Vierundzwanzigstes Capitel. - Aristokratismus des Geistes - Im Reiche der französischen Kunst und Wissenschaft herrschen altes Herkommen, Geburtsrang, Gewohnheitsrecht, Etikette und schnurgerader Anstand unbestritten und ungeneckt....

XXIV. Aristokratismus des Geistes

Der Franzose von heute (traue ein anderer diesem Schillertaffet!) wird nicht müde, die Vorrechte oder Anmaßungen jeglicher politischen Aristokratie mit Haß zu bekämpfen, wo er sie findet, mit Spott zu verfolgen, wo er sie sucht. Daß er aber in Verhältnissen, die den Menschen so viel näher angehen wie die bürgerlichen, als der Rock ihn enger umschließt wie die Stadtmauer; daß er in seinem geistigen Leben einer Aristokratie unterworfen ist, die ihn ganz unbarmherzig hudelt – davon hat unser freiheitsliebender Franzose nicht die leiseste Ahnung. Im Reiche der französischen Kunst und Wissenschaft herrschen altes Herkommen, Geburtsrang, Gewohnheitsrecht, Etikette und schnurgerader Anstand unbestritten und ungeneckt. Jeder Grundsatz, wird nach seinem Wappen, jede Kunstregel nach ihrer Familie gefragt, ob sie von Corneille, von Boileau, von Voltaire herstammen, und haben sie nichts als ihren selbsteignen angebornen Wert, werden sie mit Naserümpfen abgewiesen. Man lese ihre neuesten Tragödien – da ist noch ganz der bestäubte Kanzleistil der Empfindungen, in dem vor zwei Jahrhunderten gedichtet worden. Vergebens haben ihre Bühnenhelden Titusköpfe, sie bewegen das Haupt noch immer so musterhaft und schwer als früher, da eine Allongeperücke auf ihm lastete. Vergebens schweben ihre verliebten Schönen im griechischen Gewande über die Bretter; das Schleppkleid, die Schnürbrust, den Reifrock der Frau von Pompadour – man sieht sie nicht mehr, aber man hört sie. Die Sprüche ihrer Weisheit, die Blitzworte ihrer Leidenschaft – sie sind wie Schönheitspflästerchen angebracht und geordnet. Der Geschmack ist ihr Despot, vor dem sie kriechen. Man lese ihre Werke über Gott und Menschheit; euer Geist fordert Brot, und man gibt ihm gepeitschte Sahne. Noch immer glauben sie, es zieme einem Edelmanne, nur den Perlenschaum der Philosophie abzuschlürfen, und es sei kleinbürgerlich, den Becher bis auf den Boden zu leeren. Man betrachte die besten ihrer neuen Bildwerke und Malereien – diese theatralischen Stellungen, diese Koketterie, diese Galafarben, diese geschnörkelten Faltenwürfe, diese frisierten Haare – es ist ganz der alte Hofpomp von Versailles. Wer ist der große junge Mensch auf dem Schlachtgemälde dort, der sich für den ersten hält, weil er vorn steht, der sich spreizt wie ein Bühnenkönig und dem Tode gegenüber den Fechtboden nicht vergißt? Ist es der Tambourmajor der alten französischen Kaisergarde? Nein, es ist Romulus, und David hat ihn gemalt!


