Siebtes Capitel. - Der Greve-Platz. - Ein aufgeschlagenes Buch ist Paris zu nennen, durch seine Straßen wandern heißt lesen. In diesem lehrreichen und ergötzlichen Werke, mit naturtreuen Abbildungen so reichlich ausgestattet, blättre ich täglich einige Stunden lang....

VII. Der Greve-Platz

Ein aufgeschlagenes Buch ist Paris zu nennen, durch seine Straßen wandern heißt lesen. In diesem lehrreichen und ergötzlichen Werke, mit naturtreuen Abbildungen so reichlich ausgestattet, blättre ich täglich einige Stunden lang. Es war zwei Uhr, da ich aus dem Hause trat. Unfehlbar um diese Zeit spielt der fleißige Tischler gegenüber ein Viertelstündchen mit seinen Papageien; dann wird der Hobel von neuem gerührt. Der deutsche Baron, mein Nachbar, war eben heimgekehrt und hüpfte, wie ein Spatz, aus seinem Tilbury. Ein leichtfüßiger Herr! Das Perd, auf dem Wege zum Stalle, wird kaum fühlen, daß seine Last leichter geworden. Bald kam ich in die Straße Vivienne. Hier ist das Paradies der weiblichen Welt, da findet sich alles, was die Häßlichkeit braucht, sich zu verbergen, und die Schönheit, sich zu verraten. Hüte, Blonden, Schleier, Geschmeide von Gold und Edelsteinen, und alles in so reichem und kostbarem Vorrate, daß selbst eine Königin mit Bedenken wählen müßte. Vor einem Putzladen hielt eine glänzende Kutsche; der gemächlichen Dame öffnete ein Mohr den Schlag. Ich sah mir das Wappen an – ein ganzes Stickmuster von farbigen Feldern, nebst Klauenund Schnabeltieren aller Art. Fünf Minuten später warf ich den Blick durch die geöffnete Pforte des Tempels der Eitelkeit und sah für einen Hut einen Bankzettel hinlegen. Das waren, wenn nicht tausend, wenigstens fünfhundert Franken. Darauf wurden zwei Goldstücke herausgegeben. Der Hut war schöner, als ihn eine männliche Feder beschreiben kann: ein Paradiesvogel mit seinem ganzen Gefieder umschimmerte den Kopf. Habe so etwas in meinem Leben noch nicht gesehen! Doch vielleicht hätte die edle Frau Rang und Reichtum gern für das hübsche Gesicht hingegeben, das neben mir lechzende Augen nach Hut und Bankzettel schickte. Ich ging weiter, ein kleiner Menschenkreis zog mich an, ich drängte mich durch. Zwei Lumpensammler waren in heftigen Wortwechsel geraten. Ihr kümmerliches Gewerbe folgt dem des Bettlers. Der eine hatte einen handbreiten wollenen Lappen im Kuhmist ausgestöbert, der andere als gleichzeitiger Entdecker machte Ansprüche darauf, hob drohend seinen Stock mit eisernen Haken in die Höhe und sprach mit wütenden Gebärden: veux-tu lâcher cela? Unweit davon zeichnete ein Mann stehenden Fußes etwas in seine Schreibtafel ein, so ernst, so andächtig dabei, als hätte ihm der liebe Gott seine zehn Gebote in die Feder gesagt. Ein schnarrendes Gare! weckte ihn aus seinen frommen Träumen. Er mochte wohl ein Wechselmäkler sein, denn er war von der Seite der Börse hergekommen. Jetzt ging ich den Perron hinab in das Palais Royal. Dieses Lustlager ist wohl jedem bekannt. Alles findet sich hier, selbst menschliches Elend – nur nicht dessen Schein. Die Armut ist vergoldet, der Hunger scherzt, das Laster lächelt.


