Man irrt sich gar gewaltig, wenn man glaubt, auf dem Lande da könne man ...

2. Man irrt sich gar gewaltig, wenn man glaubt, auf dem Lande da könne man ganz ungestört allein für sich leben. Das kann man nur in einer großen Stadt, wo die Menschen sich nicht umeinander kümmern, wo einer an dem andern täglich vorübergeht, ohne zu wissen, wer er ist, was er thut und treibt, wo man ohne Gruß, ja fast ohne Blick vor einem Menschen vorbeirennt, als ob er ein Stein, und nicht, als ob er ein Mensch wäre. Aus dem Lande, in einem Dorfe aber, wo die kleine Anzahl der Einwohner sich kennt, muß man gewissermaßen von seinem Thun und Treiben einem jeden Rechenschaft geben, man kann sich nicht selbstgenügsam abschließen. – Im Schwarzwalde ändert sich der Gruß je nach dem öffentlichen Thun: gehst du den Berg hinab, so sagt dir der Begegnende: „Weant (wollt) Ihr au do ‘na?“ Den Berg hinauf: „Weant Ihr au do ‘nuf?“ Ladest du etwas auf den Wagen, so heißt es: „Ueberladet et“; oder: „Ueberschaffet Eu et.“ Sitzest du ausruhend vor deinem Hause oder auf einem Feldraine: „Weant Ihr au g’ruawe (ruhen)?“ oder: „Hent (habt) Ihr Feierobed?“ Plauderst du mit andern, so sagt der Vorübergehende: „Hent ihr guate Rot?“ u. s. w.

In dieser ausgesprochenen Teilnahme an dem Thun und Lassen des andern liegt eine gewisse sinnige Gemeinschaft des Lebens, die sich über alles ausbreitet; aber auch hier fehlen die Schattenseiten nicht. Will einer aus besonderen Gründen sein Leben so einrichten, daß es gegen die allgemeinen Sitten und Gewohnheiten verstößt, so ist er dem Widerstreben und dem Spotte aller ausgesetzt; namentlich ist ein alter Junggeselle oder eine alte Jungfer die Zielscheibe des Straßenwitzes, gleichviel, ob sie aus Armut oder aus irgend einem andern Grunde im ledigen Stande verharren.


Je mehr sich nun Vefele der trübseligen Altjungferzeit näherte, um so mehr erlaubte man sich, das „Schloßfräle“ zu necken und zu verhöhnen. Einmal, an einem Sonntage, ging Vefele durch das Dorf. Vor dem Rathause stand ein „Rädchen“ junger Bursche; der Tralle, ein halbstummer Dorftölpel, stand nicht weit davon. Als sie nun das Vefele bemerkten, da rief einer: „Tralle, da kommt dein’ Hochzeiterin.“ Der Tralle grinste fröhlich. Sie ermutigten, hetzten und stießen ihn nun, er solle seine Braut am Arme nehmen; das Vefele hörte es und glaubte, es müsse vor Scham und Aerger in den Boden sinken. Schon stolperte der Tralle zu ihm her und faßte es mit grinsenden, verzerrten Mienen am Arme; Vefele erhob seinen Blick so jammernd und vorwurfsvoll nach den Burschen, daß wirklich einer derselben versucht war, ihm beizustehen. Man hörte nicht, was er sprach, denn die Burschen lachten überlaut. Da kam dem Vefele unversehens Hilfe. Der Hund, das Mohrle, der ihm gefolgt war, sprang plötzlich auf den Rücken des Tralle, faßte ihn am Kragen und riß ihn zu Boden. Vefele hatte nur zu thun, den Hund wieder von seiner Beute loszumachen, dann ging es schnell seines Weges fort. Das Mohrle war fortan eine gefürchtete Macht im Dorfe. Dieser Vorfall betrübte das Vefele sehr, und die Abneigung gegen das Bauernwesen bestärkte sich immer mehr in ihm.

Vefele war auf einige Wochen zum Besuche bei Melchior in Ergenzingen; auch hier war es oft betrübt, denn der Melchior hatte eine hartherzige, geizige Frau, bei der er kaum satt zu essen bekam.

