Russlands religiöser Charakter

Auch Russland hat sein Schicksal in sich selbst.

Warum hat die russische Regierung in den letzten fünfundzwanzig Jahren die Berührung mit dem Westen so viel wie möglich erschwert? Warum zog der Kaiser, als die Politiker prophezeiten, dass er für seine, den Österreichern geleistete Hilfe sich einige Provinzen aneignen werde, seine Armee aus Ungarn eben so prompt zurück, als er sie auf Österreichs Aufforderung zu Gebot gestellt hatte? Warum lässt er Preußen und Österreich sich nicht unter einander zerfleischen? Warum will Nikolaus nicht die vorteilhafte Gelegenheit, die ihm ein deutscher Krieg zur Erweiterung seiner Macht und der russischen Grenzen geben würde, benutzen? Warum bemüht er sich, die Zwistigkeiten der deutschen Staaten in Frieden beizulegen, anstatt den Vorteil zu ergreifen, den ihm die offene Feindseligkeit zwischen ihnen bieten würde? Warum ist sein Wille der Wall, der die französische Flut, die über die deutsche Grenze sich ergießen möchte, zurückstaut?


Der Zar weiß es, dass auch seine Anstrengungen für die Erhaltung der Ruhe des Kontinents seine Diktatur befestigen und zur Anerkennung bringen, und er begnügt sich mit dieser friedlichen Stellung und Machtäußerung. Als Russe ist er dessen gewiss, dass sein Volk eine große, ja, die entscheidende Rolle zu übernehmen haben, dass es seine größte welthistorische Tat vollbringen wird, wenn die innere Auflösung des Westens zu jener blutigen Verwirrung fortgehen wird, die die bewaffnete Intervention des Ostens nötig macht. Aber er weiß auch, dass diese Zeit noch nicht da ist — er übereilt nichts, hat noch nie Etwas übereilt und wahrscheinlich fühlt er, dass jene entscheidende Intervention in dem zerrissenen Westen auch für sein Volk eine Krise zur Folge haben wird.

Das eigentümliche innere Lebensprinzip, welches die gegenwärtige Stellung Russlands möglich macht und ihm noch eine größere Rolle für die Zukunft anweist, setzt dem russischen Volksgeist zugleich seine Schranke und ist, wenn die Grenze zwischen dem Osten und Westen vollends fällt, selbst einer gefahrvollen Kollision ausgesetzt.

Der Grieche ist mit seinem schöpferischen Genius, seiner Kunst und Wissenschaft der Lehrer der Menschheit geworden; der Römer hat mit seiner organisierenden Kraft den Weltkreis als ein zusammenhängendes Ganzes erst geschaffen; der Germane hat mit seinem Selbstgefühl der neuen Welt ihre Grundlage gegeben; das russische Lebensprinzip gehört dagegen in seiner bisherigen Form Russland allein an — das Übergewicht, welches es dem russischen Volke über den zersplitterten und aufgelösten Wesen gibt, enthält zugleich sein eignes Fatum in sich — der Sieg, den es zur Folge hat, muss seine Reinheit und Kraft angreifen und wird somit für das russische Volk und Lebensprinzip selbst zu einer tragischen Lebensfrage.

Es handelt sich um den religiösen Charakter des russischen Lebens.

Das religiöse Leben des Germanen, in dem das Christentum seinen großartigsten Ausdruck gefunden hat, ist der Kampf einer stolzen und mächtigen Individualität mit sich selbst, der Kampf der Selbstverleugnung und Selbsteroberung, eine innere Selbstzerspaltung, die die Wiedergeburt des Individuums zu einem mächtigen und kräftigen Selbstvertrauen zur Folge hat. Zu diesem germanischen religiösen Leben, wie es im Mittelalter seine klassische Ausarbeitung erhalten hat, gehört außer dieser inneren Spaltung die Schöpfung zweier Welten, die Aufrichtung zweier Autoritäten und Gewalten, von denen die eine die Überlegenheit der Moral über die Politik, die Universalität des Geistes gegen die beschränkten Zwecke des Staats begründet und sicher gestellt hat.

