Zweck und Nutzlosigkeit der reaktionären Demagogie

Die angeführten Tatsachen genügen, um zu beweisen, dass die einzigen großen gegenrevolutionären Bewegungen, welche haben ins Werk gesetzt werden können, nicht der Ausfluss zarentreuer Stimmung irgend eines Teiles der Zivilbevölkerung gewesen sind, sondern das Ergebnis einer höfischen Verschwörung. Einige Großfürsten, Hofschranzen, Würdenträger, deren glänzende Stellung und deren uneingestehbare Einkünfte mit dem Sturz der Selbstherrschaft und der Errichtung einer nationalen Regierungskontrolle verschwinden würden, haben ihre ungeheuren Machtmittel, das Geld, das Heer und die Polizei geschickt benutzt, um den Anschein des Volkswiderstandes gegen jede politische Reform zu erwecken, und zwar des Widerstands der intellektuell am beweglichsten scheinenden Bevölkerungsklassen, des in allen sonstigen Ländern stets durchaus revolutionären Großstadtpöbels. Der Zweck der Unternehmung war, nach dem Eingeständnis ihrer Leiter, dreifach. Erstens sollte dem Zaren persönlich klar gemacht werden, dass seine Bereitwilligkeit zu politischen Reformen nicht nur ein Fehler, sondern geradezu ein vom Volke verurteiltes Attentat auf die Traditionen Russlands sei, wonach man eine sofortige Rückschwenkung zum System des reaktionären Terrors und die Einsetzung eines rein höfischen Ministeriums erhoffte. Zweitens sollten die organisierten revolutionären Gruppen wirklich dezimiert werden. Drittens sollte das gute Beispiel des Stadtpöbels die ungeheure Masse der analphabetischen Bauern, an deren blinde Anhänglichkeit an die Selbstherrschaft man kühner Weise noch glaubte, gegen die als ausländisch und ausbeuterisch gebrandmarkten politischen und sozialen Lehren der Arbeiter und der Intellektuellen aufwiegeln. Ohne jeden Zweifel haben sich die Verschwörer in allen ihren Hoffnungen getäuscht. Es ist natürlich von den moralischen „Eigentümlichkeiten" ihrer Handlungsweise abzusehen; denn mit einem Kampfe, den eine Kaste auf Leben und Tod führt, hat Moral sicherlich nichts zu tun. Solange die Politik nicht Verwaltungsgeschäfte, sondern noch Machtverschiebungen zum Zwecke hat, kann für sie nur ein Maßstab gelten: der des Erfolges. Aber sogar von diesem Standpunkte des rohen Machtkampfes aus bleibt es unbestreitbar, dass die politische Wirkung der demagogischen Gegenrevolutionsversuche den verfolgten Zielen durchaus zuwidergelaufen ist.

Ob später Nikolaus II. zur Reaktion zurückgekehrt, ob die offene Revolution in einigen Versuchen erfolglos geblieben ist, hat hiermit nichts zu tun. Denn wenn etwas derartiges eingetreten ist, so war es nicht die Folge der Demagogie, sondern einfach die eines momentanen Maximalnutzeffekts der bis zur äußersten Gefahr überheizten Staatsmaschine; nicht das reaktionäre Volk, sondern einfach die unmittelbare Zwangstätigkeit des Heeres und der Polizei, konnte den Anschein einer solchen reaktionären Rückbildung schaffen, welche eine bloße Episode nicht im Kampfe des reaktionären gegen das revolutionäre Volk, sondern des ganzen Volkes gegen die Verwaltung darstellt. Denn es hängt dabei ja alles ab von dem wirklichen "Wert der Machtmittel der Zarentreuen. Und da ist eins sicher: dass die demagogischen Umtriebe nicht vermocht haben, das Volk selbst zum „Schutze der alten Heiligen Russ" zu bewegen. Der furchtbare Misserfolg, der darin liegt, dass nur die niedrigsten Instinkte den Abschaum der Städte zu bloßen räuberischen, durchaus nicht politischen Charakter tragenden Gewalttätigkeiten haben anregen können, ist der Revolution im allgemeinen viel nützlicher gewesen, als die ruhige Entwicklung der Dinge es hätte sein können. Denn die Reaktion hat sich durch diese nicht einmal politischen Verbrecher diskreditiert. Sicherlich sind der Demagogie entsetzliche Opfermengen anheimgefallen; es sind vielleicht hunderttausend Personen physisch, fünfmal so viel wirtschaftlich zu Grunde gerichtet worden. Aber was können solche Zahlen für die Revolution bedeuten? Es sind wenigstens vier Millionen mehr oder weniger agitierender Sozialisten vorhanden und vielleicht ebensoviel konstitutionelle Demokraten. Also sind weder die Liberalen, noch die eigentlichen Revolutionäre von dem demagogischen Blutbad ernsthaft geschwächt worden. Ja, man kann viel weiter gehen, und von vornherein behaupten — trotz des gegenteiligen Eindrucks der Niederschlagung des Moskauer Aufstands im Dezember 1905 und des darauf folgenden reaktionären Schreckens — dass überhaupt eine gewaltsame Unterdrückung diese kompakte Masse von Streitern für Freiheit auf die Dauer nicht ersticken kann: denn sie wächst im gleichen Maße mit der Frechheit der offiziellen Gegenrevolution. Die schreckliche Demagogenkomödie der Schwarzen Schar hat das Volk nicht etwa eingeschüchtert; sondern sie hat im Gegenteil sogar die erbittert, welche noch an die Güte des blöden Ludwig XVI. in Zarskoje Selo glaubten. Die Gräueltaten, die im Namen dieser Monarchenkarikatur vollführt worden sind, waren ein wahrer Aufruf an die offene Revolution, eine wirkliche Ermunterung zu gewaltsamer Tat, deren sich die Führer der tatlustigen revolutionären Gruppen bedient haben, um rücksichtslos über Leichen und Trümmer gegen den bluttriefenden Thron Sturm zu laufen.