Der Schultheiß von Ergenzingen, ein Witwer mit drei Kindern, kam oft zum Melchior, und eines Tages freite er um Vefele. Vefele war fast entschlossen, dem Antrag zu willfahren; es hatte zwar keine Neigung zu dem Schultheißen, aber das einsame Leben war ihm verleidet, und dann erfreute es sich an dem Gedanken, den mutterlosen Kindern eine freundlich liebende Mutter zu sein. Da kam der Schloßbauer und stellte seinem Kinde vor, daß der Schultheiß ein Grobian sei, der seine erste Frau hart gehalten habe, und dann sagte er wieder, daß für Vefele nur ein feiner Mann passe. Der Schultheiß erhielt eine abschlägige Antwort. Sein Antrag war aber im Flecken bekannt geworden; die jungen Burschen, die dem strengen Mann gern einen Streich spielten, streuten ihm des Nachts Spreu von seinem Hause bis zu dem Hause Melchiors. Der Schultheiß faßte fortan einen besonderen Haß gegen Melchior und Vefele, dieses aber zog mit seinem Vater wieder nach Haus in die Einsamkeit.

Hätte nur Vefele seiner eigenen Eingebung gefolgt und den Schultheißen geheiratet! Aber es war bestimmt, es sollte sein trauriges Schicksal erfüllen.

Das Leben des Schloßbauern schien früher enden zu wollen als sein Prozeß. Der einst so starke Mann kränkelte und siechte; der lange verhaltene Gram und Aerger hatten wie ein Wurm seinen Lebenskern angefressen. Oft halbe Tage saß er in seinem großen Lehnstuhle und redete kein Wort, nur bisweilen murmelte er ein paar unverständliche Laute mit seinem Hunde Mohrle, der, den Kopf auf seines Herrn Schoß gelegt, mit treuen Augen nach ihm aufschaute.

Vefele konnte nicht immer um den Vater sein, und jetzt in seiner Krankheit fühlte er doppelt und dreifach, wie vereinsamt und abgeschnitten er von aller Welt war. Gerade wie es vielen Menschen ergeht, die, solange sie gesund und glücklich sind, oft von Gott verlassen so in den Tag hineinleben, wenn aber Krankheit und Unglück über sie kommen, um so schmerzlicher nach Gott, ja sogar oft nach dem falschen Gott des Aberglaubens ringen; so erging es in andrer Weise dem Schloßbauern. Er hatte, solange er gesund war, von den Menschen verlassen gelebt und sich wenig darum bekümmert; jetzt wäre es ihm überaus lieb gewesen, wenn irgend einer, wer es auch sei, mit ihm seine warme Stube geteilt hätte, und wenn sie sich gegenseitig nur hätten eine Prise Tabak bieten können. Der Schloßbauer legte sich in das Fenster und schaute hinaus, er hustete, wenn einer vorüberging; aber niemand grüßte, niemand kam. Er machte dann immer wieder mißmutig das Fenster zu.

Es war zwei Tage vor Neujahr, Vefele war mit der Magd am Rathausbrunnen, um Wasser zu holen; es zwang sich absichtlich zu dieser groben Arbeit, weil es gehört hatte, daß die Leute im Dorfe sagten, es schäme sich einer solchen. Eben hatte es seinen Kübel voll gepumpt, da sagte die Magd: „Guck, der do mit den doppelten Augen, des ist g’wiß der neue Feldscherer.“ Ein modisch gekleideter Herr kam das Dorf herab, er trug eine Brille auf der Nase. Just als er an den beiden Mädchen vorüberging, nahm Vefele das Wasser auf den Kopf, aber durch einen unglücklichen Tritt glitt es auf dem Glatteise aus, fiel auf den Boden und ward ganz durchnäßt. Als Vefele sich wieder aufrichtete, stand der fremde Herr bei ihm, er reichte ihm die Hand und hob es auf, dann fragte er teilnehmend, ob es sich keinen Schaden gethan, es wäre gar gefährlich gefallen. Es lag so was Gutes in dem Ton seiner Worte, daß dem Vefele plötzlich gar wunderlich zu Mute wurde; es dankte herzlich und sagte, daß es sich nichts gethan; es ging weiter, der Fremde ging neben ihm. „Ei, Sie hinken ja!“ sagte der Fremde wieder, „haben Sie sich den Fuß verrenkt?“

