Die „Schwarze Schar"

Es handelte sich für sie darum, den Janhagel aufzuwiegeln, der immer zu jeglicher Schandtat bereit ist, wenn sie ohne Gefahr und mit sicherer Aussicht auf Gewinn vollführt werden kann. Dieser Pöbel, dessen Mitglieder die Russen als Chuligane nach amerikanischem Vorbilde bezeichnen, hat die der Lützowschen wenig ähnliche „Schwarze Freischar" gebildet. Sie setzt sich aus zwei wesentlich verschiedenen Elementen zusammen.

Die einen sind alle die Leute, welche aus irgendwelchem Grunde unmittelbar von der Polizei abhängen, die sie in ihrem Berufe oder in ihrer Lebensführung unangenehm stören kann. Auf sie ließen die Emissäre ihren „Einfluss als Beamte der kaiserlichen Behörden" in schärfster Form wirken. Es gehören dazu die Kutscher, die Dworniks (Türhüter, die von der Polizei empfohlen werden müssen, um angestellt werden zu können), die Schankwirte, die Stellenvermittler, die Heuerbase in den Häfen, die Inhaber von Herbergen, die Leiter von Asylen für Obdachlose, und schließlich die ehrenwerten Leiter und Leiterinnen von Liebesund Spielhöllen nebst ihren ausgezeichneten Freunden, den Zuhältern. Fast alle diese können mit Drohungen, oder geschickter noch mit Gunstbezeugungen leicht zu erratender Art, ganze Regimenter von Kunden beeinflussen, die an und für sich schon durch ihr eigenartiges Milieu der geeigneten Gemütsverfassung nahe gebracht sind. Es liegt, unter anderen, der offizielle Beweis vor, dass in Odessa und in Moskau, unter der Androhung polizeilicher Untersuchung der Identität, die sämtlichen Insassen mehrerer Nachtasyle ohne weiteres von ihren Strohsäcken zur Plünderung jüdischer Läden und Verprügelung von Studenten kommandiert worden sind. Diese ganze schöne Kategorie von „Treugesinnten" arbeitet gratis für Kaiser und Reich. Einerseits die Angst vor der Polizei; andererseits die Hoffnung auf reiche Plünderungsbeute, auf ungestraften Totschlag und auf kostenlose Saufgelage, macht sie zu ausgezeichneten Werkzeugen Seiner Majestät gegen die anständigen Untertanen. Sie kosten dem Kaiser bloß den staatlichen Monopolfusel und die Waffen, die die Polizei unter sie verteilt.


Die andere Kategorie, die weit zahlreicher ist, muss unter größerem Aufwand an Überredungsmitteln geistigen, flüssigen und festen Aggregatzustandes organisiert und aufs Schlachtfeld geführt werden. Sie umfasst Arbeitslose jeder Art und einen bodenlos stumpfsinnigen Pöbel, der gerne einmal „sein Mütchen" an besseren Leuten kühlt, aber so blöde dahinvegetiert, dass er nur durch energische Propaganda nebst Geld- und Schnapszuschuss aus seinem wachen Schlaf zu rütteln ist. Dazu kommen gewisse Arbeiterklassen, die eigentümlicherweise in der ganzen Welt die wüsten Schlägereien und die ultrareaktionären Ideen wahnsinnig lieben — vielleicht weil sie viel mit Blut, Knochen und Häuten zu tun haben; wie in Paris die Ochsenschlächter Royalisten, die Schweineschlächter Bonapartisten und die Gerber Nationalisten sind, so schlagen sich in Russland alle Metzger, Gerber, Viehtreiber und Schinder mit Begeisterung für die Polizeidiktatur. Allerdings müssen sie ihre Arbeit liegen lassen. Aber eine weise Bogdanovitch Vorsehung (der Name bedeutet ja „Gottgegeben") ersetzt den Verlust durch kaiserliches Geld und kaiserlichen Branntwein. „Die Gegenrevolution ist die Revolution des Schnapses" sollte die Devise der Hofpartei lauten. Zu all diesen begeisterten Verteidigern des Zarentums kommt noch schließlich der dumme Kleinhändler aus der Kellerwohnung, von dem es in Russland wimmelt, der dort wie überall, in seinem Stolze, kein Bauer oder Arbeiter zu sein, sich als zur Aristokratie gehörig fühlt, alle fortschrittlichen Ideen als pöbelhaft verdammt, in Deutschland konservativ, in Frankreich klerikal wählt und in Russland absolut nicht wählen will, weil die „ganz feinen Leute" derselben Ansicht sind. Diese Aristokratie des Pöbels arbeitet, wie es sich ziemt, durchaus kostenlos, aber auch privatissime; sie behält sich selbst vor, den geeigneten Augenblick, ihre Zeit zu verlieren und ihre körperliche Integrität aufs Spiel zu setzen, mit Überlegung zu ergreifen. Dieser Augenblick tritt stets nur dann ein, wenn diese Säulen des Zarentums, denen sich dem Vaterlande zu erhalten die Patriotenpflicht gebietet, sich überzeugt haben, dass wohl noch innere Befriedigung und die Bewunderung des Nachbarn, aber keine Beulen, Revolverkugeln oder Bombensplitter mehr zu holen sind. Sie bilden trotzdem ein tüchtiges Reservekorps, das ganz von selbst herbeieilt, wenn die anderen die große Arbeit mit Erfolg getan haben, und das auch unter der Bedingung, dass sie zehn gegen einen sind, zur Vernichtung der ,,Anarchisten" mit Würde beiträgt. Den Schnaps, den sie nachher trinken, bezahlen sie selbst im Rausch der Opferwilligkeit. Nur Orden würden sie als Belohnung annehmen.

