5tens Shawls. Kaschmirs. - Nicht euch ruf ich an, ihr Musen; denn ihr erhört die Gebete nicht, die man erst in der Bedrängnis an euch wendet. ...

5. Shawls. Kaschmirs

Im Saale voll Pracht und Herrlichkeit,
Schließt Augen euch; hier ist nicht Zeit,
Sich staunend zu ergötzen!


Nicht euch ruf ich an, ihr Musen; denn ihr erhört die Gebete nicht, die man erst in der Bedrängnis an euch wendet. Aber mein harter Sinn blieb den Kaschmirs immer verschlossen; immer ging ich mit trocknen Augen, trägem Blute und matten Atemzügen an ihnen vorüber, und darum ist jetzt, da ich sie preisen möchte, mein Herz leerer als eine Zisterne in heißen Tagen, und meine Zunge ist eine Bettlerin. Du aber, alte Zauberin Natur, kannst du mir Jahre, Bart und Weisheit nehmen, kannst du mir Jugend, Schönheit und Leichtsinn geben – so tue es! Doch du kannst es nicht; dein Stab ist gebrochen, und du auch hinkst an der Krücke des Gesetzes deinen Weg. So bleibt mir nichts übrig, als von den herrlichsten Wesen der Schöpfung statistisch zu sprechen und so trocken und dürre, als wäre von Völkerglück die Rede. Hast du aber ein Herz, liebe Leserin, nicht bloß für deine eigene Lust, sondern auch für anderer Not, so wirst du es nicht mit Gleichgültigkeit erfahren, daß der Kaschmir, den du trägst, das Auge mancher weinenden Mutter getrocknet. Die Göttin der Eitelkeit hat noch keinen Namen – nenne sie Ceres; denn sie ist es, die den Hungrigen Brot gibt.

Erst vor 21 Jahren fing man an, in Frankreich Kaschmirs zu verfertigen, und in so kurzer Zeit hat man es dahin gebracht, diese Arbeiten an Güte den orientalischen gleich zu machen. Es wird behauptet, daß sich die Kaschmirziegen in Frankreich vervollkommnet hätten. Der Fabrikant Hindenlang spinnt die Kaschmirhaare bis zu Nr. 210, nämlich zwanzigmal feiner als das asiatische Gespinst, das über Rußland nach Europa kommt. Schon bis Nr. 190 enthält das Pfund Gespinst 109250 Ellen. Isot und Eck, andere Fabrikanten, verkaufen die Kaschmirshawls um 30 Prozent wohlfeiler als die asiatischen, und sie erbieten sich, wenn man ihnen die Hälfte eines indischen Shawls gibt, die andere Hälfte hinzuzuweben, ohne daß man den Unterschied merken solle. Ajac von Lyon verfertigt seit 1815 Shawls von Flockseide, den Kaschmirs mit großer Täuschung nachgeahmt. Dieser Fabrikant hat den neuen Erwerbszweig so ausgedehnt, daß er im Jahre 1822 für 300000 Fr. Flockseide kaufte; daß er gegenwärtig 310 Stühle verwendet, 730 Arbeitsleute beschäftigt und jährlich für 1200000 Fr. Waren verkauft, deren größter Teil in das Ausland geht. Die Fabrikation der flockseidnen Shawls ist in acht Jahren so schnell in Flor gekommen, daß die Stadt Lyon allein 4000 Arbeiter dazu beschäftigt, die auf 1800 Stühlen jährlich für 5400000 Fr. Waren liefern. – Vielleicht fragst du mich, kaschmir- und wißbegierige Leserin, warum wir Deutsche nicht auch so schöne Sachen verfertigen können wie die Franzosen? Ich will dir erklären, woher das kommt. Dumme Leute haben das Glück, und die Franzosen sind dumm. Denk dir nur, liebes Kind, dieses Volk ist noch so ungebildet, daß es nicht einmal Zünfte und eine Zensur hat; so roh, daß unter ihnen Leute ohne alle Herkunft Minister werden können; so dumm, daß sie die wichtigsten Prozesse öffentlich verhandeln, eine Jury haben und sogar – ich lüge nicht, Mädchen – Juden mit Bürgerrechten! Dieses Volk ist so einfältig und in den ernsthaftesten Dingen so leichtsinnig, daß es einen Louvel, einen Königsmörder, in weniger als vier Monaten aburteilt, da doch die gelehrtesten Juristen anderer Völker darin übereinstimmen, daß man nur zur gründlichen Untersuchung einer erstochenen Fledermaus wenigstens vier Jahre brauche. Aber die dummen Franzosen haben das Glück und werden reich, während andere verständige und tugendhafte Völker es zu nichts bringen. Ja, was noch am wunderlichsten ist: die Franzosen haben ihre Kaschmirs und tausend andere schöne Sachen nur an ihren Feierabenden erfunden und verfertigt; denn von Tagesanbruch bis es dunkel ward, mußten diese geplagten Leute die Welt erobern! Aber was kümmert dich das? Sei froh, Mädchen, daß du kein Mann bist und an nichts anderes zu denken brauchst, als wie du jeden Abend deinen Kaschmir genau in die alten Falten zusammenzulegen hast.

Ternaux' scharlachrote Kaschmirs à la Sylla – (so genannt, weil Talma als Sylla in der Tragödie gleichen Namens zum ersten Male einen solchen trug) – sind sehr schön und viel besser als der Sylla Roms und Jouys. Ternaux hat einen Kaschmir ausgehängt, der 5000 Fr. kostet. Ich konnte ihn nicht zu sehen bekommen, weil er sechs Wochen lang, vom Morgen bis Abend, von andächtigen Zuschauerinnen umstellt war. Einen anderen Kaschmir des nämlichen Fabrikanten habe ich gesehen, der aber nur 1500 Fr. kostet. Er ist weiß, hat eine einfache Bordüre und ist so wenig glänzend, daß ihn gewiß keiner kaufen würde, wenn er wohlfeiler wäre; solchen Dingen gibt der Preis den Wert. Ein schönes Kind von vierzehn Jahren, das ich begleitete, nahm den Kaschmir in die Hand, wog ihn und rief: „Wie leicht! ach wie leicht!“ – „Leicht?“ erwiderte ich. „Nein, gutes Kind, er ist nicht leicht, er ist sehr schwer. Versuch es, stell' dich auf den Markt der Eitelkeit, nimm eine Waage in die Hand, lege in die eine Schale diesen Kaschmir, in die andere Tugend, Schönheit, Treue, häusliches Glück, Mutterliebe und alle die andern Gewichte, die das Räderwerk des Menschenlebens hemmen oder in Bewegung setzen – und du wirst sehen, wie schwer der Shawl ist!“ Das liebe Kind verstand mich nicht. Möchtest du das nie verstehen lernen, Amalie!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schilderungen aus Paris.