So war ich zwei Stunden lang umhergewandert und hatte auf allen Straßen das regste Leben gefunden. Es hüpfte, sang und lachte zwar nicht immer dieses Leben, es schlich, stöhnte und weinte wohl auch–doch es lebte. Und in dieser nämlichen Stunde, in dieser nämlichen Stadt, atmeten vier Jünglinge ohne zu leben, denn wenn nicht Verzweiflung war Verklärung über sie gekommen, schon waren sie keine Menschen mehr. Die Soldaten, welche wegen Teilnahme an der Verschwörung von Rochelle zum Tode verurteilt worden, sollten um vier Uhr auf dem Greve-Platz hingerichtet werden. Das hatte ich erst auf der Straße erfahren. Vielleicht eine halbe Million Menschen erfuhr diese Hinrichtung erst aus der Abendzeitung. So ist Paris! Es war schon vier Uhr. Ich warf mich in ein Cabriolet, noch den fürchterlichen Schauplatz zu erreichen. Den Palast der Tuilerien vorüber, den Tells Enkel bewachen; das Louvre vorbei, aus dessen Fenster Karl IX. in der Bartholomäusnacht auf die Herzen seiner Untertanen gezielt; am Pont-Neuf vorüber, worauf das Standbild des guten Heinrichs, dessen fromme Augen der Richtstätte gerade zugewendet sind: bis auf den Chatelet-Platz – weiter konnte ich nicht dringen, die Wachen hielten den Weg gesperrt. Eine Brücke, pont-au-change genannt, geht auf diesen Platz aus. Über diese Brücke, jenseits der Seine her, wo das Gefängnis ist, mußten die Verurteilten geführt werden, um zum Greve-Platz, der am diesseitigen Ufer liegt, zu gelangen. Ein großes, mit einem Balkon versehenes Speisehaus gab den besten Standpunkt, den traurigen Zug, der kommen sollte, zu übersehen. Dieses Gebäude steht auf der Stelle, wo le grand châtelet war, eine Burg, die Julius Cäsar erbaute und deren Grundmauern im Jahre 1802 niedergerissen worden. Ich stieg in den großen, herrlichen Saal, wo viele Menschen guter Dinge waren. Ich sah mitleidige Weiber mit bleichen Wangen und schwer gehobener Brust; aber sie aßen und tranken doch. Der Dichter, welcher sang: „Süß ist's, vom sichern Hafen aus Schiffbrüchige zu sehen“ – der kannte das menschliche Herz! Keiner wagte die Empfindungen, die er hatte, laut werden zu lassen, nur die Spione sprachen Empfindungen aus, die sie nicht hatten. Für diese Würmer war heute gutes Wetter, denn die Fäulnis ist ihre Wiege. Höher als sonst spitzten die Horcher ihre Ohren, denn in diesem Saale konnten Wein und Mitleid auch ängstlich verschlossene Lippen öffnen. Einer kam, auch mir den Puls zu betasten. Einen Blick zum Fenster hinaus auf die Volskmenge und die bewaffnete Macht werfend, sprach er mit spöttischer Miene vor sich hin: „il leur faut quatre mille hommes pour quatre!“ Ich schwieg. „Ces jeunes hommes ont bien merité un petit châtiment, ils ont voulu renverser le gouvernement, mais...“ Ich schwieg. „Paris dort!“ sagte der sentimentale Spion. Ich schwieg, aber ich dachte: Paris schläft nicht, es wacht, kennt die Furcht, bedenkt, zaudert und läßt geschehen. Denn schliefe dieser tausendarmige Riese und reckte seine Glieder und wendete sich um, wie man es im Schlafe bewußtlos tut, dann würden an dieser gedankenlosen Bewegung die Bajonette dort zerknicken und vier Mütter weinten nicht um ihre Söhne.

Jetzt wälzte sich ein breites Gemurmel vom jenseitigen Ufer herüber. Wir sprangen von unsern Tischen auf und eilten auf den Balkon. Der Zug kam näher, die Verurteilten, in bürgerlicher Kleidung mit entblößtem Haupte, saßen rückwärts, je zwei auf einem Karren. Jeder hatte einen Geistlichen zur Seite. Die Jünglinge schenkten ihnen aber keine Aufmerksamkeit, sondern wendeten ihr Gesicht der andern Seite, der versammelten Menge, zu, diese immerfort freundlich grüßend. Sie schienen ruhig, ja heiter. Sie zogen vorüber. Noch eine halbe Stunde vor ihrer Hinrichtung war der Prokurator des Königs im Gefängnisse bei ihnen. Das Geständnis der Wahrheit hätte die Hoffnungslosen vielleicht, eine willkommene Lüge sicher gerettet. Sie schwiegen und starben. Bald kehrten die Karren mit vier Leichnamen zurück. Die bewaffnete Macht ging auseinander. Die klugen Stellungen, welche diese genommen, das Volk im Zaum zu halten, hatte ich mit Bewunderung angesehen. Schaudernd verehrte ich die Macht des menschlichen Geistes, die Werke seiner Wasserbaukunst, wie er das Meer bändigt und der kleinen Kraft die Herrschaft über die größere sichert. Da, zum erstenmal in meinem Leben, fiel mir bei: Regierungen sind wohl von Gott eingesetzt – wie hielten sich sonst manche!