Nicht so die „anderen". Sie werden von der Polizei bezahlt. Der Durchschnittslohn pro Tag war auf fünfzig Kopeken festgesetzt. Wenigstens ist dies der Betrag, welcher aus den Geheimberichten ersichtlich ist, die ihren Weg aus dem Generalstab der Gegenrevolution gefunden haben, und die sich auf vierzehn Städte beziehen (darunter Moskau, Nischni-Nowgorod, Smolensk, Kischineff und Saratoff) welche in den verschiedensten Gegenden des Reiches liegen. Es ist gut, sofort festzustellen, dass in Odessa der Manager der Schwarzen Schar, der Stadthauptmann Neidhart, diese Löhne zu seinem großen Vorteil hat sparen können; er hat sich die, seit der Meuterei und der revolutionären Irrfahrt des Panzerschiffes „Potemkin" in Odessa herrschende Arbeitslosigkeit der Hafenarbeiter zunutze gemacht, welche sich zu einem entsetzlichen Heer von hungerleidendem Pöbel entwickelt hatten, und aus reiner Not nur zu bereit waren, unter Zusicherung der Straflosigkeit, in wüsten Horden die Stadt auszuplündern.

Die Lohnfrage in Sachen der gegenrevolutionären Bewegung ist ohne Zweifel von größter Wichtigkeit. Sie hellt den Charakter der ganzen Unternehmung auf. Man muss hier leider, wie bei allen großen politischen Bewegungen, nach Symptomen schließen; trotz der besten Kanäle fließen die Dokumente spärlich; es ist unmöglich alle zu kennen; und die interessantesten — existieren überhaupt nicht; denn wenn man kämpft, schreibt man nicht. Glücklicherweise sind in politicis vielfach Symptome wertvoller als die prächtigsten Statistiken. Wer wird jemals berechnen können, welche ungeheuren Summen zum Unterhalt der kaiserlichen Verbrecherheere ausgegeben worden sind? Niemand weiß es; der Zar und seine Minister am wenigsten. Überall hat man aus dem Vollen geschöpft. Der „rollende Rubel" gehört neben die in den Schnee rollenden Leichen der Unschuldigen auf das Bild des Hexensabbats, den Nikolaus II., wie Karl IX. die Bartholomäusnacht, in Stumpfsinn und wütiger Angst als oberster Würgengel feierte. Den Rubel hat der Zar nicht selbst ins Rollen gebracht, aber die Leichen hat er vier Tage rollen lassen, und als er schon alles wusste, nicht den allerhöchsten Befehl zur Niederschlagung der Mörderbanden durch die Truppen gegeben. Wichtiger für die Zukunft Russlands, als der jämmerliche Hohn auf Männlichkeit, der, ein Häufchen Unglück, auf dem schwankenden Throne von den eisernen Fäusten der Prätorianer festgehalten wird, ist die furchtbare Macht des mörderdingenden Rubels. Überall waren alle Verwaltungsbudgets sozusagen abgeschafft; alle Barmittel wurden zur „Verteidigung der russischen Tradition" verwandt, das heißt zum Teil an den Janhagel verteilt, zum Teil von Polizisten, Beamten, Gouverneuren, Generälen mit wundervoller Frechheit gestohlen. Niemand, der zum Zaren hielt, weder der Generalgouverneur noch der Zuhälter, ging leer aus. Wären nicht die unzähligen Leichen, spätere Historiker würden beweisen, dass die Gegenrevolution bloß eine letzte großartige Ausplünderung des Reichsschatzes durch, die Beamten unter Beihilfe des Pöbels, eine weit angelegte „Finanzoperation", gewesen sei. Um welche Riesensummen es sich dabei handelt, das kann nur annäherungsweise gemutmaßt werden, und auch dies nur für das Verbrecherheer selbst. Die Anzahl der Lohnverbrecher in den obengenannten Städten allein ist, nach den Geheimberichten auf über fünfzigtausend zu veranschlagen. Sie erhielten also täglich 25.000 Rubel (über 50.000 