägelchen auf der Straße, um den Brönner abzuholen.
Vefele und Brönner verlobten sich nun öffentlich miteinander, und die Leute sprachen allerlei davon, ja sie sagten sogar heimlich, Brönner habe dem Schloßbauern, weil er die Heirat mit seiner Tochter nicht habe zugeben wollen, einen Trank gegeben, woran er gestorben sei. So schießen die Leute in ihren überklugen Vermutungen meist über das Ziel hinaus.
Die erste Veränderung, der sich nun Vefele unterwerfen mußte, war eine sehr traurige. Der Brönner schickte ihm eines Tages eine Näherin aus der Stadt und ließ ihm Kleider anmessen. Vefele kam sich vor wie ein Rekrut, der nicht mehr Herr über sich ist und sich in jede beliebige Uniform stecken lassen muß, weil ihn das Los so getroffen; es ließ alles ohne Widerrede aus sich machen. Als es nun am Sonntage darauf die neuen Kleider anziehen mußte, stand es weinend bei der Näherin in der Kammer, es nahm von jedem einzelnen Stückchen wehmütig Abschied, es war ihm, als ob es seinem ganzen bisherigen Leben damit entsagte. Mit besonderer Wehmut betrachtete es den seinen Wiflingrock; seine Mutter hatte ihn ihm gegeben, als es gefirmt wurde, es war darin zum erstenmal zur Beichte und zu Gottes Tisch gegangen, und die Mutter hatte ihm gesagt, es solle einst damit zum Traualtare gehen. Auch das ist eine Unannehmlichkeit der Stadtkleider und bezeichnet schon das Herrenwesen, daß man sie nicht allein anziehen kann und jemand zum Zuhafteln braucht. Vefele schauderte immer zusammen, wenn die Näherin so an ihm herumbosselte. Die Haare waren in einen Zopf geflochten und mit einem Kamme aufgesteckt, und als nun das Vefele endlich fix und fertig dastand und sich im Spiegel betrachtete, mußte es über sich lachen, und es verbeugte sich höflich vor sich selber.
Brönner war hocherfreut, als das Vefele schüchtern in die Stube trat; er bemerkte, daß es zehnmal hübscher aussehe. Als aber Vefele sagte: daß die Stadtkleider doch nichts seien, und daß ein einziges Bauernkleid mehr wert sei und auch mehr koste als sechs solcher Stadtfahnen, da machte der Brönner ein böses Gesicht und sagte, das wäre „dummes Bauerngeschwätz“. Das Vefele preßte die Lippen zusammen, und die Thränen standen ihm in den Augen; es ging hinaus und weinte.
Das Vefele ging fast gar nicht aus dem Hause, denn es schämte sich, so „vermaskiert“ zu sein; es meinte, jedermann müsse es drum ansehen. Nur ein einziges Mädchen im Dorfe, das bei der alten Ursula aufgezogen ward, hatte auch Stadtkleider an, und man wußte nicht recht, woher es war. Das Vefele hatte schwere Zeiten in dem Hause Melchiors, dessen Frau ein böser Drache war und immer tote Kinder gebar, so daß die Leute sagten, ihr Gift töte die Kinder im Leibe. – Oft saßen Melchior und Vefele in der Scheune, und sie thaten, als ob sie sich zum Spaß Rüben schälten; in der That aber aßen sie sie mit gutem Appetit. Vefele gab sich alle Mühe, den Bruder zu steter Nachgiebigkeit zu ermahnen. Es hatte erfahren, was Unfriede in einem Hause war, und es drang nun darauf, daß bei allen Entbehrungen Friede sein sollte; der gute Melchior willigte gern in alles.
Doppelt und dreifach drang aber Vefele bei Brönner auf baldige Verheiratung. Da trat dieser mit einem neuen Plane hervor; er wolle nach Amerika auswandern, er könne so gut doktern wie der Amtsphysikus, hier zu Lande aber dürfe er das nicht, und darum wolle und müsse er fort. Das Vefele rang die Hände, warf sich auf die Kniee und bat, daß er von diesem Plane abstehe, sie hätten ja Vermögen genug, um auch ohne Doktorei zu leben. Der Brönner aber blieb unerschütterlich und nannte das Vefele ein „dummes Dorfkind, das nicht wisse, daß hinterm Berge auch noch Leute wohnen“. Da sank das Vefele in sich zusammen, es lag mit dem Gesichte auf dem Boden, und ein furchtbarer Gedanke ging ihm durch die Seele, der Gedanke, daß es mißachtet und auf ewig unglücklich sein werde. Brönner mochte das ahnen, er kam zu ihm, hob es freundlich auf, küßte es und redete gar fein und höflich, so daß das Vefele alles vergaß und in alles willigte: es wollte mit ihm nach Amerika auswandern, es wäre ihm in die Hölle gefolgt, so hatte er sein Herz und seine Sinne bestrickt.
Brönner hatte schon alles vorbereitet, das Vermögen Vefeles wurde zu Geld gemacht und, um zur Reise bequemer zu sein, in lauter Gold eingewechselt. Vefele hob es bei seiner Aussteuer auf.
Vefele und Brönner sollten in der Kirche verkündet werden; aber die Papiere Brönners, der aus dem Hohenlohischen gebürtig war, blieben immer aus. Da kam dieser eines Tages – Vefele stand in der Küche am Waschzuber – und er sagte: „Vefele, weißt du was, ich muß heim und die Papiere selber holen, unten ist ein guter Freund mit einer Chaise, ich habe gerade Gelegenheit, nach Tübingen zu fahren; dann laß ich auch für uns den Paß von dem Gesandten unterschreiben, und dann gehen wir noch den Herbst fort.“
„Lieber heut als morgen,“ sagte das Vefele.