Die wilden Aufstände im Winter 1905 bis 1906 sind mit Notwendigkeit aus dieser schamlosen Provokation hervorgegangen. Die Erbitterung der Städtermassen wurde künstlich in die Höhe geschraubt, und der einzige Erfolg der ganzen demagogischen Bewegung war, die ganz extremen Parteien in ungeahntem Maße zu verstärken. Zieht man den Zeitpunkt ihres Ausbruchs in Erwägung, so darf man sich füglich fragen, ob die Leiter der zarentreuen Aufrührer im letzten Augenblick nicht diese Wirkung vorausgesehen, ja gewollt haben, um für die offizielle Gegenrevolution, die Polizei- und Militärdiktatur wie sie der Nichtmilitär und Nichtpolizist Witte hat wachsen lassen, die Bahn frei zu machen, für sie den Zaren zu bestimmen, zur Nichtausführung der promulgierten Reformukase triftige Vorwände zu gewinnen, und das alte Regime der Massenverhaftungen, Massenhinrichtungen und der Auslieferung des Volkes an eine Blut- und Schnapstrunkene Soldateska wieder in Aufnahme zu bringen.

Viele Gründe sprechen für diese Vermutung. Der gewichtigste ist der, dass nicht nur die demagogische Gegenrevolution am selben Tage ausgebrochen ist, an dem Witte dem Zaren den Ministerpräsidententitel (allerdings ohne die dazugehörige Funktion) samt dem berüchtigten lügnerischen Reformukas vom 30. Oktober abgerungen hat, sondern dass vermittelst der demagogischen Unruhen dieser Ukas tatsächlich der Beginn einer neuen höfisch-oligarchischen Ära geworden ist. Ist Witte der verantwortliche Chef der Regierung, in dieser Sache wirklich verantwortlich? Für die Rückkehr zur Reaktion sicherlich; aber für den demagogischen Ausbruch ebenso sicherlich nicht. Die Wahrheit ist nämlich, dass noch am 25. Oktober der Zar felsenfest behauptete, er würde „mit eiserner Faust dreinschlagen". Und die mutmaßlichen Leiter der voraus sichtlichen Regierung der eisernen Faust — welche ja gerade die Leiter der demagogischen Verschwörung waren — hatten schon die endgültigen Befehle versandt, die folgende Woche die ungeheuerliche Mordmaschine loslaufen zu lassen. Da die „Entscheidung", die allerdings keine war, nach einer fast ununterbrochenen sechsunddreißigstündigen Redeschlacht ohne vorherige Kenntnis der Hofpartei zu Wittes Gunsten fiel, war es unmöglich die Vorschriften zu widerrufen. Sie wurden ausgeführt, als ob der erwartete Ukas die Ausrottung aller fortschrittlich Gesinnten anordnete! Die Verschwörer machten notgedrungen gut-e Miene zum bösen Spiel; sie kamen nach einiger Überlegung auf den Gedanken, die einmal ins Rollen gekommenen Ereignisse könnten sofort dazu dienen, Witte nicht nur unpopulär zu machen, sondern ihn auch beim Zaren zu diskreditieren, den Ukas in toten Buchstaben zu verwandeln, die Wiederherstellung der Ordnung mit Truppenmacht zu erzwingen, und vor allen Dingen die wichtigste Arbeit des Ministerpräsidenten, die Ausführung des Wahlgesetzes zu verhindern.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russlands Wiederaufbau