„Nein, ich hab’ einen kurzen Fuß,“ sagte Vefele, und trotzdem, daß es an allen Gliedern fror, schoß ihm doch das Blut siedendheiß ins Gesicht. Es bedeckte sich mit der Schürze das Gesicht und that, als ob es sich abtrocknen wollte, und doch war die Schürze ganz durchnäßt. Der Fremde bemerkte nun, daß es kaum merklich hinke; Vefele lächelte halb ungläubig, halb geschmeichelt darüber. Es war Vefele ganz eigen zu Mute, daß der Fremde immer so neben ihm herging durch das ganze Dorf bis zu seinem Hause; aber auch dort trat er mit einigen Entschuldigungsworten ein, ohne eine Antwort darauf abzuwarten. Das Mohrle aber sprang plötzlich auf den Fremden los und hätte ihn gewiß niedergerissen, wenn nicht der herbeigekommene Schloßbauer und das Vefele mit aller Macht abgewehrt hätten. Der Fremde verordnete nun für Vefele mancherlei Vorkehrungen gegen Erkältung, es mußte sich ins Bett legen und Thee trinken.

Mittlerweile saß nun der Fremde, oder wie er eigentlich hieß, Eduard Brönner, bei dem Schloßbauern und plauderte behaglich mit ihm; kaum eine Stunde war vorüber, so hatte er die ganze Geschichte des Schloßbauern erfahren. Dieser gewann den Herrn Chirurgus Brönner schnell lieb, sprach aber soviel von der Brille und fragte mehrmals, ob er diese immer nötig habe, daß Brönner wohl merkte, dieses Gelehrteninstrument war ihm unangenehm. Er nahm daher die Brille ab, und der Schloßbauer nickte ihm dafür freundlich zu, indem er sogleich bemerkte, daß er viel offener mit einem sprechen könne, der sein Augenlicht nicht in einer Laterne stecken habe. Nun klagte er auch sein körperliches Leid; Brönner machte eine gar wichtige Miene und sagte: er wäre bis jetzt durchaus falsch behandelt worden, und verschrieb ein unfehlbares Mittel.

Brönner kam von dieser Zeit an fast jeden Tag in des Schloßbauern Haus. Jedes freute sich, wenn er kam, nur das Mohrle behielt seine Abneigung; es gab keinen Worten mehr Gehör, sondern mußte jedesmal angebunden werden, wenn Brönner da war. Eines Tages, als Brönner wegging, warf er unversehens dem Hund ein Stück Brot hin, aber der Hund ließ das Brot liegen und sprang nach dem Geber, als ob er ihn zerreißen wollte, und das Sprichwort: „kein Hund nimmt ein Stück Brot von ihm,“ bewährte sich an Brönner buchstäblich.

Vefele aber nahm um so mehr die Schmeicheleien und schönen Reden Brönners an. Es zankte gar gewaltig mit der Magd, welche behauptete, der Brönner habe nur einen Rock, denn er käme Sonntags und Werktags in demselben; es schalt das Mädchen dumm und erklärte, daß das bei den Herrenleuten so wäre. Vefele saß oft dabei, wenn Brönner mit dem Vater über allerlei sprach, und es freute sich jedesmal, wenn dem Vater die Ansichten Brönners gefielen und er sie gescheit nannte, wie wenn es selber das gesagt hätte. Der Schloßbauer fühlte sich auf das von Brönner verordnete Mittel zufällig etwas besser, und nun sprach dieser oft davon, daß er eigentlich ein besserer Doktor sei, als der Physikus, daß aber das Gesetz ihm die Ausübung verbiete. Er schalt dann auf die Herren, die da meinen, nur einer, der viel Bücher im Kopfe habe, wäre gescheit; die „Praxi“ (wie er es nannte) mache den Meister; ein Bauer, der die Welt kennt, verstände oft mehr von der Regierung, als alle Minister und Landvögte, und so sei es auch meistens bei der Medizin, die „Praxi“ mache den Meister. Indem er nun so, zufällig oder absichtlich, Wahres und Falsches untereinander mischte, gewann er die Neigung des Schloßbauern, der sich in seinen Lieblingsansichten immer mehr bestärkt sah. – Auch des Prozesses nahm sich Brönner an; er bekräftigte den Schloßbauer in seinem Vorsatze, nun endlich auch wie seine Gegenpartei zur Bestechung seine Zuflucht zu nehmen. Brönner hatte den gescheiten Gedanken, daß man seine Gegenpartei übertreffen und Gold geben solle.

