Einleitung

Es ist geradezu ein Gemeinplatz geworden, die Geburtswehen des künftigen Russlands mit den Krämpfen der französischen Revolution zu vergleichen. Wie alle Spießbürgeraphorismen hat dieser seine Entschuldigung bloß in der Unwissenheit derer, die ihn aussprechen. Trotzdem hat er mit der Zeit, gerade wegen seiner Oberflächlichkeit Gewicht gewonnen und drückt verderblich auf die öffentliche Meinung in Europa. Die einen, Parteigänger der theokratischen Staatsordnung, verurteilen nicht nur die Begleiterscheinungen der revolutionären Volksbewegung, sondern auch das reaktionäre Zarentum, das „aus der französischen Revolution nicht die notwendigen Lehren gezogen habe"; sie malen das Gespenst eines neuen roten oder weißen Terrors an die Wand, und prophezeien die Diktatur der Volkstribunen oder der Prätorianer. Die anderen, deren Sympathien durchaus für die Freiheitsbewegung sprechen, werfen der revolutionären Menge vor, sie wisse nicht, was sie wolle, sie verstehe nicht mit demselben Eifer und derselben Geistesgegenwart zu handeln wie die Franzosen, sie sei vor allen Dingen unfähig, die „großen entscheidenden Schläge" vorzubereiten und zu schlagen, welche aus der Entfernung eines Jahrhunderts betrachtet, allerdings der französischen Revolution ihr mächtiges Gepräge aufzudrücken scheinen, die aber in den Augen der Zeitgenossen ohne Zweifel viel weniger groß und besonders viel weniger entscheidend ausgesehen haben, als man vermuten könnte. Natürlich steht es jedem frei, die russische Revolution mit der französischen vom Jahre 1789 zu vergleichen. Man kann zur Not sogar zwischen diesen beiden größten sozialen Umwälzungen der modernen Zeit eine ungewisse Parallele ziehen. Aber wenn man nicht das Jahrhundert des großartigsten intellektuellen und technischen Fortschritts, das wir kennen, als belanglos übergehen kann, so darf man auch nicht in den Ereignissen des achtzehnten Jahrhunderts Beweisgründe schöpfen zur Beurteilung oder gar zur Leitung derer des zwanzigsten.

Die russische Revolution ähnelt der französischen höchstens in den allgemeinen Linien ihrer Entwicklung, welche bei allen erfolgreichen politischen Umwälzungen die gleichen sind. Sie schreitet stoßweise vorwärts und wird von gegenrevolutionären Perioden unterbrochen. Sie entreißt dem zu Tode getroffenen Machtsystem immer weitere, immer „unheilbarere" Freiheiten, und sie verteidigt das Eroberte mit immer steigender Erbitterung gegen die Versuche gewaltmäßiger oder hinterlistiger Rückentwicklung. Sie zerstückelt die selbstherrliche Staatsgewalt durch wiederholte Siege in Einzelfragen; und wenn sie sie auf diese Weise schließlich ihrer wesentlichen Machtmittel beraubt hat, stürzt sie mit einem letzten Stoß das ganze Gebäude. Aber weiter geht die Ähnlichkeit zwischen den Revolutionen von 1789 und 1905 nicht. Schon die Nebeneinanderstellung der Jahreszahlen lässt ihre tiefsten Unterschiede fühlen. Diese betreffen zwei Klassen von Tatsachen; die einen sind technisch, die anderen psychologisch. Jeder soziale Kampf wird belebt durch die Kombination zweier durchaus heterogener Kräfte, die der Idee, welche zum Kampf treibt, und die der technischen Kampfmittel, welche die Gegner ins Treffen führen können. Je schwieriger die Ideen, welche die Kämpfer gegeneinander treiben, sich auf einem Zwischenboden neutralisieren können, je tiefer der Unterschied in der Lebensauffassung hegt, um so unversöhnlicher, erbitterter muss sich der Streit gestalten; je größer, komplizierter, wirksamer die technischen Mittel sind, die jedem zu Gebote stehen, um so länger muss die Schlacht unentschieden erscheinen.


