Achtes Capitel. - Talma. - Es war das erste Mal, daß ich ihn sah. Er trat auf, und nach einer Viertelstunde seines Spieles war ich erstaunt, nicht erstaunt zu sein. ...

VIII. Talma

Es war das erste Mal, daß ich ihn sah. Er trat auf, und nach einer Viertelstunde seines Spieles war ich erstaunt, nicht erstaunt zu sein. Vielleicht beherrschte mich jene Sinnestäuschung, die wir auf Schiffen erfahren, welche uns vorspiegelt, wir stünden stille und die Ufer gingen. Fortgezogen auf dem Strome der Empfindung, glaubte ich nicht bewegt zu sein. Ich hatte keinen Maßstab für Talmas Größe, denn er stand zu entfernt von allen Schauspielern, die ich je gesehen, um ihn abzumessen. Die anderen überrumpeln unser Herz und benutzen die Verwirrung, die sie angestiftet, uns diebisch zu rühren; Talma kömmt uns keinen Schritt entgegen, er klopft nicht an unsere Brust, er öffnet die seine und läßt uns eintreten. Solange er spielte, glaubte ich den Ernst auf der Bühne und die Mummerei unter den Zuschauern zu sehen. Er stellte den Regulus dar in dem Stücke gleiches Namens von dem jungen Arnault, und besser als die Geschichtschreiber lehrte er uns die Seele jener großen Römer kennen, die so ungleich waren den Helden unserer Zeit, weil sie keiner kleinen Welt bedurften, um groß, und nicht gesiegt zu haben brauchten, um als Sieger zu erscheinen. Wem die Natur vergönnt hat, einen Blick zu werfen in das große Herz eines alten Römers, der weiß auch abwesend, wie Talma den Regulus gespielt hat; wem jenes die Natur versagt, der hätte auch anwesend Talmas Spiel nicht verstanden. Darum wäre es überflüssig oder fruchtlos, beschreibend davon zu sprechen. Aber von den Zuschauern will ich reden – wenn es solche gab. Denn nur wir Fremden waren so zu nennen, die Franzosen alle spielten mit und bildeten den Chor, ganz im Geiste der alten griechischen Tragödie, wenn auch in einer andern Gestalt. Unter Deutschen, die hundert Geschichten und keine Geschichte haben, möchte ich kein dramatischer Dichter sein; es ist schwer, dem kühlen Urteile zu gefallen. Doch während der Fremde in einem Bildnisse nur den Maler sucht, findet der liebende Jüngling die wahren Züge seiner Braut in ihm und vergißt die Kunst. Den Franzosen ist der dramatische Dichter ein Zeiger ihrer Geschichte. Gleichviel ob er von Gold oder von Eisen ist; er rückt von Erinnerung zu Erinnerung, und läßt er nur zur rechten Minute die Herzen schlagen, ist er des Beifalls gewiß. Die armen Bühnenzensoren hier sind sehr zu beklagen. Sie löschen in jedem neuen Stücke des Bedenklichen genug aus, da sie aber das Gedächtnis der Zuschauer nicht auslöschen können, bleibt alles bedenklich, was ihre Feder übrig gelassen. Die Begeisterung, mit welcher jeder Vers beklatscht wurde, der auf alte Großtaten, alte Helden, auf neue Unfälle und neue Hoffnungen anspielte, vermag ich unmöglich zu beschreiben. Man kann sich des Mitleids nicht enthalten, wenn man sieht, wie heißhungrig diese Menschen an den Knochen ihres Ruhms nagen. Ich aber, als das Schauspiel beendigt war, wiederholte in meinem Sinne die Worte, die der Karthaginienser Hamilkar gesprochen, als er in Rom Regulus, Senat und Volk erkannt:


De vertus, de fureurs, quel étrange assemblage!
Tout m'annonce aujourd'hui la chute – – de Carthage, sagen Hamilkar und Reim.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schilderungen aus Paris.