Fünfundzwanzigstes Capitel. - Die englische Schauspielergesellschaft - Der Einfall eines englischen Schauspielertrupps in das Gebiet der französischen Eitelkeit war seit vierzehn Tagen angekündigt. ...

XXV. Die englische Schauspielergesellschaft

Der Einfall eines englischen Schauspielertrupps in das Gebiet der französischen Eitelkeit war seit vierzehn Tagen angekündigt. „Nous verrons“, sagte der Miroir. Das war kurz und deutlich; denn dieses Blatt, eines der schlauen Kammermädchen der öffentlichen Meinung, weiß von allen Geheimnissen ihrer Gebieterin. Zwar machte es später ein gar frommes Taubengesicht und sagte: Freilich müsse jeder brave Franzose die Engländer hassen, aber Künstler hätten kein Vaterland, und eine Vergleichung zwischen den französischen und englischen Schauspielern müsse ja allen erwünscht sein, da nicht zu zweifeln wäre, wie sie ausfallen würde; man möge also so gut sein und sich ruhig verhalten. Aber dieser dünne Schleier der Heuchelei ließ Wunsch und Erwartung durchleuchten, man werde die englischen Schauspieler mit Händen und Füßen zurückweisen und ihnen die Schlacht von Waterloo mit dicker Kreide anschreiben. – Und es geschah.


Die Englischen hatten mit dem Théatre de la Porte St. Martin einen Vertrag auf sechs Vorstellungen abgeschlossen. Die erste Aufführung wurde am 31. Juli mit folgenden Worten angekündigt: „By his Britannic Majesty's most humble servants will be performed the tragedy of Othello in 5 acts by the most celebrated Shakespeare.“ Diese marktschreierischen Superlative taten der Meinung von den guten Fähigkeiten der Schauspieler gerade keinen Abbruch; denn nicht die Eifersucht des Othello, die der Franzosen zu sehen war jedermann gespannt. Das Gedränge vor dem Hause war unbeschreiblich, und das Heer von Gendarmen zu Pferd und zu Fuß, das groß genug gewesen wäre, die Hinrichtung eines Cartouche zu decken, vermochte diesmal nicht die polizeiübliche Ordnung zu erhalten. Da fand ich Gelegenheit, die gute Laune und Liebenswürdigkeit der Franzosen zu beobachten. Jeder strengte sich mit Händen und Worten an, sich Luft zu machen durch das Gewühl, um an die Türe zu kommen, aber die Rippenstöße wurden mit Tänzergrazie empfangen und ausgeteilt, und die gesprochenen Grobheiten waren wie in Musik gesetzt. Endlich ward auch ich in das Haus geflutet und im Orchester hart neben dem Souffleurkasten ausgeworfen. Die Vorsehung hatte mir diesen Platz angewiesen, denn ich war von ihr bestimmt, am heutigen Tage eine der ersten Rollen zu spielen.