Mark) ausgezahlt. Aber damit sind die unmittelbaren Unkosten, nicht der Gegenrevolution, sondern bloß der Schreckenstage im November 1905, durchaus nicht erschöpft. Sogar die „Freiwilligen'', die kein bares Geld erhielten, gewannen materielle Vorteile, die dem Staat ungeheure Kosten machten. Zunächst wurden große Mengen Waffen verteilt; die „normale“ Waffe war der große Revolver, System Browning, der einen Wert von etwa dreißig Mark besitzt, und den man den Kämpfern für Kaiser und Reich notwendig als Eigentum überlassen musste. In Moskau sind über zehntausend davon verteilt worden; allerdings stammten sie aus den kaiserlichen Arsenalen; aber irgendwann hat sie der verhungernde Bauer mit seinen Steuern doch einmal bezahlen müssen. Dazu kamen die kostenlosen Mahle sowie die beträchtlichen Quantitäten Schnaps, deren die Verteidiger des Thrones sich bedienen durften; der Branntwein allerdings stammte aus den staatlichen Niederlagen, denn das Reich besitzt ja das Verkaufsmonopol für Alkohol, aber durch seine Verteilung hat der Staat nicht nur den Kaufpreis verloren, den er selbst den Fabrikanten bezahlt, sondern auch noch den mehrere hundert Prozent betragenden Aufschlag, mit dem er die Ware zu Steuerzwecken belegt. In mehreren Städten, unter andern in Smolensk und Ssaratoff, ist der ganze Inhalt der offiziellen Niederlagen zum größeren Ruhm des Zaren gratis durch die Kehlen der kaiserlichen Räuber geflossen, sodass nachher die Bevölkerung nicht einmal mehr Schnaps kaufen konnte, und der Staat so noch ein Extradefizit anzukreiden hatte. Aber außer diesen indirekten Verlusten waren große Barauslagen zu bestreiten. Der Staat konnte doch anständigerweise die Mordbrenner nicht von Feldküchen begleiten lassen — sogar wenn er es gewollt hätte, wäre es unmöglich gewesen, denn sie sind alle in der Mandschurei zugrunde gegangen und natürlich nicht ersetzt worden. Es mussten also mit Gastwirten Verträge zur kostenlosen Speisung der Treugesinnten geschlossen werden. Es war für die Polizei ein gutes, für die Wirte ein schlechtes Geschäft, denn es wird wohl überall die Sache denselben Ausgang genommen haben, wie in Moskau. Hier hatte jede „Freiwilligenbande“, die „Krämer vom Ochotni Riad", die „Gerber'', die „Baumwollenarbeiter", die „Schlächter“, die „Von der anderen Seite'' ihre speziellen Speisequartiere in „Traktieren" und Schnapsschenken, die alles ankreideten und die Rechnung der Polizei vorlegten. Die Polizisten feilschten geizig; nach acht Tagen bezahlten sie überhaupt nicht mehr, sondern steckten das Geld ein . . . Die zentrale Nebenregierung hatte mit der „Speisung der Tausenden“ keine gute Idee gehabt. Denn abgesehen von der Unterschlagung der Gelder, welche bei dem späteren revolutionären Aufstand dieselben kaisertreuen Gastwirte und Arbeiter auf die Seite der Barrikadenbauer trieb, lief die Speisung der Kämpfer den höheren Zwecken der Unternehmung zuwider. Die Leute aßen massenhaft, woran sie gar nicht gewöhnt waren; sie tranken noch massenhafter, und anstatt ordentlich zu ,,arbeiten“, hatten sie eine fatale Tendenz ihre Verdauung nicht zu stören, und ihren Weingeist im Schlafe aus sich zu sublimieren. Das Prinzip, nach welchem die ,,Schwarze Schar“ gebildet war, verlangte überdies nicht, dass die Leute äßen, sondern dass sie hungerten; und die Großmut der Organisation, welche diesen Grundsatz vernachlässigte, war sicher nur aus dem Wunsche, große Geldmittel verschwinden zu lassen, geboren.