„Apropos,“ sagte Brönner wieder, „ich habe jetzt gerade kein Geld, kannst du mir nicht was geben?“
„Da hast den Schlüssel,“ sagte Vefele, „hol dir droben; du weißt ja, wo’s liegt, links bei den neuen Hemden, die mit dem blauen Bändele zusammengebunden sind.“
Brönner ging hinauf und kam nach einer Weile wieder, Vefele trocknete an der Schürze die Hand und reichte ihm dieselbe, Brönners Hand zitterte. Vefele wollte ihm ein Stück Weges ?ausfolgen“; er bat es, da zu bleiben, und er rannte schnell die Treppe hinab. Es war Vefele traurig zu Mute, daß Brönner sich nicht einmal bis unter die Hausthür begleiten ließ, es glaubte, er schäme sich seiner vor seinem Freunde; es dachte darüber nach, wie das einst werden solle, und bittere Thränen tröpfelten in den Waschzuber. Dennoch ging es hinauf in seine Dachkammer und schaute zum Fenster hinaus, um die Kutsche noch mit den Blicken begleiten zu können. Wie erstaunte es aber, als es sah, daß die Kutsche nicht nach Tübingen, sondern den Weg nach Herrenberg fuhr. Es hatte schon den Mund geöffnet, es war ihm, als müßte oder könnte es ihnen zurufen, sie seien auf falschem Weg; da besann es sich, daß es sich wohl verhört, oder der Brönner sich versprochen haben möge.
Acht, vierzehn Tage waren vorüber, weder Brönner noch Nachricht von ihm kam. Vefele war oft betrübt in dem Gedanken, daß es sein ganzes Leben lang einem Manne hingegeben sein solle, der keinen rechten Respekt vor ihm hatte; es war nicht stolz, aber es dachte doch daran, wie jeder, und sogar der Schultheiß im Orte, sich hochgeehrt gefühlt hätte durch seine Hand. Oft aber dachte es wieder mit dem innigsten Entzücken an Brönner, und es bat ihn in Gedanken um Verzeihung für alle die herben Vorwürfe, die es ihm in seiner Seele gemacht hatte. Es stellte sich ihn ganz vor, wie er war, und da erschien er so herrlich und lieb, und es sah gar keinen Fehler mehr an ihm; denn so ist es immer: wenn wir von Menschen entfernt sind, die wir gern haben, sehen wir gar keinen Fehler und nur Tugenden an ihnen. – Hätte der Brönner nur eine Tugend gehabt!
Melchior fragte Vefele über das lange Ausbleiben Brönners, und es that, als wüßte es den Grund und wäre darüber beruhigt.
Eines Tages saß Vefele in trüben Gedanken in seiner Kammer; es hatte lange zum. Dachfenster hinausgeschaut, ob Brönner nicht komme, aber es sah nichts. Es wollte sich eine Freude machen und öffnete den Schrank, um die schöne Aussteuer zu betrachten, aber, o Himmel! da war alles so zerzaust, als ob Hexen darüber gewesen wären; es griff unwillkürlich nach dem Gelde, aber – das war fort. Es schrie laut auf und plötzlich, wie feurige Pfeile so schnell, flogen ihm die Gedanken durch die Seele: der falsche Weg, den Brönner gefahren . . das Zittern seiner Hand . . daß es ihm nicht ausfolgen durfte . . sein langes Ausbleiben – – Mit raschen Schritten sprang Vefele an das Dachfenster und wollte sich hinausstürzen; da faßte es eine Hand von hinten, es war Melchior, der auf den Schmerzensschrei herbeigeeilt war. Vefele warf sich auf die Kniee und erzählte händeringend seinem Bruder alles. Melchior raste und wütete, er wollte fort, alle Gerichte zu Hilfe rufen. Da fiel Vefele auf das Angesicht und erzählte ihm seine Schande; Melchior sank zu ihm nieder auf den Boden und weinte mit. Lange saßen die beiden Geschwister so auf dem Boden hart aneinander gelehnt, laut schluchzend, ohne ein Wort zu reden, ja beide scheuten sich fast, einander anzusehen. –
Wer die Menschen kennt und die Eigentümlichkeiten der Bauern insbesondere, der wird es wohl zu schätzen wissen, daß Melchior seiner Schwester Vefele nie den geringsten Vorwurf über ihren Fall machte; ja, er suchte, so viel er konnte, ihren niedergedrückten Lebensgeist wieder aufzurichten. Die meisten Menschen machen sich für ihre Teilnahme bei einem Mißgeschick oder einem Fehltritt gleich dadurch bezahlt, daß sie ihrem freundschaftlichen Aerger und ihren weisen Ermahnungen Luft machen. Das mag bei Kindern oder überhaupt bei solchen Menschen am Platze sein, die nicht wissen, was ihnen geschehen oder was sie gethan; bei Menschen aber, die den Pfeil wohl fühlen, der in ihre Brust gedrungen, ist es unvernünftig, wenn nicht grausam, den Pfeil noch um und um zu wühlen, statt ihn sogleich behutsam und zart herauszuziehen.
Melchior beratschlagte nun mit Vefele, was zu thun sei, und sie kamen überein, daß man vorerst keinen Lärm machen und alles im geheimen zu Ende führen müsse. Mit einer Entschiedenheit, als wäre er ein ganz andrer Mensch geworden, forderte Melchior seiner Frau Geld ab, und wenige Stunden darauf reiste er in seinem Wägelchen dem Brönner nach. Vefele wollte mit, es wollte fast verzweifeln, daß es zu Hause bleiben und nichts thun solle, als harren und weinen, aber Melchior redete ihm die Mitreise aufs liebevollste aus.
Tage und Wochen schmerzlichen Hinbrütens vergingen. Wer das Vefele früher gekannt hatte, wäre jetzt furchtbar erschrocken über die Veränderung seines ganzen Wesens. Es ließ sich aber vor niemand sehen, es lebte ein Leben ohne Willen, das kein eigentliches Leben war, es aß und trank, schlief und stand auf, aber es wußte und wollte von alledem nichts, es blickte immer drein wie eine Wahnsinnige. Auch weinen konnte es nicht mehr. All sein Denken, seine tiefste Seele war wie scheintot, wie lebendig begraben; es hörte die Welt draußen hantieren, es verstand sie wohl, aber sich selber konnte es nicht verständigen.