Das Haus war kaum angefüllt, als sogleich das Schauspiel begann; nicht das Schauspiel, welches die Schauspieler, (der Vorhang war noch nicht aufgezogen) sondern das, welches die Zuschauer gaben. Man übte sich im Schreien, im Pfeifen, im Quieken, im Pochen, im Singen und in allen übrigen akustischen Waffen, mit welchen man die Engländer zurückzuschlagen gedachte. Ein frommes deutsches Ohr, wie das meinige, von der zartesten Kindheit an gewohnt, vor dem Gebote jedes Polizeidieners erschrocken zurückzufahren, war ganz erstaunt zu hören, daß man sich in Gegenwart der Gendarmen so viel herauszunehmen wagte. Diese aber bewegten sich nicht und ließen gewähren. Als der Lärm recht unbändig wurde, hörte man aus einer Loge des ersten Ranges mit lauter Stimme „la Canaille“ rufen. Da ward das wütende Geschrei noch allgemeiner und stärker. „A la porte, à la porte, Martainville!“ riefen mehr als tausend Stimmen. Dieser Söldling der Aristokratie, der bekannte Herausgeber des Drapeau blanc war es, welcher jenes kecke Wort zu rufen wagte. Martainville wollte groß und stolz, wie ein alter Römer, das Pöbelgeschrei verachten; er zog die Achseln und blieb. Aber er war kein Römer, und die, welche schrien, gehörten nicht zum Pöbel. Das ganze Parterre, alle Logen vereinigten sich, diese Gelegenheit einer verdienten Abzüchtigung nicht vorübergehen zu lassen, und man bestand auf der Entfernung des verachteten und gehaßten Mannes. Ein Handschuh wurde ihm ins Gesicht geworfen; er mußte weichen. Jauchzen und Beifallsklatschen im ganzen Hause. Jetzt erhob sich der Vorhang, Jago trat auf. Kaum den Mund geöffnet, und allgemeines Nachspotten der breiten und zähen englischen Worte und unaufhörliches Gelächter. In der Hölle, während dem Karneval, kann der Lärm nicht größer sein. Auch ohne Bosheit lief es nicht ab, und Eier, Obst, Sousstücke flogen auf die Bühne und an die Köpfe der Schauspieler. Diese aber zeigten eine unerschütterliche Festigkeit und spielten fort, als herrschte die aufmerksamste Stille. Man hörte nicht ein einziges Wort, Othello wurde als Pantomime gespielt. Ich bemerkte nur sehr wenige Zuschauer, welche die Partei der Engländer nahmen. Denn wer auch an der Störung keinen tätigen Anteil nahm, erfreute sich doch dieses bürgerlichen Schauspiels, das hier mit so vieler Natur aufgeführt wurde. Ein junger sauberer Mensch, der neben mir saß, war einer der wenigen, die an dem Unfuge ihren Ärger hatten. Er hatte den englischen Othello mitgebracht, wahrscheinlich um sich in der richtigen Aussprache zu üben, denn er folgte den Schauspielern im Buche nach. Er konnte aber über dem Geschrei nichts hören. So oft nun die Insurgenten irgend ein losgelassenes Stichelwort gegen die Engländer mit Jauchzen aufnahmen, kam mein junger Mensch außer sich und sprach ironisch: Ah, que cela est joli, ah, que cela est spirituel! „Was werden die Fremden, was die Deutschen von der französischen Urbanität denken!“ rief er aus. Ich, ganz entzückt, unvermutet einem, wenn auch nur sporadischen Respekt vor meinen Landsleuten zu begegnen, zeigte mich dankbar, indem ich sein Klagelied mitsang. C'est une horreur, c'est abominable, c'est affreux – sagte ich, und noch mehrere andere zornige Adjektive, die mir im Gedächtnis waren.

So drängte sich Othello bis zur Mitte des dritten Aktes mit Mühe und Gefahren durch. Da entstand ein Wortwechsel zwischen zwei Zuschauern. Ein Handgemenge droht auszubrechen, panischer Schrecken ergreift alles, das halbe Parterre wälzt sich zum Orchester hin, sprang über die Schranke, zerbrach Geigen und Bässe und schickte sich an, die Bühne zu erklettern. Ich, um diesem bösen Beispiele nicht zu folgen, ging ihm voran und war der erste, der auf die Bühne sprang, die andern hintendrein. Jetzt ließ man den Vorhang fallen. Gendarmen füllten die Szene, um das fernere Voraufstürmen der Zuschauer zu verhüten. Auf der Insel Cypern war ein tolles und lustiges Leben. Soldaten, Polizeiagenten, schäkernde Schauspielerinnen, halbohnmächtige Weiber; Othello, dem im Gedränge die Hälfte des Gesichtes abgeschwärzt worden, zeigte eine rote und eine afrikanische Wange; die sanfte Desdemona schimpfte, auf ihrem Todesbette lag eine geflüchtete Baßgeige hingestreckt; Jago trug einen Frack über seiner Ritterkleidung und schien mir die beste Seele von der Welt zu sein. Aber das Stück wurde dennoch zu Ende gespielt; nur daß die Hälfte des dritten Aktes und der ganze vierte Akt ausgelassen wurden. Man begnügte sich, Desdemona ohne weitere Umstände erwürgen zu lassen. Das Publikum war nicht minder beharrlich als die Schauspieler, es schrie, pfiff und lärmte bis ans Ende. Von sehr komischer Wirkung war es, daß in einem kleinen Lustspiele mit Gesang, welches auf Othello folgte, Galerie und Parterre an allen Gesängen teilnahmen und die Stimmen der unerschrocknen Engländerinnen nachäfften.