Die Ideen, Ideale, Wünsche und Leidenschaften, die in Russland sich gegenwärtig bekämpfen, sind unendlich viel schwieriger zu versöhnen als die, deren Zusammenprall die französische Revolution ausgemacht hat. Das autokratische Regierungssystem, das in Russland seinen Todeskampf kämpft, ist ja seiner Natur nach um mehrere Jahrhunderte sogar hinter der absoluten Monarchie der Bourbonen zurückgeblieben; es stellt eine theokratische Staatsordnung dar, wie Westeuropa sie nur im Mittelalter gekannt hat. Und gegen dieses anachronistische System erheben sich demokratische Tendenzen, die im Grunde genommen den relativ bescheidenen Forderungen der französischen Bürger des achtzehnten Jahrhunderts kaum noch ähneln. Alles was Westeuropa seit 1789 erobert und erworben hat; mehr noch, alles was in Westeuropa an gesellschaftlichen Idealen konstruiert und noch nicht in die Wirklichkeit übertragen ist, das wollen die revolutionären Volksmassen in Russland fix und fertig in ihrer staatlichen Organisation lebendig werden lassen. Es ist nicht mehr ein Dritter Stand, der seine politische Befreiung verlangt. Es ist ein Vierter, ja ein Fünfter Stand, das Proletariat der Industrie- und Landarbeiter, der seine soziale Befreiung erkämpfen will. Eine einfache politische Reorganisation des Staates würde überhaupt die Einigkeit der Nation nicht mehr herstellen, ja sogar nicht einmal mehr eine Herrschaft des Dritten Standes mit den wütenden Forderungen der verelendeten Massen aussöhnen können. Nur eine soziale Reorganisation, eine soziale Revolution kann den gordischen Knoten der Zukunft Osteuropas lösen. Daher wäre es von vornherein eine Selbsttäuschung, wenn man die Überzeugung annehmen wollte, der Streit könne mit Hilfe vieler gegenseitiger Konzessionen geschlichtet werden. Die Divergenz der Prinzipien, die einerseits das Zarentum, andererseits die zum politischen Denken schon erwachten Volksmassen beherrschen, ist absolut. Man müsste sich, den englischen oder französischen Arbeitersyndikalismus in die Epoche der mittelalterlichen Feudalherrschaft zurückversetzt denken, um sich einen Begriff von dem unwiederbringlichen Gegensatz der Tendenzen zu machen, die in Russland im Streit liegen. Nichts ist also weniger verwunderlich als die unerhörte Erbitterung, die Wildheit, das Primitive, Naive, Zynische, Außervernünftige, welches sich beiderseits seit Beginn des Kampfes in den alltäglichen Handlungen und Entschlüssen der Streitenden zeigt. Das zwanzigste Jahrhundert stürzt sich in wütendem Ansturm gegen das Mittelalter. Aus einer solchen Schlacht kann nicht so etwas hervorgehen, wie die weisen Auguren Kultureuropas es voraussagen: „eine Entwicklung auf den gegebenen historischen Grundlagen", oder „eine allmähliche Umgestaltung", die man höchstens als „sehr schnell" ansehen will, aber die doch alle im westlichen Europa im Laufe von Jahrhunderten beobachteten Übergänge hübsch ordentlich einen nach dem anderen durchmachen soll. Diese doktrinären „historischen Grundlagen" existieren nämlich gar nicht; das Zarentum hat, wie gezeigt werden wird, alles getan, um sie zu zerstören. Eine „Entwicklung" wäre wohl noch möglich, wenn irgend ein Berührungspunkt zwischen den Mächten der Vergangenheit und den Mächten der Zukunft bestände; dann würde man vielleicht eine Notleine flechten, die ohne Unterbrechung von dem jetzigen Zustande zu dem vom Volke gewünschten ginge; und die Gegner würden sich Schritt nach Schritt diesem Bande entlang einander nähern. Aber es wird sich zeigen, dass und warum die plötzliche Nebeneinanderstellung einer sozialen Utopie und einer schrecklichen theokratischen Wirklichkeit diese Übergänge ausschließt. Das russische Volk — und nicht die Halbeuropäer der freisinnigen Bürgerschaft und Aristokratie — zuckt die Achseln über die Fiktion der „historischen Notwendigkeiten"; und die nichtrussischen, vom Zarentum bloß unterjochten Völker finden „historische Notwendigkeiten" nur gegen das Zarentum. Sie alle wollen sich ohne Rücksicht auf was es auch sei, nach ihrem Beheben zu neuen Gemeinwesen organisieren. Sie alle fühlen Widerstand. Einfältig, wie sie sind — und im besten Sinne — kommen sie ohne weiteres zur Überzeugung, alles Bestehende müsse zunächst einmal zerstört werden, damit aus den Ruinen sich von selbst das soziale Gebäude ihrer Träume erhebe. Es ist dieser anarchische Charakter des revolutionären Russlands, welcher höchstwahrscheinlich die Ereignisse und ihre Entwicklung beherrschen wird; denn er ist im Grunde nur der notwendige konkrete Ausdruck der Unmöglichkeit, eine neue stabile Ordnung der Dinge auf die Zusammenschichtung der alten Theokratie und der im Volke lebendig gewordenen utopischen Ideen zu gründen. Es muss also die Wahrheit, wie sie ist, hingenommen werden: die russische Revolution muss wilder und langsamer als jede andere fortschreiten, gerade weil sie später kommt. Das revolutionäre Russland umschließt Kräfte und benutzt Mittel, die zu keiner anderen Zeit und an keinem anderen Orte haben lebendig werden können.