Als Melchior zurückkam, ohne eine Spur von Brönner entdeckt zu haben, hörte Vefele alles mit einem herzzerreißenden Stumpfsinn an, es schien auf alles gefaßt. Still, fast ohne ein Wort zu reden, lebte es dahin. Nur als es vernahm, daß Brönner mit Steckbriefen verfolgt wurde, jammerte es laut auf; es war ihm, als ob Millionen Zungen durch die Welt hin seinen Schmerz und seine Schande verkündeten, und doch – so weit geht die Liebe – weinte es fast mehr um Brönner, als um sich selber.
Bei alledem hatte das traurige Schicksal Vefeles noch nicht seine höchste Höhe erreicht. Als seine Schwägerin seinen Stand inne ward, steigerte sich ihre Hartherzigkeit zum empörendsten Grade, sie verfolgte und mißhandelte Vefele auf jede Weise. Das aber duldete still, es sah sich auserkoren, das größte Kreuz über sich zu nehmen, und es gehorchte ohne Murren; das Doppelleben in ihm schien es mit einer geistigen und körperlichen Kraft auszurüsten, die über jedes Ungemach unversehrt hinwegschritt. Als aber Vefele hörte, wie die Schwägerin dem Melchior Vorwürfe machte, und wie sie den Tag verwünschte, an dem sie in eine Familie eingetreten war, die einen solchen Schandfleck habe, da blutete das Herz der Unglücklichen tief. Sie, die Engelsmilde, sollte die Schande ihrer Familie sein! Alles ertrug sie, nur das, daß sie an dem Unglück und der Schande ihres Bruders schuld sein solle, das war zu viel!
Es ist jammervoll, daß fast lauter böse, in die Tracht schwarzer Leidenschaften gehüllte Menschen am Lebenswege Vefeles sich wie eine festgeschlossene Reihe aufgestellt hatten. Das verhinderte es auch, die guten, in den Lichtglanz des Edelsinns gehüllten Menschen zu erkennen, die sich nicht so leicht hindurchdrängen, weil es ihre stille Tugend so mit sich bringt, und weil sie auch erwarten dürfen, daß man sie doch herausfinde.
Vefele saß eines Tages weinend in der Küche auf dem Herde, da trat der Wendel ein und sagte:
„Müsset nicht greinen, ich hab’s Euch ja damals gesagt, es gibt noch rechtschaffene Bauersleut’ genug, wenn sie auch keinen Katzenbuckel machen können.“
Vefele sah mit thränenden Augen auf, über diese Rede befremdet; es antwortete aber nichts, und Wendel fuhr nach einer Weile fort:
„Ja, gucket mich nur an; was ich sag’, ist so wahr, wie wenn’s der Pfarrer von der Kanzel sagt.“ Er näherte sich Vefele und faßte dessen Hand, indem er weiter sagte: „Drum kurz und gut, ich weiß, wie’s mit Euch steht, aber Ihr seid doch braver als hundert andre, und wenn Ihr Ja saget, ist über vierzehn Tag unsre Hochzeit, und Euer Kind ist mein Kind.“
Vefele entzog ihm rasch die Hand und bedeckte sich damit die Augen, dann stand es auf und sagte glühenden Antlitzes: „Weißt du denn auch, daß ich bettelarm bin? Gelt, das hast du nicht gewußt?“
Wendel stand eine Weile still, Zorn und Mitleid kämpften in seinem Herzen wie auf seinem Angesichte, er schämte sich für das Vefele und für sich selber über diese Rede; endlich sagte er: „Ja, ich weiß alles; wenn du noch reich wärst, hätt’ ich mein Lebtag nichts gesagt; meine Mutter hat ein kleines Gütle, und ich hab’ mir auch ein Geldle gespart, und wir können ja schaffen und uns in Ehren durchbringen.“
Vefele faltete die Hände, hob die Blicke himmelwärts und sagte dann: „Verzeih mir’s, Wendel, aber ich hab’s nicht so schlecht gemeint, ich bin nicht so schlecht, aber die ganze Welt kommt mir so vor; verzeih mir’s, Wendel.“
„Nun, sagst du Ja?“ fragte dieser.
Vefele schüttelte den Kopf verneinend, und Wendel stampfte mit dem Fuße auf den Boden: „Warum denn nicht?“ fragte er.
„Ich kann nicht viel reden,“ sagte Vefele schwer atmend, „aber verzeih mir’s, ich kann nicht; Gott wird dir dein Herz gewiß noch belohnen, aber gelt, jetzt reden wir weiter kein Wort mehr davon?“
Der Wendel ging weg und sagte noch in derselben Stunde dem Melchior auf Martini den Dienst auf.
Endlich kam das äußerste Unglück über Vefele. Der Schultheiß des Orts hatte ihren Stand erfahren, und der hartherzige Mann ließ nun seinen alten verhaltenen Grimm aus; er ließ Vefele durch den Dorfschützen sagen, es müsse das Dorf verlassen und nach seinem Geburtsort zurückkehren, da sonst das Kind, wenn es hier geboren würde, Heimatsrechte ansprechen könnte.
Vefele duldete es nicht, daß man Schritte gegen diese Grausamkeit that, und in einer stürmischen Herbstnacht bestieg es mit Wendel das Wägelchen und fuhr nach Seedorf. Wendel suchte es auf dem Wege zu trösten, so gut er konnte; er sagte, daß er sich jeden Tag darüber gräme, daß er nicht, wie er oft vorgehabt habe, den Brönner einmal die Bildechinger Steige hinabgeworfen habe, damit er Hals und Bein breche. Vefele schien fast froh, als es in Seedorf kein Unterkommen fand. Wendel bat und beschwor es, mit ihm zu seiner Mutter nach Bondorf zu gehen; aber es gab auf alle seine Bitten kein Gehör, schickte ihn des andern Morgens nach Hause und wanderte zu Fuß fort, wie es sagte, nach Tübingen. Das Mohrle war auch mit gewesen, es wollte sich von Vefele nicht trennen lassen, und der Wendel mußte den Hund mit einem Seile unter dem Wägelchen anbinden.