Die gegenrevolutionäre Arbeit konnte, da sie den Charakter eines wüsten Barbareneinfalls tragen musste, nur nach den alten, wohlerprobten Grundsätzen der Hunnen mit Erfolg durchgeführt werden. Die Räuberbanden mussten von dem ,,eroberten“ Lande leben. Um dies zu erreichen, hatte aber die Zentralorganisation, und nach ihr die Generäle, Gouverneure und sonstigen Räuberhauptleute, ganz besondere, ins kleine gehende Maßregeln zu treffen, die unfehlbar den offiziellen Charakter der ganzen Unternehmung ans Licht bringen mussten. Erstens nämlich musste alles getan werden, um den wirklich reaktionären oder doch wenigstens ganz indifferenten Teil der Bevölkerung zu schützen; es war also der zu ,,strafende" Teil der Bevölkerung den Banden genau kenntlich zu machen. Zweitens war jeder ernsthafte Widerstand, der den feigen Janhagel entmutigt haben würde, von vornherein im Keime zu ersticken; man musste also den bedrohten Bevölkerungsklassen jegliche Verteidigungsorganisation unmöglich machen, und da dies praktisch unausführbar war, den Räubern den mächtigen Schutz der Truppen und der Polizei gegen etwaige revolutionäre Kampfversuche sichern. Schließlich musste ihnen der sichere materielle Erfolg gewährleistet werden, damit sie in ihrer Begeisterung für Mord und Raub nicht enttäuscht gegen ihre eigenen Führer loszögen. Die Aufgabe wurde von der Polizei, unter der Leitung der großen Hauptmassenmörder in Petersburg, in intelligentester Weise gelöst. Alle Räuberbanden sind stets von Polizisten befehligt worden, die ihrerseits von ihren Oberen ganz genaue Instruktionen erhalten hatten. Auf Anraten der die historischen Traditionen mit aller Würde ihres Ranges vertretenden Großfürsten^ wurden die Gouverneure angewiesen, in allen größeren Städten Listen der gegebenenfalls zu mordenden und auszuplündernden Personen anzulegen; die Behörden vergaßen nicht, die Begüterten, gegen die furchtbare Erpressungsversuche möglich waren, mit besonderer Sorgfalt anzumerken. In den Dörfern Südwestrusslands wurde den Geistlichen befohlen, ihren blödsinnigen Pfarrkindern den heiligen Krieg gegen die Juden zu predigen. Die Truppen hatten von den Generalgouverneuren eigentümlich komplizierte Vorschriften zur „Aufrechterhaltung der Ruhe" erhalten. Sie hatten vor allen Dingen die Räuberbanden gegen Störung ihrer Arbeit seitens der Bevölkerung zu schützen. Überall wo keine Gefahr vorlag, dass jemand aus anderen Stadtteilen den der Plünderung ausgelieferten Straßenzügen zu Hilfe eilen würde, durften die Truppen und die Polizei offiziell im Mord und Raub mit dem guten Beispiel vorangehen, während die hohen Beamten und die zarentreuen Offiziere zum Ruhme des Kaisers durch großartige Erpressungen hübsche Vermögen zusammenräuberten. Die nach diesem allgemeinen Schema ins Werk gesetzte Mordunternehmung in Odessa, über welche die genauesten offiziellen Geheimberichte vorliegen, sind der Prototyp aller anderen. Einige besonders charakteristische, aufs Geratewohl aus dem Vollen geschöpfte Einzelheiten, werden die Unaufrichtigkeit der gegenrevolutionären Bewegung ins hellste Licht setzen.