Am folgenden Tage ließen die öffentlichen Blätter ihre Kriegstrompeten erschallen. Die Liberalen entschuldigten zwar den getriebenen Unfug nicht, empfahlen aber die Verirrungen der Jugend menschenfreundlicher Nachsicht. Mit Unrecht. Der Jugend ist wohl Verblendung zu verzeihen, weil sie von zu starkem Licht kommt, aber nicht Blindheit, die in Augenfehlern ihren Grund hat. „Des jeunes gens, nourris de l'horreur de tout ce qui n'est pas national“, wären etwas zu weit gegangen – sagten die Liberalen. Man muß bedauern, daß die Pariser Jugend einen so schlechten Tisch führt, jener horreur ist eine Speise, die der Almanac des Gourmands gewiß nicht empfehlen würde. Aber am meisten erstaunen muß man über die grauen, erfahrenen französischen Freiheitsmänner, die doch sonst so argwöhnisch auf alle Schritte der Macht und so scharfsichtig sind, ihre Listen zu entdecken – daß sie sich hierin so zum besten haben lassen, nicht einsehen, daß jener horreur de tout ce qui n'est pas national eine der anerzogenen Schwächen ist, genährt, die Völker feindlich auseinanderzuhalten, um sie getrennt so leichter zu beherrschen, und daß sie vergessen, daß zu allen Zeiten die Herrschsucht die Leidenschaften der Freiheit benützte, um ihre eignen zu befriedigen. Die aristokratischen Blätter auf der andern Seite hielten es mit dem Neger von Venedig und nannten die jungen Menschen, die sich herausgenommen, ihn auszupfeifen, Jacobins, régicides, Séides d'une faction habituée à essayer tous les moyens de troubler l'état. Daß übrigens beide Parteien in ihrer literarischen Kritik des Othello übereinstimmend behaupteten: freilich könne man Shakespeare nicht mit Corneille vergleichen, aber der englische Dichter sei doch nicht ohne gutes – das versteht sich von selbst: wenigstens das erstere.