Der Wind jagte den Regen, der Boden war so schlüpfrig, daß man bei jedem Schritte ausglitt, als Vefele den Weg nach Rottenburg einschlug. Es war städtisch gekleidet und hatte ein hellrotes Halstuch um, unter dem Arme trug es ein kleines Bündel. Ein altes Lied, das es fast ganz vergessen hatte, tauchte plötzlich in seiner Erinnerung auf; es war das Lied von der betrogenen Grafentochter. Ohne den Mund zu öffnen, wiederholte es oft innerlich den Vers:
Weinst du um dein Vatergut,
Oder weinst du um dein’ stolzen Mut?
Oder weinst du um dein junges Blut?
Oder weinst du um deine Ehr? Ja Ehr?
Die findst du nimmermehr.
Kaum einige hundert Schritte war Vefele von Seedorf entfernt, als plötzlich etwas an ihm hinaufsprang. Es fuhr erschreckt zusammen, aber sein Antlitz war schnell wieder freundlich, es war Mohrle; der Hund trug einen Seilstumpf, den er abgebissen hatte, am Halse, er gebärdete sich ganz wie selig und wollte sich gar nicht beruhigen lassen.
Der Sturm war so heftig, daß es war, wie wenn man ganz hart an dem Ohre zwei Steine aufeinander schlüge, und als ob um und um unfaßbare rauschende Gewänder einen umstrickten und zu ersticken suchten. Vefele ging mühsam weiter, und plötzlich – ohne daß es wußte, warum oder wie – kam ihm der Gedanke, daß Brönner jetzt auf dem Meere sei. Es hatte in seinem Leben nur einmal eine bildliche Darstellung des Sturmes im Evangelium gesehen; aber jetzt sah es ihn leibhaftig vor sich, es selbst war mitten drin: es sah die häuserhohen dunkeln Wellen, sah das Schiff, wie es auf und nieder geschnellt wurde, und oben stand der Brönner und streckte jammernd die Arme empor. Da! wehe! Vefele streckte ebenfalls die Arme empor, sein Mund öffnete sich, aber der Schrei erstarb ihm auf der Zunge, es sah den Brönner hinabstürzen in das Meer, und eine Welle begrub ihn. Vefele ließ die Arme sinken, sein Haupt neigte sich, seine Hände falteten sich, und es betete für die arme Seele des Verlorenen. So stand es eine Weile, in seinem Innersten sah es: Brönner war in dieser Minute gestorben. Dann richtete es seufzend das Haupt wieder empor, es hob das Bündel auf, das ihm entfallen war, und schritt durch Sturm und Regen wieder fürbaß.
Auf der Anhöhe, wo der Weg umbiegt und das Städtchen Rottenburg vor den Blicken liegt, steht eine Kapelle. Vefele trat hinein und betete lange und inbrünstig vor der Mutter Gottes. Als es wieder aus der Kapelle trat, sah es die weite Ebene vor sich fast wie einen See; der Neckar war übergetreten. Vefele ging außen an der Stadt herum, Hirschau zu. Hier traf es plötzlich einen alten Bekannten, den auch uns noch wohl erinnerlichen Marem; er trug einen Quersack auf dem Rücken und führte eine Kuh am Seile, er ging ebenfalls nach Hirschau. Wer sollte es glauben, daß Marem ein Mitgefühl mit dem Schicksale Vefeles hatte, das ihm Thränen auspreßte? Und doch war es so. Nehmt einen Dorfjuden und einen Bauern von gleicher Bildungsstufe, ihr werdet jenen verschmitzter, auf seinen Vorteil bedachter und scheinbar kälter finden; aber bei jedem rein menschlichen Elend werdet ihr meist eine Wärme und Zartheit des Mitgefühls in ihm entdecken, die ihn weit über sein sonstiges Sein hinaushebt. Sein Schicksal hat ihn für manche andre Weltbeziehung abgestumpft, aber ihn auch zum teilnehmenden Bruder jedes rein menschlichen Schmerzes gemacht.
Marem bot alles auf, um Vefele von seinem Wege zurückzubringen, er bot ihm sein eigenes Haus als Unterkommen an, ja, er wollte ihm sogar Geld aufdringen. Vefele lehnte alles ab. In Hirschau kehrten die beiden ein. Marem ließ dem Vefele eine gute Suppe kochen, aber es stand gleich, nachdem es den ersten Löffel voll genommen, wieder auf, um weiter zu gehen. Marem wollte den Hund bei sich behalten, aber Vefele ließ das treue Tier nicht, es schied mit einem: „Vergelt’s Euch Gott!“ –
Eine Stunde später ging Marem, nachdem er seine Kuh verkauft hatte, ebenfalls nach Tübingen. Nicht weit von Hirschau sprang ihm das Mohrle entgegen, es trug ein rotes Halstuch im Maul. Marem wurde blaß vor Schrecken, das Mohrle sprang ihm nun voraus und er nach. Sie kamen an eine Stelle, wo das Wasser über die Straße getreten war; der Hund sprang hinein, er schwamm immer weiter, immer weiter, bis er endlich aus den Augen verschwand. – –
Im Hause Melchiors war ein Knecht, Wendel mit Namen, ein baumstarker und arbeitsamer Bursch; der teilte gleiche Freundschaft und Feindschaft mit dem Mohrle: er liebte den Hund, weil er gleich ihm den Brönner haßte, und er liebte ihn doppelt, weil er ebenfalls dem Vefele so gut war. Brönner hatte einmal per „Er“ mit dem Wendel gesprochen, und dieser, der schon lang gern einen Grund gehabt hätte, um Brönner zu hassen, faßte von da an eine Todfeindschaft auf den „Bartkratzer“. Dennoch aber ließ er sich mehr als zwanzigmal und oft spät in der Nacht zu ihm nach der Stadt schicken, wenn Vefele sagte: „Wendel, willst du nicht so gut sein?“ Da wanderte er dann hin, und das Mohrle sprang mit, und sie brachten einen Brief von Vefele an den „Doktor“. Oft auch, wenn der Wendel den ganzen Tag geackert hatte und müder war als seine Gäule, brauchte das Vefele nur ein gut Wort zu sagen, und er spannte nochmals ein und führte den Brönner durch Nacht und Wetter heim.