Es ist schon gesagt worden, dass die Schwarzen Scharen in Odessa kein festes Gehalt bezogen. In ihnen flossen über fünfzigtausend Individuen beiderlei Geschlechts zum fürchterlichen Pöbel zusammen. Jede kleine Gruppe war von mehreren als Strolche verkleideten Polizisten befehligt; man hat dies dadurch festgestellt, dass man einige von diesen Bestien glücklich mit Flintenschüssen erlegte und die Kadaver genau inspizierte; in allen diesen Anführern ohne Ausnahme wurden Polizeiagenten erkannt. Zwei Tage lang während der Mordbrennerei blieben die Truppen in aller Ruhe in ihren Kasernen eingeschlossen. Als am 2. November eine Gruppe nicht jüdischer, sondern wohlangeschriebener Bürger den Stadthauptmann Neidhart persönlich mit Bitten bestürmte, den Pöbel von den Truppen zurücktreiben zu lassen, hatte Seine Exzellenz den Humor zu erwidern, er könne nichts tun, die Vorfälle seien ziviler Natur und das Militär habe damit nichts zu schaffen. Jede einzelne Räuberbande wurde von der Polizei, oft nach vorheriger Konsultierung der Proskriptionslisten, in aller Gemütsruhe an den zu schützenden Häusern vorbei — und direkt zu denen geführt, welche die Polizei plündern lassen wollte. Der literarisch gebildete Polizeichef kannte die schöne Geschichte von Ali Baba und den vierzig Räubern; er richtete sich nach ihr und ließ von seinen Helfershelfern die Türen der zu mordenden Juden, Arbeiter und Studenten mit Kreide kabbalistisch bezeichnen. Die Mordbanden verstanden diese Zeichen! Auf den großen Straßen standen Schutzleute, die alles überwachten, die Bewohner am Ausgehen verhinderten und den Mordbanden, die die Gegend nicht genau kannten, durch besondere Gesten die zu schonenden Gebäude kenntlich machten. Auf diese Weise kam es, zum Beispiel, vor, dass am ersten Tage der Gemetzel in der Richelieustraße, der Hauptverkehrsader der Stadt, die Polizei ganz offen bloß die vier jüdischen Geschäftshäuser Levysohn, Selig, Feldmann und Okun zur Plünderung zuließ, aber von allen anderen den Pöbel fortschickte, und zwar, wie sich später herausstellte, damit deren Besitzer Zeit hätten, vom Stadthauptmann Neidhart ihre Schonung mit Riesensummen zu erkaufen. Vom 3. November an griffen die Truppen ein; die Instruktionen, welche von einem Dutzend Offizieren mit sofortiger Dienstverweigerung und Demission beantwortet wurden, lauteten: „es sollen die Leute auf den Straßen gegen die Angriffe der in den Häusern versteckten Anarchisten geschützt werden." Mit anderen Worten waren die Plünderer gegen die Verteidiger der Häuser zu unterstützen! Die Folge war, dass beim geringsten Zeichen von Widerstand der Insassen eines Hauses die Truppen gegen dieses ihre Mitrailleusen richteten und an der Plünderung teilnahmen. Die seltsamsten Schauspiele boten sich alsbald dar. Männer und Weiber kamen aus den ausgeraubten Läden mit drei oder vier Hüten auf dem Kopf übereinander, mit mehreren Anzügen am Leibe, und hinter sich riesige Warenballen schleppend, die mit Unterstützung der Soldaten, die ihr Teil verlangten und bekamen, durch die Straßen gezogen wurden. In den Kasernenhöfen fand man ganze Zugladungen aller möglichen Waren, die man den Truppen zu behalten erlaubte. In den Polizeilokalen häuften sich elegantere Objekte, Schmucksachen, teure Stoffe, Kunstgegenstände und kostbares Geschirr, vor allem Sachen, die scharfen Kennerblick verraten. Die von den Arbeitern und Studenten gebildete Selbstwehr war unbesiegt und wurde schließlich vom regulären Heer vernichtet. Ein besonderer Morddienst wurde von der Polizei am Hauptbahnhof organisiert, wo die in den anlangenden Zügen befindlichen Juden, die mit ihrem Geld von anderen der Plünderung ausgesetzten Orten unvernünftig zugereist kamen, ohne weiteres mit Kolbenschlägen und Bajonettstößen empfangen, ausgeraubt und zu Hunderten gemordet wurden. Die Polizei hatte die offiziellen Wohnungslisten auswendig gelernt, sie kannte genau alle Adressen und es half den zur Ermordung in des Kaisers Namen Verurteilten nichts, Zaren- oder Heiligenbilder zum Zeichen ihrer politischen Unschuld an die Fenster zu stellen. Neidhart ließ eine große Anzahl von Hausbesitzern, die liberale oder jüdische Mieter hatten, zu sich kommen und machte sie darauf aufmerksam, dass er zu seinem Leidwesen gegebenenfalls diese Häuser zusammenschießen lassen müsse. Man verstand sich ohne weiteres. Allen gelang es, den gestrengen Herrn mit einigen Banknoten zu rühren und seiner Gutmütigkeit die Zusicherung ausreichenden Schutzes zu entlocken. Wenn man bedenkt, dass ein einziger hat fünftausend Rubel bezahlen müssen, so erscheint es offenbar, dass Seine Exzellenz, ohne die Unterschlagung der Verwaltungsgelder zu rechnen, in dem Blute seiner zwölftausend Opfer etwa eine halbe Million Mark gefischt hat. Graf Witte, welcher vor allem Finanzgenie demütige Bewunderung an den Tag zu legen pflegt, hat diese Spekulation mit der Beförderung Neidharts zum Gouverneur von Nishni-Nowgorod belohnt . . .