Das, was man an Künstlern und ihren Werken als manieriert tadelt – die unverzeihlichste aller Geistessünden, weil das Verderben, das sie anstiftet, nicht wie bei Shakespeare, Beethoven und den altdeutschen Malern, ein Austreten des Genius, sondern dessen Dürre zum Grunde hat – dieses manierierte Wesen durchfröstelt die Franzosen vom Scheitel bis zur Zehe. Sie mögen reden, dichten, malen, Musik machen und dieses mit aller ihnen möglichen Herzlichkeit – man wird Wärme spüren, aber es ist keine Sonnenwärme, es ist Ofenfeuer; man wird die Natur erkennen, aber eine verkünstelte; man wird finden, was in ihren Gärten alter Art: die Häusern gleichen ohne Dächer, deren Gebälke man in die Erde gewurzelt und deren Wände man statt mit Backsteinen mit Laub ausgefüllt und statt mit Mörtel mit Blumen verklebt hat. Es mußte so kommen! Seit Franz I. haben die französischen Könige und ihre Hofleute die Wissenschaften und Künste begünstigt, und diese suchten, wie alle Günstlinge, ihre Gunst durch dieselben Mittel zu erhalten, wodurch sie sie erworben: durch Gefälligkeit gegen die Grundsätze, Neigungen, Leidenschaften und Launen ihrer Beschützer. Dieses hat sich durch die Revolution nicht geändert. Noch immer beherrscht der Hof Frankreichs Geister, nur daß dieser Hof größer geworden ist, daß ihn, wie sonst die Gitter der Tuilerien, jetzt die Mauern von Paris umschließen. Die Aristokratie der Hauptstadt läßt in Frankreich keine Geistesfreiheit aufkommen. Wer Talent hat, kommt nach Paris, es dort zu Grunde zu richten. Da hier das geistige Leben sehr teuer ist, muß man, um alles zu genießen, sein Kapital angreifen. Da der wohlverdienteste Ruhm sich nach acht Tagen verjährt und jeder vergessen ist, von dem man eine Woche nicht gesprochen, muß der geistreiche Mensch seinen Schatz zu Goldschlägerblättchen dünn schlagen, um die Oberfläche einer Lebenszeit damit bedecken zu können. Wie kann da Fortbildung stattfinden? Alle Werke der französischen Wissenschaft und Kunst werden in dem einzigen Paris nicht allein hervorgebracht, sondern auch beurteilt, so daß sich Richter und Partei in einer Persönlichkeit vereinigen – wie kann da Belehrung stattfinden? Aber den unseligsten Einfluß auf Kunst und Wissenschaft üben die politischen Parteien aus. Diese Parteien rekrutieren sich, wie sich sonst die Heere rekrutierten. Nach den Gaben, der Stärke und Sittlichkeit der Soldaten wird nicht gefragt; wer fähig ist eine Flinte zu tragen und sie gegen den Feind loszuknallen, wird angeworben. Daß jede Partei die Schriftsteller und Künstler der ihr gegenüberstehenden herabsetzt, das versteht sich von selbst und schadet nicht viel; denn unverdienter Tadel ist mehr geeignet, aufzumuntern als niederzuschlagen. Das Verderbliche ist darin, daß jede Partei die Werke der Künstler und Schriftsteller, die unter ihrer Fahne streiten, unverdient lobt.

Was sich die Ultras hierbei zu Schulden kommen lassen, braucht nicht gerügt zu werden; denn diese Partei ist so alt wie die Welt, und ihre Fehler sind zu tief gewurzelt, als daß sie geheilt werden könnten. Aber der liberalen Partei, die noch jung ist und deren Schwächen neu sind, muß man diese vorhalten. Sie sollte wissen, daß es ihr Zweck sein muß, dem Geistigen die Herrschaft über das Materielle, dem frischen Leben die über das eingemachte und dem Naturrechte die über das Gesetz alter Pergamente zu erkämpfen, und daß daher der Sieg schon halb errungen ist, wenn sie den Feind dahin gebracht, mit den Waffen des Geistes zu fechten. Warum also die Künstler und Schriftsteller, die auf der Seite der Ultras stehen, herabsetzen? Da sie mit dem Geiste streiten, streiten sie auch für den Geist, für die Wahrheit also, sie mögen es wissen oder nicht, sie mögen es wollen oder nicht – gleichviel. Der andre Fehler, den die Liberalen begehen, ist der schon gerügte, daß sie alle ihre streitbaren Talente in der Hauptstadt zusammenhäufen, daß sie, statt gegen die Aristokraten einen Guerillaskrieg zu führen, regelmäßige Schlachten wagen, die, wenn sie sie verlieren, dem Feinde ganz Frankreich öffnen.

Es ist zu wiederholen: die Franzosen sind einseitig, und dieser Fehler tritt gegenwärtig um so stärker her vor, gerade weil sie sich bemühen, sich davon frei zu machen. Die Sprache, diese Kleidung des Geistes, ist ihnen zu frühe angemessen und gefertigt worden, und da sie täglich wachsen und vollkommner werden, werden sie bald kein Glied mehr bewegen können. Hätten sie statt Ludwig XVI. ihr Wörterbuch der Akademie entthront, so würden sie zwar langsamere Fortschritte, aber auch keine Rückschritte in der Freiheit gemacht haben.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schilderungen aus Paris.