Russlands Wiederaufbau ist also nur nach, den Grundsätzen einer ganz neuen politischen Architektur möglich, da jeder zu verwendende Baustein neue, bisher unbekannte Eigenschaften besitzt, und der Mörtel, der allein sie vielleicht zu einem standfesten Gebäude zusammenkitten kann, noch niemals im großen verwandt worden ist.

Das gegenwärtige Russland, so wie es sich in seiner furchtbar-schönen Vielgestaltigkeit seit dem Beginn der Revolution offenbart, begreift eine ungeheure Menge sozialer, politischer, ethnischer, psychologischer Elemente, deren jedes im Reiche der Zukunft einen vornehmen Platz beansprucht. Welches ist der Wert jedes dieser Elemente? Welche sind verfault, und welche können Ecksteine werden? Wie sind die halb verdorbenen zu retten, was ist an ihnen herauszuschneiden, damit sie nutzbar bleiben? Wie sind schließlich alle zu behauen, damit sie zu einem einzigen Riesenbau zusammengefügt werden können? Und wie ist — höchste Frage — der Mörtel anzurühren, der sie alle gleich fest zusammenzuhalten imstande sein wird?

Das Riesenproblem der Reorganisation Russlands tut sich hier in seiner ganzen Größe auf. Es ist unmöglich, es mit mathematischer Sicherheit zu lösen. Aber es wäre schon viel, wenn nur die Gleichung aufgestellt werden könnte, deren diophantische Lösung bloß noch die Auswahl zwischen wenigen sicheren Antworten lässt. Und dies wird möglich, wenn die wesentlichen Elemente, die jedenfalls in sie zu treten haben, einzeln mit genügender Schärfe definiert werden. Im chaotischen Russland, wie es zu Anfang des Jahres 1906 war, wuchern alle diese Elemente, positive, negative, und ihrem Werte nach unbestimmte, wüst durcheinander. Die Aufgabe ist, jedes an seinen Platz zu stellen, zu untersuchen, auf welche Seite der Gleichung es gehört, und wie es ihre Lösung beeinflussen muss.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russlands Wiederaufbau
Moskau - Armenküche

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Moskau - Basilius-Kathedrale

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Moskau - Bettler und Obdachlose wärmen sich am Feuer

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Moskau - Bettler vor der Kirche

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Moskau - Blick auf den Kreml

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Moskau - Die Börse

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Moskau - Der Kreml

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Moskau - Die Zaren-Glocke

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Moskau - Die Zaren-Kanone

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Moskau - Droschkenkutscher

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Moskau - Ein reicher Händler mit seiner Frau

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Moskau - Empfang im Kreml

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Moskau - Feuerwehr im Einsatz

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Moskau - Glockenspieler

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