Eines Samstagabends sagte Vefele im Hofe zum Wendel: „Morgen früh mußt du so gut sein und ganz früh nach Horb fahren und den Brönner holen.“
„Ist’s denn wahr?“ fragte Wendel, „daß Ihr Euch miteinander versprechen wollt?“
„Ja.“
„Wenn ich Euch raten soll, so thut’s nicht, es gibt noch rechtschaffene Bauersleut’ genug.“
Vefele erwiderte: „Du kannst’s eben dem Brönner nicht vergeben, daß er einmal Er zu dir gesagt hat.“ Es wollte noch mehr hinzusetzen, aber es bedachte sich, denn es wollte den Wendel nicht beleidigen. Innerlich aber sagte es sich: „es ist doch gräßlich, wie dumm und hartnäckig so ein Bauer ist,“ und es freute sich, darüber hinausgekommen zu sein. – Trotz seiner Widerrede war Wendel doch schon lange, ehe es tagte, mit dem Wägelchen auf der Straße, um den Brönner abzuholen.
Vefele und Brönner verlobten sich nun öffentlich miteinander, und die Leute sprachen allerlei davon, ja sie sagten sogar heimlich, Brönner habe dem Schloßbauern, weil er die Heirat mit seiner Tochter nicht habe zugeben wollen, einen Trank gegeben, woran er gestorben sei. So schießen die Leute in ihren überklugen Vermutungen meist über das Ziel hinaus.
Die erste Veränderung, der sich nun Vefele unterwerfen mußte, war eine sehr traurige. Der Brönner schickte ihm eines Tages eine Näherin aus der Stadt und ließ ihm Kleider anmessen. Vefele kam sich vor wie ein Rekrut, der nicht mehr Herr über sich ist und sich in jede beliebige Uniform stecken lassen muß, weil ihn das Los so getroffen; es ließ alles ohne Widerrede aus sich machen. Als es nun am Sonntage darauf die neuen Kleider anziehen mußte, stand es weinend bei der Näherin in der Kammer, es nahm von jedem einzelnen Stückchen wehmütig Abschied, es war ihm, als ob es seinem ganzen bisherigen Leben damit entsagte. Mit besonderer Wehmut betrachtete es den seinen Wiflingrock; seine Mutter hatte ihn ihm gegeben, als es gefirmt wurde, es war darin zum erstenmal zur Beichte und zu Gottes Tisch gegangen, und die Mutter hatte ihm gesagt, es solle einst damit zum Traualtare gehen. Auch das ist eine Unannehmlichkeit der Stadtkleider und bezeichnet schon das Herrenwesen, daß man sie nicht allein anziehen kann und jemand zum Zuhafteln braucht. Vefele schauderte immer zusammen, wenn die Näherin so an ihm herumbosselte. Die Haare waren in einen Zopf geflochten und mit einem Kamme aufgesteckt, und als nun das Vefele endlich fix und fertig dastand und sich im Spiegel betrachtete, mußte es über sich lachen, und es verbeugte sich höflich vor sich selber.
Brönner war hocherfreut, als das Vefele schüchtern in die Stube trat; er bemerkte, daß es zehnmal hübscher aussehe. Als aber Vefele sagte: daß die Stadtkleider doch nichts seien, und daß ein einziges Bauernkleid mehr wert sei und auch mehr koste als sechs solcher Stadtfahnen, da machte der Brönner ein böses Gesicht und sagte, das wäre „dummes Bauerngeschwätz“. Das Vefele preßte die Lippen zusammen, und die Thränen standen ihm in den Augen; es ging hinaus und weinte.
Das Vefele ging fast gar nicht aus dem Hause, denn es schämte sich, so „vermaskiert“ zu sein; es meinte, jedermann müsse es drum ansehen. Nur ein einziges Mädchen im Dorfe, das bei der alten Ursula aufgezogen ward, hatte auch Stadtkleider an, und man wußte nicht recht, woher es war. Das Vefele hatte schwere Zeiten in dem Hause Melchiors, dessen Frau ein böser Drache war und immer tote Kinder gebar, so daß die Leute sagten, ihr Gift töte die Kinder im Leibe. – Oft saßen Melchior und Vefele in der Scheune, und sie thaten, als ob sie sich zum Spaß Rüben schälten; in der That aber aßen sie sie mit gutem Appetit. Vefele gab sich alle Mühe, den Bruder zu steter Nachgiebigkeit zu ermahnen. Es hatte erfahren, was Unfriede in einem Hause war, und es drang nun darauf, daß bei allen Entbehrungen Friede sein sollte; der gute Melchior willigte gern in alles.
Doppelt und dreifach drang aber Vefele bei Brönner auf baldige Verheiratung. Da trat dieser mit einem neuen Plane hervor; er wolle nach Amerika auswandern, er könne so gut doktern wie der Amtsphysikus, hier zu Lande aber dürfe er das nicht, und darum wolle und müsse er fort. Das Vefele rang die Hände, warf sich auf die Kniee und bat, daß er von diesem Plane abstehe, sie hätten ja Vermögen genug, um auch ohne Doktorei zu leben. Der Brönner aber blieb unerschütterlich und nannte das Vefele ein „dummes Dorfkind, das nicht wisse, daß hinterm Berge auch noch Leute wohnen“. Da sank das Vefele in sich zusammen, es lag mit dem Gesichte auf dem Boden, und ein furchtbarer Gedanke ging ihm durch die Seele, der Gedanke, daß es mißachtet und auf ewig unglücklich sein werde. Brönner mochte das ahnen, er kam zu ihm, hob es freundlich auf, küßte es und redete gar fein und höflich, so daß das Vefele alles vergaß und in alles willigte: es wollte mit ihm nach Amerika auswandern, es wäre ihm in die Hölle gefolgt, so hatte er sein Herz und seine Sinne bestrickt.
Brönner hatte schon alles vorbereitet, das Vermögen Vefeles wurde zu Geld gemacht und, um zur Reise bequemer zu sein, in lauter Gold eingewechselt. Vefele hob es bei seiner Aussteuer auf.
