Die russische Nationalität

Wenn Russland, was die Größe der äußern und natürlichen Begabung und Ausstattung, was den äußern Umriss der Lebensform und die Begünstigung betrifft, die in der Stellung und im Verhältnis zur bisherigen Geschichte gegeben ist, nur an Nord-Amerika seine Parallele hat — (beide gleich jung — beide ohne Mittelalter in ihrer Geschichte — beide mit einer verhältnismäßig dünnen, aber riesenhaft anwachsenden Bevölkerung — beide nach demselben großartigen geographischen Maßstab angelegt — in beiden derselbe kolossale Charakter der Ebenen und Stromgebiete) — so steht Russland doch einzig in seiner Art durch das geistige Kapital da, welches es in dem ursprünglichen Nationalstamm seiner Bevölkerung besitzt.

Eine ähnliche riesenhafte Grundlage für seine zukünftige Herrschaft hat noch kein historisches Volk besessen. Während der nationale Stamm, von dem Griechenlands Herrschaft ausging, nur ein kleiner Männerhaufe, das nationale Stammkapital, welches für Roms Weltherrschaft die Grundlage bildete, ursprünglich von der Feldmark einer einzelnen Stadt umschlossen war, Englands Herrschaft von der normannischen Aristokratie und zwei bis drei Millionen Sachsen begründet ist und in Österreich das deutsche Element bis jetzt immer noch zu kämpfen hat, um seine Suprematie über die Nationalitäten, die den Gesamtstaat bilden, zu behaupten, bildet eine Nation, die durch Sprache, Sitten und Gewohnheiten, Religion und politischen Enthusiasmus auf das Engste verbunden ist, von dem ungeheuren Territorium nur einen kleinen Raum einnimmt, aber mehr als zwanzig Millionen Seelen zählt, den Stamm des Zarenreichs und ein riesenhaftes herrschendes Element.


Und was noch mehr ist, dieses Element ist keineswegs ungemischt.

Nur die Rassenmischung kann jene intellektuelle und moralische Elastizität, jenen weit reichenden Blick und Unternehmungsgeist erzeugen, die einem Volk die Kraft zur Weltherrschaft geben. Diese Einheit allein, die aus der Mischung verschiedener Nationalitäten hervorgeht, machte die Erreichung jener geschichtlichen Stellung möglich, die die Griechen, Römer, Spanier, Franzosen, Engländer eingenommen haben; selbst die Germanen haben in ihrem Kampf mit den Kelten, Slawen und Finnen ihre Rassenreinheit verloren und so die Kraft gewonnen, um eine Rolle in der Welt zu spielen und jetzt noch sind die einzig mächtigen und historischen Staaten in Deutschland Preußen und Österreich, deren erobernder Stamm eine reichere Mischung enthält, während diejenigen Stämme, die die ursprüngliche Deutschheit beibehalten haben, es zu keiner Herrschaft und Weltbedeutung bringen konnten.

Wohlan! so hat sich der ursprünglich slawische Russe im Norden mit den finnischen Rassen, im Süden mit den Mongolen und Tartaren gemischt und die ersten Eroberer und eigentlichen Gründer des Staats haben den kräftigen Zusatz des normannischen Blutes hinzugebracht — eine reiche Mischung, die allein mit der englischen Verschmelzung der Eingebornen, der Sachsen, Dänen und französierten Normannen verglichen werden kann und notwendig eine weltbestimmende Macht hervorbringen musste.

Ihm allein eigentümlich ist aber die Art und Weise, wie der Russe den Grund und Boden für seine zukünftige Herrschaft gewonnen hat.

Er hat es als Kolonist getan. Er ist der unwiderstehlichste und ausdauerndste Kolonist, den die Welt bis jetzt gekannt hat — von einem verhältnismäßig beschränkten Territorium ausgehend, hat er fast den siebenten Teil des Erdbodens in sein Kolonialsystem hineingezogen.

