Erstes Kapitel: Zaristische Elemente

Die Elemente, deren Zusammenwirken bei Beginn der Revolution das Leben Russlands ausmachen, können in vier Gruppen verteilt werden. Sie sind politisch, sozial, ethnisch oder psychologisch. Aber jede Gruppe macht im revolutionären Kampfe eine Wandlung ihres Wertes durch. Jede schien bis zum Beginn des mandschurischen Krieges ihre Hauptkräfte der bestehenden zaristisch-bureaukratischen Staatsordnung frei zur Verfügung zu stellen. Aber jede hat seither ihre Kräfte gespalten, und vielfach ihre besten dem demokratischen Russland der Zukunft gewidmet. Die erste große Frage, die zu untersuchen ist, bevor überhaupt an Russlands Wiederaufbau gedacht werden kann, ist die, ob das alte Russland erst einmal in seinen Grundfesten genügend erschüttert ist, um jeden Versuch des Ausflickens aussichtslos zu machen; ob die Spaltung der Volkskräfte so weit vorgeschritten ist, dass das Neue nunmehr größere besitzt als das Alte, ob — mit anderen Worten — das Zarentum noch über genügende Machtmittel verfügt, um dem Ansturm des demokratischen Wollens mit Erfolg standzuhalten. Es besaß vier große Machtmittel, das Heer, die polizeiliche Zivilverwaltung, die Finanzen und die Anhänglichkeit der geflissentlich auf das intellektuelle und moralische Niveau des Viehes niedergedrängten Bauernmassen. Wie diese vier Mächte vom Zarentum verteidigt, von den geistigen Führern des künftigen Russlands den Machthabern entrissen werden, das ist sozusagen die innere Geschichte der Revolution, von welcher die politischen Tagesereignisse nur Symptome sind. Ist ihr Mechanismus erst aufgedeckt — und es ist dies am leichtesten durch die Beschreibung der Gegenrevolution, die das Zarentum wagt — so treten die Elemente des künftigen Russlands in ihrem wirklichen Werte hervor, und können, jedes für sich, auf ihre tatsächliche Nutzbarkeit geprüft werden.

Ist das Zarentum mit seinem in Wirklichkeit ohnmächtigen Monarchen und seiner unverantwortlichen Beamtenautokratie überhaupt ein Baustein zum künftigen Russland? Es wäre es nur, wenn im revolutionären Kampfe irgend etwas von ihm übrig bliebe, wenn es in jedem Falle wenigstens auf eines seiner vier wesentlichen Machtmittel bis zum Ende rechnen könnte. Es sucht sie alle vier festzuhalten; aber mit welchem Erfolge? Die Ereignisse, die sich seit dem Sturze Wittes im Juni 1903 abgewickelt haben, sind für eine solche Untersuchung nur ein Rohstoff, eine Art Reservoir voller Symptome, in dem Gründe zu schöpfen sind. Es ist also unnütz, sie zu erzählen. Das wichtige ist ihre Bedeutung.


Es befinden sich unter ihnen zahllose Vorfälle, die von vornherein die allergrößte Aufmerksamkeit erheischen, da sie, trotz alles gegenteiligen Anscheines, wirklich tatsächlich, unwiderleglich beweisen, dass die zaristische Staatsordnung schon Ende 1905 ihr größtes Machtmittel verloren hatte, dass sie keine einzige der moralischen Grundlagen mehr besaß, welche die staatliche Autorität von den Volksmassen kritiklos, wie sie ist, hinnehmen lässt. Es sind dies die gegenrevolutionären Unruhen, die Anfänge von Bürgerkrieg, welche in die Erscheinung getreten sind, sobald unter dem Druck des Riesenstreiks vom November 1905, Graf Witte dem vor Angst ohnmächtigen Hof einige platonische Zugeständnisse an die demokratische Idee abgetrotzt hatte. Der Wert dieser Zugeständnisse, des Versprechens einer wirklichen Verfassung auf konstitutioneller Grundlage, mit einem Worte, des erweiterten Wahlrechts, welches im Ukas vom 24. Dezember offiziell proklamiert wurde, war, wie man sehen wird, gleich Null. Um so eigentümlicher musste der plötzliche unwiderstehliche Aufstand der Treugesinnten erscheinen, der vierundzwanzig Stunden nach Veröffentlichung des bedeutungslosen Ukases vom 30. Oktober ausbrach, der Witte zum Ministerpräsidenten machte. Dass diese Gegenrevolution die „natürliche Gegenrevolution" des treuen Volkes gegen den Generalstreik war, wollte der Hof wohl beweisen. Aber es war unmöglich. Das Geschmeiß der Höflinge, die Verbrechergenossenschaft der höchsten Beamten, und der Prätorianertrupp der Großfürsten hatten ja schon längst zur Theorie des Zarenoheims Wladimir gegriffen, welche aus der französischen Revolution den Schluss gezogen hatte, man müsse ,,alle Hauptstraßen des Reiches mit Galgen zieren und an diesen einige Tausende Revolutionäre aufknüpfen." Dass diese Leute mit allen Mitteln die Vertilgung der Demokraten verfolgen, war offenbar und schließlich auch erklärlich. Aber die wichtige Frage ist die, ob sie zu diesem Zwecke auf die freiwillige Hilfe eines Teiles der Bevölkerung rechnen durften. Dies hat die Regierung wirklich im Ausland vielen glaubhaft machen können. Es ist in Deutschland, Frankreich und England — allerdings von einer mit goldenen Fesseln ans Zarentum geketteten Presse — die Ansicht vertreten worden, es seien die fürchterlichen Gemetzel von Juden, Arbeitern und Intellektuellen, die hundertdreißig Städte in Blut gebadet haben, wirklich der Widerstand des russischen Volkes gegen die „vom Ausland importierten und dem wahren Slawen verhassten" Tendenzen. Aber es lässt sich, zum Schrecken der in ihren Todeskrämpfen zitternden Staatsordnung, nachweisen, dass dieser, „natürliche" Aufstand der Treugesinnten gegen die Revolution bloß ein letzter Versuch des Hofes ist, noch einmal alle vier alten Machtmittel, das Heer, die Polizei, das Geld und die Dummheit des Pöbels zum Verteidigungskriege zusammenzuraffen. Ist dies nun der Fall, so drängt sich der Schluss auf, dass die Revolution siegen muss, sobald eines dieser Kampfmittel den Dienst versagt. Es ist also zu untersuchen, ob die Gegenrevolution vom Volke getragen wird. Wenn nicht, bleibt nur noch festzustellen, inwieweit das Heer, die Polizei, die Finanzen und die Bauernmasse noch dem Zarentum nützen können. Ist zu beobachten, dass dieser Nutzen immer geringer wird, so ergibt sich mit zwingender Notwendigkeit, dass ein anderes Russland zu organisieren und sein Plan auszuarbeiten ist.

Es erschien angebracht, diese Methode der Beweisführung klar darzulegen, da es sonst wirklich verfrüht erscheinen könnte, zu einer Zeit von Russlands Wiederaufbau zu reden, da die Zerstörung des alten Gebäudes noch längst nicht vollendet ist. Die Methode entschuldigt die Schlüsse.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russlands Wiederaufbau
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