Von alle dem findet sich im religiösen Leben des Russen nichts. Es kennt keine innere Spaltung, noch einen inneren Kampf — es ist in sich selbst etwas Ganzes, ein unwillkürliches inneres Gefühl, welches jedem Russen als solchem eigen ist und durch eine innere Geschichte oder durch einen geistigen Kampf weder erzeugt, noch genährt zu werden braucht. So kennt auch die Religion des Russen keinen Gegensatz zwischen einem geistlichen und weltlichen Reich. Sein ganzes Leben, sein ganzer Lebensbesitz ist unmittelbar und als solcher von der Religion durchdrungen und bestimmt — die Familie, die Gemeinde, das ganze Land mit seiner nationalen Hauptstadt, der „Mutter" Moskau, endlich der Zar, als der Vater der ganzen Volksfamilie — das Alles hat unmittelbare religiöse Bedeutung, während auf der andern Seite die Gottheit selbst nationalisiert ist. Russland ist das „heilige" Russland — (siehe z. B. die kaiserliche Proklamation vom 26. März 1848) — die revolutionierten Völker des Westens sind „Heiden" — (siehe dieselbe Proklamation) — und in den Völkern, mit denen der Russe in Krieg tritt, bekämpft er die Rebellen, die sich gegen seinen Gott und Zar empört haben. Kurz, der Russe hat seinen eignen, den „russischen" Gott — (Ruski Bog.).

Das westliche Europa entsetzte sich fast, als Souwarow auf seinem italienischen Feldzuge den russischen Gott als seinen eignen anrief. Die Aufgeklärten jener Zeit hielten dieses Beiwort für einen jener kühnen und extravaganten Ausdrücke, an denen dieser Feldherr so reich war. Aber das Wort ist ernst, voll von russischem Ernst — ruski Bog ist für den Russen dieselbe Realität, wie es der Jupiter capitolinus für den Römer war.

Eine Folge vom unwillkürlichen Charakter seiner Religiosität ist es, dass der Russe im Allgemeinen nichts von detaillierten Dogmen weiß, nicht einmal von denen, die seine Kirche von der römisch-katholischen unterscheiden.

Interesse für Dogmen findet sich nur unter den Sekten und zwar fast allein unter denjenigen, die sich zum Gnostizismus neigen und ihr rohes gnostisches System entweder aus der Überlieferung des christlichen Altertums oder aus orientalischen Quellen entnommen haben. Die Starowerzen dagegen, die bedeutendste und einflussreichste Sekte, sind auch in dieser Beziehung vollständig Russen geblieben, d. h. sie kümmern sich nicht um Dogmen und behaupten nur gegen den kirchlichen Gebrauch, der im Anfang des vorigen Jahrhunderts eingeführt ist, das alte Ritual — sonst aber denken sie nicht daran, sich von dem russischen Gott, der religiösen Nationalität und der National-Religion abzusondern.

Selbst die Gebildeten, die die europäische Aufklärung angenommen haben, die Zöglinge der französischen Kultur, die bis zum Atheismus fortgegangen sind, können nicht wie ihre Gesinnungsgenossen im Westen daran denken, sich von aller Sympathie mit der Kirche loszureißen. Es wäre für sie sogar unmöglich, denn dieser Bruch würde für sie mit Trennung von ihrer Nationalität und Verzichtleistung auf ihr ganzes russisches Wesen gleichbedeutend sein. Der Atheist fällt mit derselben leidenschaftlichen Aufregung vor dem Heiligenbilde nieder, wie der gemeine Russe.

Eben so wenig, nur mit äußerst seltenen Ausnahmen, wirken die russischen Geistlichen als religiöse Lehrer. Ihr einziges Geschäft ist die Verrichtung der Liturgie und die Verwaltung der Sakramente. Sie predigen so gut wie fast gar nicht.

Die Seelsorge könnte nur unter der Voraussetzung eine priesterliche Verpflichtung bilden, dass der Russe in seinem Nationalitätsprinzip nicht mehr fest gegründet, dass er nicht mehr ganz, nicht hinreichend Russe ist. Aber er ist ja Russe — was bedarf es noch der Frage, ob er es ist — wozu sich erst noch bemühen, ihn zum Russen zu machen?