Vefele und Brönner sollten in der Kirche verkündet werden; aber die Papiere Brönners, der aus dem Hohenlohischen gebürtig war, blieben immer aus. Da kam dieser eines Tages – Vefele stand in der Küche am Waschzuber – und er sagte: „Vefele, weißt du was, ich muß heim und die Papiere selber holen, unten ist ein guter Freund mit einer Chaise, ich habe gerade Gelegenheit, nach Tübingen zu fahren; dann laß ich auch für uns den Paß von dem Gesandten unterschreiben, und dann gehen wir noch den Herbst fort.“
„Lieber heut als morgen,“ sagte das Vefele.
„Apropos,“ sagte Brönner wieder, „ich habe jetzt gerade kein Geld, kannst du mir nicht was geben?“
„Da hast den Schlüssel,“ sagte Vefele, „hol dir droben; du weißt ja, wo’s liegt, links bei den neuen Hemden, die mit dem blauen Bändele zusammengebunden sind.“
Brönner ging hinauf und kam nach einer Weile wieder, Vefele trocknete an der Schürze die Hand und reichte ihm dieselbe, Brönners Hand zitterte. Vefele wollte ihm ein Stück Weges ?ausfolgen“; er bat es, da zu bleiben, und er rannte schnell die Treppe hinab. Es war Vefele traurig zu Mute, daß Brönner sich nicht einmal bis unter die Hausthür begleiten ließ, es glaubte, er schäme sich seiner vor seinem Freunde; es dachte darüber nach, wie das einst werden solle, und bittere Thränen tröpfelten in den Waschzuber. Dennoch ging es hinauf in seine Dachkammer und schaute zum Fenster hinaus, um die Kutsche noch mit den Blicken begleiten zu können. Wie erstaunte es aber, als es sah, daß die Kutsche nicht nach Tübingen, sondern den Weg nach Herrenberg fuhr. Es hatte schon den Mund geöffnet, es war ihm, als müßte oder könnte es ihnen zurufen, sie seien auf falschem Weg; da besann es sich, daß es sich wohl verhört, oder der Brönner sich versprochen haben möge.
Acht, vierzehn Tage waren vorüber, weder Brönner noch Nachricht von ihm kam. Vefele war oft betrübt in dem Gedanken, daß es sein ganzes Leben lang einem Manne hingegeben sein solle, der keinen rechten Respekt vor ihm hatte; es war nicht stolz, aber es dachte doch daran, wie jeder, und sogar der Schultheiß im Orte, sich hochgeehrt gefühlt hätte durch seine Hand. Oft aber dachte es wieder mit dem innigsten Entzücken an Brönner, und es bat ihn in Gedanken um Verzeihung für alle die herben Vorwürfe, die es ihm in seiner Seele gemacht hatte. Es stellte sich ihn ganz vor, wie er war, und da erschien er so herrlich und lieb, und es sah gar keinen Fehler mehr an ihm; denn so ist es immer: wenn wir von Menschen entfernt sind, die wir gern haben, sehen wir gar keinen Fehler und nur Tugenden an ihnen. – Hätte der Brönner nur eine Tugend gehabt!
Melchior fragte Vefele über das lange Ausbleiben Brönners, und es that, als wüßte es den Grund und wäre darüber beruhigt.
Eines Tages saß Vefele in trüben Gedanken in seiner Kammer; es hatte lange zum. Dachfenster hinausgeschaut, ob Brönner nicht komme, aber es sah nichts. Es wollte sich eine Freude machen und öffnete den Schrank, um die schöne Aussteuer zu betrachten, aber, o Himmel! da war alles so zerzaust, als ob Hexen darüber gewesen wären; es griff unwillkürlich nach dem Gelde, aber – das war fort. Es schrie laut auf und plötzlich, wie feurige Pfeile so schnell, flogen ihm die Gedanken durch die Seele: der falsche Weg, den Brönner gefahren . . das Zittern seiner Hand . . daß es ihm nicht ausfolgen durfte . . sein langes Ausbleiben – – Mit raschen Schritten sprang Vefele an das Dachfenster und wollte sich hinausstürzen; da faßte es eine Hand von hinten, es war Melchior, der auf den Schmerzensschrei herbeigeeilt war. Vefele warf sich auf die Kniee und erzählte händeringend seinem Bruder alles. Melchior raste und wütete, er wollte fort, alle Gerichte zu Hilfe rufen. Da fiel Vefele auf das Angesicht und erzählte ihm seine Schande; Melchior sank zu ihm nieder auf den Boden und weinte mit. Lange saßen die beiden Geschwister so auf dem Boden hart aneinander gelehnt, laut schluchzend, ohne ein Wort zu reden, ja beide scheuten sich fast, einander anzusehen. –
Wer die Menschen kennt und die Eigentümlichkeiten der Bauern insbesondere, der wird es wohl zu schätzen wissen, daß Melchior seiner Schwester Vefele nie den geringsten Vorwurf über ihren Fall machte; ja, er suchte, so viel er konnte, ihren niedergedrückten Lebensgeist wieder aufzurichten. Die meisten Menschen machen sich für ihre Teilnahme bei einem Mißgeschick oder einem Fehltritt gleich dadurch bezahlt, daß sie ihrem freundschaftlichen Aerger und ihren weisen Ermahnungen Luft machen. Das mag bei Kindern oder überhaupt bei solchen Menschen am Platze sein, die nicht wissen, was ihnen geschehen oder was sie gethan; bei Menschen aber, die den Pfeil wohl fühlen, der in ihre Brust gedrungen, ist es unvernünftig, wenn nicht grausam, den Pfeil noch um und um zu wühlen, statt ihn sogleich behutsam und zart herauszuziehen.
Melchior beratschlagte nun mit Vefele, was zu thun sei, und sie kamen überein, daß man vorerst keinen Lärm machen und alles im geheimen zu Ende führen müsse. Mit einer Entschiedenheit, als wäre er ein ganz andrer Mensch geworden, forderte Melchior seiner Frau Geld ab, und wenige Stunden darauf reiste er in seinem Wägelchen dem Brönner nach. Vefele wollte mit, es wollte fast verzweifeln, daß es zu Hause bleiben und nichts thun solle, als harren und weinen, aber Melchior redete ihm die Mitreise aufs liebevollste aus.