Genug. Jeder Kommentar würde die Beweiskraft dieser der Regierung sofort offiziell bekannt gewordenen Tatsachen abschwächen. In hundertdreißig anderen Städten hat sich die gegenrevolutionäre Bewegung nach denselben Grundzügen abgewickelt. Die Einzelheiten, die furchtbaren Gräueltaten, die tausendfachen Kinder- und Frauenmorde, die bodenlose Gemeinheit der Priester, welche „nach göttlichem Befehl" auf den Dörfern den Totschlag der Juden predigten, die unzähligen urkundlichen Beweise von Verbrechen, die fast alle Minister, Generalgouverneure und Gouverneure, Polizeidirektoren, Offiziere und andere Missetäter, vom Großfürsten bis zum Türhüter, wenn das Gesetz für jeden gälte, lebenslänglich ins Zuchthaus schicken müssten — alles das hat für die Sache selbst wenig Bedeutung. Aber anders steht es mit der Geistesverfassung der Räuberbanden. "Waren sie wirklich zarentreu? Haben sie für den Zaren gegen die Revolution gekämpft? Haben sie sich wie die jüdischen, studentischen und proletarischen Verteidigungsfreischaren mit Überlegung für die „gute Sache" geopfert? Trotz ihres unmittelbaren ganz gemeinen materiellen Interesses an dem straflosen Gemetzel wäre es ja psychologisch möglich gewesen. Aber es war das Gegenteil der Fall. Ihre Losung war: Mord und Raub — aber ohne Risiko. So hat man am 3. November die offiziell beglaubigte Tragikomödie in Odessa beobachtet, dass, als das Gemetzel am stärksten wütete und fast die ganze Stadt in den Händen der Mörder war, eine heulende wohlbewaffnete Bande von fünfhundert „Schwarzen“ mit vier tapferen Polizisten an der Spitze, plötzlich um die Ecke der Preobrashenskistraße stürmte, aber sich dort gerade — vier Mitgliedern der Studentenwehr gegenübersah und ohne weiteres mit Angstgeheul in toller Flucht auseinanderstob . . . In Smolensk trat der wahre Charakter der gedungenen Banden in einem seltsamen Konflikt zwischen der Polizei und dem Militärkommando mit überwältigender Klarheit hervor. Es gelang dort den von der Polizei bezahlten Mördern überhaupt nicht, das befohlene Gemetzel zu beginnen, da der, übrigens christliche, und nicht einmal liberale Stadtrat sich der Unternehmung widersetzte. Er wandte sich an den Polizeimeister, beschwor ihn, die Banden aufzulösen und Blutvergießen zu vermeiden. Die Polizei erklärte offiziell, sie dürfte nichts tun, und weigerte sich, obwohl das für den Beginn der Gemetzel festgesetzte Datum jedermann bekannt war, irgendwelche Schutzmaßregeln zu treffen. Der Stadtratsvorstand setzte darauf in einer besonderen Zusammenkunft dem Offizierskorps der Garnison die Lage auseinander und appellierte an das Ehrgefühl der Anwesenden. Die Mehrheit war — seltener Zufall — solchen Gefühlen noch zugänglich und es wurde beschlossen, die kaiserlichen Vorschriften in Bezug auf „Aufrechterhaltung der Ordnung" nach dem Buchstaben und nicht nach dem von der höfischen Mörderverschwörung untergeschobenen Sinne auszuführen. Am Morgen des Mordtages versammelte sich die Räuberbande unter offener Leitung der Polizei. Aber sie hatte ihr Tagewerk noch nicht begonnen, als die Garnison schleunigst alle umliegenden Straßen besetzte, und die Polizisten mitsamt dem Janhagel einschloss. Der Vorsitzende des Stadtrats hielt an die versammelten Halunken eine energische Ansprache. Und während die Polizisten grimmig ihre Wut verbeißen mussten, warfen sich die jämmerlichen Zarentreuen nach echter altrussischer Sitte auf die Knie, baten um Verzeihung und gestanden nicht nur, dass sie von der Polizei Essen, Trinken und fünfzig Kopeken täglich erhielten, sondern man ihnen auch den kaiserlichen Befehl vorgelesen hatte, nach welchem die Garnison ihnen bei ihrer blutigen Arbeit Unterstützung leisten sollte!