Und predigen? Was und wozu? Braucht der Russe erst noch in Grübeleien eingeführt zu werden, um seines Heils gewiss zu werden? Ist es für ihn noch eine Frage, ob sein Heil sicher ist? Soll er sich am Ende in die Angst und Qual des Pietismus stürzen und darüber sinnen, ob er wirklich erlöst ist?

Nichts von alle dem braucht der Russe; er ist von Hause aus ein eignes, von der übrigen Menschheit unterschiedenes Wesen, Russe — das ist genug — ein ganzes, abgeschlossenes, mit sich fertiges Wesen, welches von Grübeleien nicht gestört wird und sich nicht erst selbst zu studieren braucht — ein Wesen, welches zum Handeln bestimmt und entschlossen ist, sich Andern fühlbar zu machen.

Auch für theologische Wissenschaft bietet also Russland kein Feld dar. Sie würde den Zweifel voraussetzen; aber der Glaube ist so fest gegründet und steht so unzweifelhaft da, wie die russische Nationalität selbst; er ist von der Tradition so zuverlässig überliefert, als eine Generation von der andern ihr Nationalitätsprinzip erhalten hat.

So hat sich die russische Kirche als ein ungebrochenes, unerschüttertes Wesen behauptet — ungebrochen durch irgend Etwas, was nur im Entferntesten der Reformation gliche; unberührt von der Wissenschaft, unbekannt mit allen Gefahren, mit denen die westlichen Kirchen bis jetzt zu kämpfen hatten.

Sie ist noch eben so das Lebensprinzip und Bollwerk des Russen wie im Mittelalter, als sie ihn unter der Mongolenherrschaft beschirmte, in Polen das Papsttum bekämpfte und Russland aus dem ganzen wissenschaftlichen, politischen und moralischen Leben des Okzidents herausriss.

Das Papsttum des Mittelalters gab den Nationen des Westens das Bewusstsein, dass sie zu einander gehören, Eine Welt bilden, eine gemeinsame Aufgabe zu lösen haben. Der Umstand, dass Russland während des Mittelalters gegen das Papsttum sich in sein Selbstgefühl einschloss, hat zur Folge gehabt, dass es Europa noch jetzt als ein bloßer Zuschauer gegenüber steht, mit keinem seiner Interessen und Kämpfe sympathisiert und von ihnen unberührt ist.

Diese Freiheit seiner Position, dass es Nichts von alledem will, was die Kräfte des Westens in Anspruch nimmt, zersplittert und aufzehrt — diese theoretische Uninteressiertheit, diese Fertigkeit mit sich selbst, diese Ganzheit und innere Abgeschlossenheit bestimmt Russland zu seiner herrschaftlichen Stellung.

In seiner Kraft liegt aber auch zugleich das Gesetz, das seine Schranke bestimmt. Seine Kirche ist der Beweis, dass es nicht die Kraft der früheren welthistorischen Nationen hat, die die eroberten Kirche sich assimilierten und für ihre Religion gewannen. Die russische Kirche kann weder den katholischen Adel Polens gewinnen, noch den lutherischen der Ostseeprovinzen, noch die lutherische Bürgerschaft der finnischen Städte. Selbst noch im jetzigen Katholizismus trifft sie auf die Reminiszenz eines Grundsatzes der Universalität, dem ihre Nationalität — noch im jetzigen Protestantismus auf die Reminiszenz eines inneren Seelenkampfes, dem ihre Unmittelbarkeit nicht gewachsen ist.

Und wenn Russland seine Aufgabe vollendet und um sie zu vollenden, seine Völker wieder in den Westen geführt hat, wenn seine Gläubigen mit der Auflösung des Westens in dauernde Berührung kommen, wird sich dann die Ungebrochenheit seiner Kirche und nationalen Religiosität noch behaupten können? Wird sein Sieg nicht auch sein Fatum werden?

Diese Frage wird ihren verhängnisvollen Charakter vollständig entwickeln, wenn wir das Verhältnis des russischen und germanischen Lebensprinzips ins Auge fassen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland und das Germanentum - Band 1