Die Straße war frei geworden, ich ging nach dem Greve-Platz. Dort war man beschäftigt, das Schaffot auseinander zu legen. Eimer mit Wasser wurden über den blutgetränkten Boden ausgeschüttet. Ich dachte an der Lady Macbeth Hand. Ich fragte den und jenen, wie die Jünglinge gestorben. Sie waren festen Schrittes die rote Treppe hinaufgestiegen. Vive la liberté! waren ihre letzten Worte.

Die Nacht war angebrochen. Die Uhr des Stadthauses wurde beleuchtet. Eine nachahmungswürdige Einrichtung! Der Greve-Platz ist auf drei Seiten von Gebäuden umgeben. Die vierte Seite ist offen und der Seine zugewendet. Das Hôtel de ville und alle Häuser auf dem Platze sind von altertümlicher Bauart, wie auch in deutschen Städten Märkte und Rathäuser beschaffen sind. Auf dem Greve-Platz findet sich viel nachzusinnen; was ist hier nicht alles geschehen! Ich dachte: wenn Frankreich keine Humoristen hat, sie wohnen hier; wenn es keine Schelme hätte, sie wären hier gewiß zu finden: wenn es die Empfindsamkeit nicht kennt, hier sucht man sie nicht vergebens. Denn allen, die seit dreiunddreißig Jahren auf dem Greve-Platz wohnen – welche andere Wahl könnte ihnen bleiben, als über die Herren der Schöpfung zu lachen, Schelme zu werden oder vor Wehmut zu zerfließen? Ich hatte einen großen Gedanken: die Hauptsache ist, daß man beim Leben bleibt! Die erste Hinrichtung, die auf diesem Platze geschah, wurde im Jahre 1310 an Margarethe Porette, einer Ketzerin, vollzogen. Diese Unglückliche freilich hätte auch bei der größten Gunst der Parzen ihr Leben nicht bis auf unsere Tage erstrecken können. Aber die siebenunddreißig Bürger, die bei einem Aufstande am 24. August 1787, da das Volk noch nicht Herr war, von einer einzigen Gewehrladung der bewaffneten Macht fielen? Aber alle die Schlachtopfer der Revolution, die hier gemordet wurden? Aber Arena und seine vier Genossen und der Chef der Chouanen, Cadoudal, die, beschuldigt, dem ersten Konsul Bonaparte nach dem Leben getrachtet zu haben, hier hingerichtet worden? Wie geehrt lebten sie jetzt!.. Und was ist in diesem Rathause nicht alles geschehen! Ein Tollhaus ist es zu nennen. Am 2. November 1793 beschloß die Stadtgemeinde, daß ferner den Zuckerbäckern für ihre Näschereien kein Zucker verabfolgt werden dürfe. Am 29. Pluviose des nämlichen Jahres: daß alle Personen für verdächtig zu erklären seien, die bei den Speisewirten nur die Kruste vom Brode essen und die Krume liegen lassen! Ein Mitglied des Gemeinderats bringt einige Wochen später eine Anklage gegen diejenigen vor, welche die Haare der Guillotinierten kauften, besonders gegen die alten Weiber, die sich Perücken daraus machen ließen! Am nämlichen Tage sendete die Polizei die Liste der gefangenen Personen ein. Deren Zahl belief sich auf 7090, beiderlei Geschlechts. Am 21. Floreal des nämlichen Jahres befiehlt die Gemeinde, die mitgeteilte Nachricht, daß man 1684 Staatsverbrecher guillotiniert oder erschossen habe, wäre im Protokolle mit Ehren zu erwähnen! Fünf Tage später wurde beschlossen, daß das französische Volk ein höchstes Wesen anerkenne. Im Jahre 1804 gab die gute Stadt Paris in ihrem Rathause dem Kaiser Napoleon zur Feier seiner Krönung ein prächtiges Fest. Am 29. August 1814 gab genannte gute Stadt auch Ludwig XVIII. ein Fest, seine Rückkehr zu feiern. Lobenswerte Unparteilichkeit!

So ist Paris, so ist der Mensch, so ist die Welt!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schilderungen aus Paris.