Tage und Wochen schmerzlichen Hinbrütens vergingen. Wer das Vefele früher gekannt hatte, wäre jetzt furchtbar erschrocken über die Veränderung seines ganzen Wesens. Es ließ sich aber vor niemand sehen, es lebte ein Leben ohne Willen, das kein eigentliches Leben war, es aß und trank, schlief und stand auf, aber es wußte und wollte von alledem nichts, es blickte immer drein wie eine Wahnsinnige. Auch weinen konnte es nicht mehr. All sein Denken, seine tiefste Seele war wie scheintot, wie lebendig begraben; es hörte die Welt draußen hantieren, es verstand sie wohl, aber sich selber konnte es nicht verständigen.
Als Melchior zurückkam, ohne eine Spur von Brönner entdeckt zu haben, hörte Vefele alles mit einem herzzerreißenden Stumpfsinn an, es schien auf alles gefaßt. Still, fast ohne ein Wort zu reden, lebte es dahin. Nur als es vernahm, daß Brönner mit Steckbriefen verfolgt wurde, jammerte es laut auf; es war ihm, als ob Millionen Zungen durch die Welt hin seinen Schmerz und seine Schande verkündeten, und doch – so weit geht die Liebe – weinte es fast mehr um Brönner, als um sich selber.
Bei alledem hatte das traurige Schicksal Vefeles noch nicht seine höchste Höhe erreicht. Als seine Schwägerin seinen Stand inne ward, steigerte sich ihre Hartherzigkeit zum empörendsten Grade, sie verfolgte und mißhandelte Vefele auf jede Weise. Das aber duldete still, es sah sich auserkoren, das größte Kreuz über sich zu nehmen, und es gehorchte ohne Murren; das Doppelleben in ihm schien es mit einer geistigen und körperlichen Kraft auszurüsten, die über jedes Ungemach unversehrt hinwegschritt. Als aber Vefele hörte, wie die Schwägerin dem Melchior Vorwürfe machte, und wie sie den Tag verwünschte, an dem sie in eine Familie eingetreten war, die einen solchen Schandfleck habe, da blutete das Herz der Unglücklichen tief. Sie, die Engelsmilde, sollte die Schande ihrer Familie sein! Alles ertrug sie, nur das, daß sie an dem Unglück und der Schande ihres Bruders schuld sein solle, das war zu viel!
Es ist jammervoll, daß fast lauter böse, in die Tracht schwarzer Leidenschaften gehüllte Menschen am Lebenswege Vefeles sich wie eine festgeschlossene Reihe aufgestellt hatten. Das verhinderte es auch, die guten, in den Lichtglanz des Edelsinns gehüllten Menschen zu erkennen, die sich nicht so leicht hindurchdrängen, weil es ihre stille Tugend so mit sich bringt, und weil sie auch erwarten dürfen, daß man sie doch herausfinde.
Vefele saß eines Tages weinend in der Küche auf dem Herde, da trat der Wendel ein und sagte:
„Müsset nicht greinen, ich hab’s Euch ja damals gesagt, es gibt noch rechtschaffene Bauersleut’ genug, wenn sie auch keinen Katzenbuckel machen können.“
Vefele sah mit thränenden Augen auf, über diese Rede befremdet; es antwortete aber nichts, und Wendel fuhr nach einer Weile fort:
„Ja, gucket mich nur an; was ich sag’, ist so wahr, wie wenn’s der Pfarrer von der Kanzel sagt.“ Er näherte sich Vefele und faßte dessen Hand, indem er weiter sagte: „Drum kurz und gut, ich weiß, wie’s mit Euch steht, aber Ihr seid doch braver als hundert andre, und wenn Ihr Ja saget, ist über vierzehn Tag unsre Hochzeit, und Euer Kind ist mein Kind.“
Vefele entzog ihm rasch die Hand und bedeckte sich damit die Augen, dann stand es auf und sagte glühenden Antlitzes: „Weißt du denn auch, daß ich bettelarm bin? Gelt, das hast du nicht gewußt?“
Wendel stand eine Weile still, Zorn und Mitleid kämpften in seinem Herzen wie auf seinem Angesichte, er schämte sich für das Vefele und für sich selber über diese Rede; endlich sagte er: „Ja, ich weiß alles; wenn du noch reich wärst, hätt’ ich mein Lebtag nichts gesagt; meine Mutter hat ein kleines Gütle, und ich hab’ mir auch ein Geldle gespart, und wir können ja schaffen und uns in Ehren durchbringen.“
Vefele faltete die Hände, hob die Blicke himmelwärts und sagte dann: „Verzeih mir’s, Wendel, aber ich hab’s nicht so schlecht gemeint, ich bin nicht so schlecht, aber die ganze Welt kommt mir so vor; verzeih mir’s, Wendel.“
„Nun, sagst du Ja?“ fragte dieser.
Vefele schüttelte den Kopf verneinend, und Wendel stampfte mit dem Fuße auf den Boden: „Warum denn nicht?“ fragte er.
„Ich kann nicht viel reden,“ sagte Vefele schwer atmend, „aber verzeih mir’s, ich kann nicht; Gott wird dir dein Herz gewiß noch belohnen, aber gelt, jetzt reden wir weiter kein Wort mehr davon?“
Der Wendel ging weg und sagte noch in derselben Stunde dem Melchior auf Martini den Dienst auf.
Endlich kam das äußerste Unglück über Vefele. Der Schultheiß des Orts hatte ihren Stand erfahren, und der hartherzige Mann ließ nun seinen alten verhaltenen Grimm aus; er ließ Vefele durch den Dorfschützen sagen, es müsse das Dorf verlassen und nach seinem Geburtsort zurückkehren, da sonst das Kind, wenn es hier geboren würde, Heimatsrechte ansprechen könnte.
