Dreizehntes Capitel. - Polichinel Vampire. - Steif sein kann jeder; aber es mit Grazie sein, das ist eine seltene Gabe. Wer diese schöne Kunst würdigen und bewundern lernen will, der komme und sehe den Pantomimen Mazurier in Paris....

XIII. Polichinel Vampire

Steif sein kann jeder; aber es mit Grazie sein, das ist eine seltene Gabe. Wer diese schöne Kunst würdigen und bewundern lernen will, der komme und sehe den Pantomimen Mazurier in Paris. Die Zauberei, aus dem Menschen eine Maschine zu machen, ist diesem Manne vollständiger als irgend einem gelungen, und wenn er in einem niedrigen Range stirbt, so hat er es wahrscheinlich nicht besser haben wollen. Die Natur hat ihre künstliche Schlosserarbeit ganz umsonst an seinem Körper verschwendet. Was sie befestigt, macht er frei, was sie beweglich gelassen, befestigt er; er öffnet, was sie verschlossen, und was sie offen ließ, schließt er zu. Er bewegt seine Glieder gegen alle Regeln der Bänder und Flechsen. Mazürier kann an allen menschlichen Todesarten sterben; aber den Hals brechen kann er nicht. Wie sich Mithridates durch häufige Giftversuche gegen Vergiftungen geschützt, so härtet sich Mazurier gegen äußere Verletzungen dadurch ab, daß er sich jeden Abend übt, seine Glieder zu brechen, ohne daran zu sterben. Seit zwei Monaten entzückt er die Pariser, und in die zwölf Tafeln der Modegesetzgebung wurde eingegraben: „Une Dame ne pourra se montrer cet été, si elle ne prouve, qu'elle a assisté à une représentation de Polichinel dans une loge louée par elle.“ Vor einigen Tagen wohnte ich zum ersten Male einer seiner Vorstellungen bei; das Haus war übervoll. Das in Paris für ihn verfertigte Ballett heißt: Polichinel Vampire, und er macht den Polichinel darin. Nun spielt zwar die Handlung auf der Insel der Stummen, in einem Klima also, wo die Blutsauger ungemein gedeihen; aber Polichinel ist die beste Seele von der Welt, und er heißt Vampir bloß darum, weil ihn seine Feinde, um ihm Händel zuzuziehen, für einen solchen ausgeben. Er kommt in einem Luftballon auf der Insel der Stummen an; der Luftballon zerreißt und Polichinel stürzt ins Meer. Jedermann weiß, wie ein Theatermeer aus Pappendeckel und andern festen Dingen zusammengesetzt ist; aber Polichinel schwimmt darin wie ein Fisch im Wasser, mit der anmutigsten Beweglichkeit. Damit beginnt Mazurier seine künstlerische Laufbahn. Er wird halb tot ans Ufer geworfen, legt sich zusammen wie ein Taschenmesser und läßt den Kopf hängen wie eine abgeschlachtete Gans. Dann ermuntert er sich, tanzt, springt und macht sozusagen unmögliche Dinge. Zum Beispiel: er stellt sich auf das linke Bein, legt das rechte vorwärts auf die Schulter, nimmt es in den Arm und präsentiert es wie ein Gewehr. Der geneigte Leser wolle nicht zu schnell über dieses Erzählte hinausgehen, sondern sich durch eigene Nachahmungsversuche überzeugen, daß beschriebenes Unternehmen höchst wundervoll ist. Polichinel, den auf ihn eindringenden Feinden zu entgehen, flüchtet sich auf einen Baum und verteidigt sich aufs artigste. Ein anderes Mal wird er überfallen und kann nicht mehr entrinnen, die Bauern schlagen mit Knitteln auf ihn zu, und – sein Kopf rollt zur Erde! Der Stumpf bewegt sich ohne Kopf. Wahrhaftig, es ist so! Polichinel sitzt erst und geht dann so vollständig ohne Kopf, daß er in diesem Zustande an manchen wichtigen Beratschlagungen mit Ruhm hätte teilnehmen können. Freilich sagt die Logik: „Wahrscheinlich hält er den Kopf geschickt zwischen den Schultern versteckt, denn a) der Mensch kann sich ohne Kopf nicht bewegen; b) Polichinel ist ein Mensch und bewegt sich; also c) hat Polichinel einen Kopf.“ Aber was vermag die Logik ohne die Sinne? Die Augen sehen Polichinel ohne Kopf, und damit gut. In einer andern Szene weiß sich Polichinel nicht anders zu retten, als daß er von dem Gipfel des Baumes, über die ganze Breite der Bühne, in das offene Fenster eines Hauses fliegt. Ein Draht mag ihm freilich dabei behilflich sein, aber man sieht den Draht nicht – süßer Schauer durchrieselt den Busen aller Frauen, und das männliche Entsetzen bricht in ein donnerndes Beifallklatschen aus. Kurz, Mazurier ist ein Wunder, und daß ihm, als einem Neapolitaner, Geläufigkeit der Füße angeboren, vermindert seinen Ruhm nicht; denn er springt über seine Nationalität hoch hinaus. Deutsche Hof- und Volkstheater könnten sich durch nichts mehr auf die Beine helfen, als wenn sie den genialisch hölzernen Mazurier zu Gastrollen einladeten, und er kommt gewiß, erfährt er nur erst, wie sehr er sich dort in seiner Kunst noch vervollkommnen könne.


Die Handlung des genannten Balletts, worin Mazurier auftritt, ist, wie sich erwarten läßt, die abgeschmackteste Geschichte von der Welt. Sollte man nun wohl glauben, daß der Erfinder und Verfertiger des Balletts dem gedruckten Programme, das es erklärt, eine liberale Vorrede vorausgeschickt hat, worin er wie ein Demosthenes donnert? Als nämlich Polichinel Vampire zum ersten Male aufgeführt wurde, ließ man einen gesprochenen Prolog voranschreiten, welcher Prolog aber schrecklich ausgepfiffen wurde. Der Dichter sagt: sein Prolog wäre ursprünglich himmlisch gewesen, aber die Zensur habe ihn verdorben. Einen „prince ridicule“ habe er verwandeln müssen in einen Mr. Pandolphe, und der Zauberer Merlin habe nicht auf einem „Dauphin“ reiten dürfen, sondern nur auf einem Dragon. Dadurch sei alles Salz verloren gegangen. Die Zensur habe die schönsten Stellen gestrichen „phrases ultra-innocentes que dans leur sollicitude prétendue monarchique les conseillers du St. Office littéraire ont condamnées impitoyablement et sans les avoir entendues“... Es gibt nichts Komischeres, als zu sehen, wie alle dramatischen Dichter in Paris, wenn ihre Stücke mißfallen, dieses den Zensoren zuschreiben, die sie für Genieräuber erklären. Wenn Zensoren aus Büchern den Verstand wegnehmen, muß ihnen ein unwiderstehlicher Diebssinn angeboren sein; denn daß sie aus Eigennutz stehlen, das werden ihnen ihre ärgsten Feinde nicht nachsagen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schilderungen aus Paris.