Damals in der „guten alten Zeit“ konnte kein Rechtshandel ohne „Schmierale“ fertig werden, und die Beamten nahmen dies ohne Scheu an.

Als Brönner eines Abends aus des Schloßbauern Haus wegging, gab ihm Vefele das Geleite bis unter die Thür; da standen sie noch eine Weile bei einander. Brönner faßte die Hand Vefeles und sagte: „ Parole d’honneur, Vefele, Sie sind ein liebes Mädchen und gar nicht wie ein Bauernmädchen. Sie sind auch viel zu fein für ein Bauernmädchen, parole d’honneur, und haben so viel Verstand, wie irgend eine in der Stadt.“

Vefele sagte zwar, er wolle es nur foppen, aber innerlich gab es ihm doch recht. Er küßte dann die Hand Vefeles und nahm Abschied, indem er höflich seinen Hut vor ihm abzog. Vefele stand noch lange unter der Thür und blickte gedankenvoll drein, ein heiteres Lächeln schwebte auf seinem Antlitze; die höfliche und doch so gutherzige Art Brönners hatte ihm gar wohl gefallen. Dann ging es singend die Treppe hinauf, und als es die große Suppenschüssel fallen ließ, lachte es überlaut. Es kam ihm heute abend alles so lustig vor, daß es keine trübe Miene machen konnte, es ging noch spät in den Keller und holte den Knechten heimlich eine Flasche Obstwein; sie sollten auch einmal mitten in der Woche vergnügt sein.

Das Verhältnis zwischen Brönner und Vefele ging nun in Riesenschritten vorwärts.

Ein neues, durch das lange Harren fast unerwartetes Ereignis brachte frische Lust und Freude in des Schloßbauern Haus; die Nachricht war angekommen: er hatte endlich seinen Prozeß gewonnen. Die Gegenpartei war in Rottenburg gewesen, und der Landvogt hatte ihnen offen und doch verblümt gesagt: „Des Schloßbauern Füchsle haben eure Schimmele überritten.“ Trotzdem der Schloßbauer nicht ausgehen konnte, zog er doch sein Sonntagskleid an und saß vergnügt in seinem Stuhle und schüttete dem Mohrle einen ganzen Hafen Milch in seine Morgensuppe. Er schickte sogleich Boten nach Melchior und Agathle, sie sollten kommen und sich mit ihm freuen; man sagte ihm nicht, daß Agathle todkrank darniederliege. Auch nach Brönner wurde geschickt, und dieser war der einzige, der zum Schmause kam. Der Schloßbauer saß bis tief in die Nacht hinein und trank und lachte und scherzte, manchmal wurde er auch trüb; er wünschte sich nur, daß seine „Alte“ das auch noch miterlebt hätte, und er trank ein volles Glas zu ihrem Andenken. Man mußte den Ueberfröhlichen, der schon auf dem Stuhle halb eingeschlafen war, endlich zu Bette bringen.

Es war schon spät, als auch Brönner sich zum Fortgehen anschickte; Vefele leuchtete ihm hinab, sie waren beide hocherregt und küßten sich heftig. Auf sein Bitten und Betteln sagte nun Vefele ganz laut: „gut Nacht“; Brönner that desgleichen, er nahm den Hausschlüssel, schloß die Thür auf, schlug sie heftig zu und verschloß wieder. Aber er war nicht hinausgegangen, sondern er schlich sich hinauf in das Kämmerlein Vefeles. Niemand im Hause merkte etwas davon, nur das Mohrle, das im Hofe angebunden war, bellte unaufhörlich die ganze Nacht, wie wenn ein Dieb ins Haus gedrungen wäre.

In derselben Nacht teilte sich der Engel des Lebens und der Engel des Todes in die Herrschaft des einen Hauses; am andern Morgen fand man den Schloßbauer, vom Schlage gerührt, tot in seinem Bette.

Niemand ahnte, warum das Vefele bei der Leiche des Vaters wie wahnsinnig raste und sich gar nicht wollte beruhigen lassen; es war sonst immer so verständig und besonnen, und jetzt wollte es gar keine Vernunft annehmen.

Das Schloßgut wurde nun wieder von einem Baron angekauft, und die Bauern bezahlten nach wie vor ohne Widerrede die alten Herrenabgaben.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 1