Vefele duldete es nicht, daß man Schritte gegen diese Grausamkeit that, und in einer stürmischen Herbstnacht bestieg es mit Wendel das Wägelchen und fuhr nach Seedorf. Wendel suchte es auf dem Wege zu trösten, so gut er konnte; er sagte, daß er sich jeden Tag darüber gräme, daß er nicht, wie er oft vorgehabt habe, den Brönner einmal die Bildechinger Steige hinabgeworfen habe, damit er Hals und Bein breche. Vefele schien fast froh, als es in Seedorf kein Unterkommen fand. Wendel bat und beschwor es, mit ihm zu seiner Mutter nach Bondorf zu gehen; aber es gab auf alle seine Bitten kein Gehör, schickte ihn des andern Morgens nach Hause und wanderte zu Fuß fort, wie es sagte, nach Tübingen. Das Mohrle war auch mit gewesen, es wollte sich von Vefele nicht trennen lassen, und der Wendel mußte den Hund mit einem Seile unter dem Wägelchen anbinden.
Der Wind jagte den Regen, der Boden war so schlüpfrig, daß man bei jedem Schritte ausglitt, als Vefele den Weg nach Rottenburg einschlug. Es war städtisch gekleidet und hatte ein hellrotes Halstuch um, unter dem Arme trug es ein kleines Bündel. Ein altes Lied, das es fast ganz vergessen hatte, tauchte plötzlich in seiner Erinnerung auf; es war das Lied von der betrogenen Grafentochter. Ohne den Mund zu öffnen, wiederholte es oft innerlich den Vers:
Weinst du um dein Vatergut,
Oder weinst du um dein’ stolzen Mut?
Oder weinst du um dein junges Blut?
Oder weinst du um deine Ehr? Ja Ehr?
Die findst du nimmermehr.
Kaum einige hundert Schritte war Vefele von Seedorf entfernt, als plötzlich etwas an ihm hinaufsprang. Es fuhr erschreckt zusammen, aber sein Antlitz war schnell wieder freundlich, es war Mohrle; der Hund trug einen Seilstumpf, den er abgebissen hatte, am Halse, er gebärdete sich ganz wie selig und wollte sich gar nicht beruhigen lassen.
Der Sturm war so heftig, daß es war, wie wenn man ganz hart an dem Ohre zwei Steine aufeinander schlüge, und als ob um und um unfaßbare rauschende Gewänder einen umstrickten und zu ersticken suchten. Vefele ging mühsam weiter, und plötzlich – ohne daß es wußte, warum oder wie – kam ihm der Gedanke, daß Brönner jetzt auf dem Meere sei. Es hatte in seinem Leben nur einmal eine bildliche Darstellung des Sturmes im Evangelium gesehen; aber jetzt sah es ihn leibhaftig vor sich, es selbst war mitten drin: es sah die häuserhohen dunkeln Wellen, sah das Schiff, wie es auf und nieder geschnellt wurde, und oben stand der Brönner und streckte jammernd die Arme empor. Da! wehe! Vefele streckte ebenfalls die Arme empor, sein Mund öffnete sich, aber der Schrei erstarb ihm auf der Zunge, es sah den Brönner hinabstürzen in das Meer, und eine Welle begrub ihn. Vefele ließ die Arme sinken, sein Haupt neigte sich, seine Hände falteten sich, und es betete für die arme Seele des Verlorenen. So stand es eine Weile, in seinem Innersten sah es: Brönner war in dieser Minute gestorben. Dann richtete es seufzend das Haupt wieder empor, es hob das Bündel auf, das ihm entfallen war, und schritt durch Sturm und Regen wieder fürbaß.
Auf der Anhöhe, wo der Weg umbiegt und das Städtchen Rottenburg vor den Blicken liegt, steht eine Kapelle. Vefele trat hinein und betete lange und inbrünstig vor der Mutter Gottes. Als es wieder aus der Kapelle trat, sah es die weite Ebene vor sich fast wie einen See; der Neckar war übergetreten. Vefele ging außen an der Stadt herum, Hirschau zu. Hier traf es plötzlich einen alten Bekannten, den auch uns noch wohl erinnerlichen Marem; er trug einen Quersack auf dem Rücken und führte eine Kuh am Seile, er ging ebenfalls nach Hirschau. Wer sollte es glauben, daß Marem ein Mitgefühl mit dem Schicksale Vefeles hatte, das ihm Thränen auspreßte? Und doch war es so. Nehmt einen Dorfjuden und einen Bauern von gleicher Bildungsstufe, ihr werdet jenen verschmitzter, auf seinen Vorteil bedachter und scheinbar kälter finden; aber bei jedem rein menschlichen Elend werdet ihr meist eine Wärme und Zartheit des Mitgefühls in ihm entdecken, die ihn weit über sein sonstiges Sein hinaushebt. Sein Schicksal hat ihn für manche andre Weltbeziehung abgestumpft, aber ihn auch zum teilnehmenden Bruder jedes rein menschlichen Schmerzes gemacht.
Marem bot alles auf, um Vefele von seinem Wege zurückzubringen, er bot ihm sein eigenes Haus als Unterkommen an, ja, er wollte ihm sogar Geld aufdringen. Vefele lehnte alles ab. In Hirschau kehrten die beiden ein. Marem ließ dem Vefele eine gute Suppe kochen, aber es stand gleich, nachdem es den ersten Löffel voll genommen, wieder auf, um weiter zu gehen. Marem wollte den Hund bei sich behalten, aber Vefele ließ das treue Tier nicht, es schied mit einem: „Vergelt’s Euch Gott!“ –
Eine Stunde später ging Marem, nachdem er seine Kuh verkauft hatte, ebenfalls nach Tübingen. Nicht weit von Hirschau sprang ihm das Mohrle entgegen, es trug ein rotes Halstuch im Maul. Marem wurde blaß vor Schrecken, das Mohrle sprang ihm nun voraus und er nach. Sie kamen an eine Stelle, wo das Wasser über die Straße getreten war; der Hund sprang hinein, er schwamm immer weiter, immer weiter, bis er endlich aus den Augen verschwand. – –
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 1