Ein schärferer Beweis ist unmöglich dafür beizubringen, dass die Schwarze Schar nicht aus politischen, sondern einzig und allein aus materiellen Notwendigkeitsgründen, einzig und allein unter dem Druck der Polizei, mit der Peitsche der Angst und dem Zuckerbrot des verheißenen Raubes, gegen die von der Polizei für das stärkste revolutionäre Element gehaltenen Juden, Arbeiter und Studenten losgeschlagen hat. Aber damit nach der Tragödie auch das Satyrspiel zu seinem Recht komme, darf der jammervolle Eindruck dieser ganzen „Volksbewegung zur Verteidigung des Thrones und Altars" noch durch den im höchsten Grade grotesken Ausgang, den das Unwesen der Schwarzen in Moskau nahm, verstärkt werden. Dort verteilte, wie schon bemerkt, die Polizei jeden Morgen fünfzig Kopeken pro Mann. So lange alles gut ging, war es genug. Als sich aber die Selbstwehr der Studenten und Arbeiter in genügendem Umfang und mit genügendem Waffenmaterial organisiert hatte, schien der Lohn viel zu niedrig, um das Berufsrisiko zu decken. Die Herren Mörder verlangten einen Minimallohn von einem Rubel und eine Verminderung der Arbeitszeit. Alle Arbeiter in Moskau taten zu diesem Zweck dasselbe; warum sie nicht auch? Wenn die anderen Arbeiter nichts durchsetzen, streiken sie; warum sie nicht auch? Gesagt, getan. Als die Polizei, die ohne Zweifel ihre riesigen Geldmittel in ihre eigenen Taschen hatte verschwinden lassen, die Lohnerhöhung abwies, erklärten die Mörder den Generalstreik! Da die Verbindungen mit Petersburg gerade unterbrochen waren, wusste der Polizeipräfekt nicht was tun. Er wartete auf Vorschriften. Aber ehe diese ankamen, gab es keine Schwarze Schar mehr. Die unglücklichen Verbrecher waren wütend; sie hungerten und außerdem hatten sie kein Geld. Sie nahmen die ihnen von der Polizei gelieferten prachtvollen Dreißigmarkrevolver — und boten sie auf der Straße wie sauer Bier aus. Die revolutionären Gruppen kauften sie massenhaft, vier Rubel das Stück, und setzten sich so um ein Billiges in den Besitz ausgezeichneter, von der Gegenrevolution gelieferter Waffen, die im späteren Moskauer Aufstand eine prächtige Rolle gespielt haben.
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Die Judenmassacres in Kischinew (1903) . Cover

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Ein ermordetes Kind

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Eine Anzahl von erschlagenen Juden

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Eine Straße in Kischinew nach der Plünderung

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Plünderung des Judenviertels in Frankfurt am Main (1612)

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Verwundete Juden im Hofraum des Hospitals

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Weiheblatt von E. M. Lilien. Aus dem

Weiheblatt von E. M. Lilien. Aus dem "ZBORNIK" von Maxim Gorki

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