Zwei Tage später wollten die Engländer noch einmal auftreten, in einem Lustspiele von Sheridan, welches in Deutschland unter dem Namen die Lästerschule bekannt ist. Man hatte die Preise der Plätze erhöht und glaubte damit etwas sehr Kluges getan zu haben. Aber das Haus war nicht weniger angefüllt als das vorige Mal, und von der nämlichen Menschenklasse. Ich war dieses Mal so vorsichtig, das gefährliche Parterre zu meiden, nahm in einer Loge der zweiten Galerie Platz und besah das Schlachtfeld aus der Vogelperspektive. Noch heftigeres Toben als das vorige Mal. Martainville gab wieder Stoff zu einem Zwischenspiele. Er ließ sich sehen, und à la porte Martainville, à la porte le vil Martain, donnerte das ganze Haus. Er wollte trotzen und blieb. Aber da schickte man sich an, seine Loge zu erklettern, die vom Parterre aus erreichbar war. Er mußte die Flucht ergreifen. Jetzt erhob sich der Vorhang; aber sei es, daß die Engländer mutlos geworden oder daß der Sturm zu mächtig war, ihm zu widerstehen – nicht die erste Szene konnte ausgespielt werden, und der Vorhang mußte wieder fallen. Jetzt rief es: le Directeur! Man meinte nämlich den französischen Schauspieldirektor, der so unfranzösisch gewesen, Engländer auf seiner Bühne erscheinen zu lassen. Der Gerufene kam. Nüsse, Talglichter, Handschuhe flogen ihm ins Gesicht. Da rief einer der leitenden Stimmen: Silence, assis, attendez sa soumission, qu'il fasse ses excuses! Der zitternde Melodramendirektor sprach einiges, das ich nicht verstand, dann rief er: Meine Herren, antworten Sie mir kurz, wollen Sie, daß die Engländer fortspielen, oder nicht? Und ein donnerndes „non“ erschallte, mit einer Einstimmigkeit, mit einer Gleichzeitigkeit, daß es sich die besteingeübten Chöre in der Braut von Messina hätten zum Muster nehmen können. A bas les Anglais, point d'Etrangers en France, schrie es von allen Seiten. Der Direktor versprach ein französisches Stück und trat ab. Der Zorn legte sich, und ein Lustlärm begann. Das Parterre stimmte ein Lied an, worin es heißt: La Victoire est à nous. Jetzt traten die französischen Schauspieler auf. Jeder wurde mit Jubelgeschrei empfangen, jedes Wort wurde beklatscht. Bravo, ce sont des Francais, ce ne sont pas des beafstecks, rief einer von der Galerie herab. Bis, bis, schrie das Paterre, und der Witz mußte wiederholt werden. Das Stück ward zu Ende gespielt, und die Ruhe war vollkommen wiederhergestellt. Man wartet auf das zweite Stück, denn drei bis vier werden jeden Abend aufgeführt. Man wartete eine halbe, eine ganze Stunde vergebens, der Vorhang blieb niedergelassen, der geforderte Direktor erschien nicht. Da brach das Ungewitter von neuem los. Die Polizei mußte den nahenden Sturm vorhergesehen haben, denn man hörte Waffengeräusch hinter dem Vorhange, man sah die Instrumente aus dem Orchester wegtragen. Jetzt ward vom Parterre aus ein Hut auf die Szene geworfen, wahrscheinlich als Zeichen des Angriffs. Darauf erhob sich das ganze Parterre, stürzte ins Orchester, ergriff die dort befindlichen Stühle und warf sie dem Hute nach. Jetzt erhob sich der Vorhang, das Schauspiel begann, und mit solcher natürlichen Natur wurde noch nie gespielt. Eine Kompanie Gendarmen stand in Schlachtordnung auf der Bühne, vor ihnen ihre Offiziere mit gezogenen Schwertern.

Einige Minuten stand diese Streitmacht unbeweglich stille und versuchte ihre Medusenkraft. Aber dieser Anblick machte die Wut der Zuschauer nur flüssiger. Die Stühle flogen den Gendarmen an die Köpfe, und als die Stühle erschöpft waren, riß man die Bänke los und schleuderte sie hinüber. Staubwolken und Angstgeschrei der Weiber erfüllten das Haus. Jetzt kommandierten die Offiziere zum Angriffe. Die Gendarmen mit gefälltem Bajonett drangen vor, Bänke und Stühle wurden von der Galerie auf sie herabgeworfen, viele stürzten und wurden verwundet. Allgemeine Flucht. Nach dem Parterre wurden die Logen ausgeleert. Ich war der letzte, der blieb, um das Schauspiel bis ans Ende zu sehen. Da stürzten drei Riesen auf mich los und stießen mich mit ihren Flintenkolben hinaus. So unschuldig ich auch war, murrte ich dennoch nicht über diese Behandlung; ich nahm das reuig hin für meine Gedankensünden und verehrte in meinem Herzen die alles erforschende Nemesis.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schilderungen aus Paris.