Die Germanen haben sich auch über den Westen und Süden von Europa verbreitet — aber als Eroberer und nachdem sie Britannien, Gallien, Spanien, Italien den Römern abgenommen hatten, dachten sie nicht daran, ihre Eroberung mit einem Mutterlande zu vereinigen, und bildeten sie vielmehr nach der Vermischung mit den vorgefundenen Bevölkerungen neue Nationalitäten.

Kalifornien und Texas sind ein Beweis von der Kraft, mit der sich die nordamerikanischen Staaten noch jetzt erweitern, aber diese Kraft der Strömung rührt nicht allein von dem Lebensprozess eines abgeschlossenen Volks-Individuums her, sondern ist durch den ununterbrochenen europäischen Zufluss bedingt. In ihrer gegenwärtigen Gestalt sind diese amerikanischen Kolonien das gemeinsame Werk von Europa — in Kalifornien vereinigt sich sogar in diesem Augenblicke der asiatische Zufluss mit dem europäischen.

Der Russe dagegen hat seinem Kolonialsystem den Stempel einer unzerstörbaren Einheit aufgedrückt, stach seinem Eintritt in die Geschichte breitete er sich über die ungeheure Ebene zwischen dem Nord- und dem schwarzen Meer, zwischen dem Ural und der ungarischen Grenze aus — aber er blieb jederzeit derselbe und in Verbindung mit seinem Ausgangspunkte. Er ist Nomade und zugleich für die Beständigkeit geboren — er breitet sich aus und bleibt gesellschaftlich und der Bruder seiner Genossen in der Heimat — er zerstreut sich und bleibt homogen — er ist ein Freund von Abenteuern und weitreichenden Unternehmungen, sein Herz hängt nicht wie das des Germanen an seiner besonderen Heimat, an seinem Dorf oder seiner Stadt, aber er ist unablöslich an das Ganze, sein Vaterland, sein Volk, seine nationale Rasse gekettet und wohin er auch gehen und kommen mag, wenn ihn sein nomadischer Abenteurertrieb durch Asien bis nach Kamschatka führt, so hängt er an Russland, bleibt er Russe, gründet er russische Provinzen und verändert er die Ureinwohner in Mitrussen.

Der ins Weite strebende und unternehmungslustige Russe hat beständig und überall ein Ganzes über sich, dem er sich einfügt und unterordnet — ein Ganzes, ohne welches er sich nicht zu denken vermag, durch das er lebt, dem Alle sich in gleicher Weise unterordnen, welches also auch sie Alle gesellschaftlich gleich macht.

Diese Einheit des Bodens, des sittlichen Lebens, des Gefühls und Bewusstseins beruht auf der Familie. Die russische Familie ist zugleich Beides, das Urbild und das Abbild des nationalrussischen Volksstaats. Das Haupt, der Vater oder nach dessen Tode der älteste Bruder hat allein die Disposition über das Vermögen, welches der Familie gehört, und unter seiner Herrschaft gilt unbedingte Gleichheit der Rechte. Die erweiterte Familie ist die Gemeinde, die in höherem Sinne Herr des Grund und Bodens ist, den Einzelnen, aber jeden mit gleichem Recht und Anteil wie das andere Gemeindemitglied zum bloßen Nutznießer macht und von Zeit zu Zeit, um Ungleichmäßigkeiten zu verhüten, die Verteilung reguliert. Als Ganzes endlich, d. h. als das Gebiet der russischen Nationalität gehört Russland der Gesamtheit der Gemeinden und bildet es eine Familie, die im Zar ihren Vater besitzt, dem also auch die unbeschränkte Disposition über Alles zusteht und vor dem alle Mitglieder der Volksfamilie gleich sind.

Innerhalb dieses Ganzen, welches ihn umgibt und dem er unerschütterlich vertraut, bewegt sich der Russe mit einer Freiheit und Sicherheit, von der die Angst, mit der das deutsche Bürgertum in dem peinlichen Codex seiner Gewerbegesetze sich zu schützen sucht oder die Vormundschaft seiner Regierungen auf sich herabsteht, kaum eine Vorstellung hat und die nur noch an dem Selbstvertrauen und an den Dimensionen der nordamerikanischen Bewegung und Unternehmungslust ihre Parallele besitzt. So wie er in die Geschichte trat, war der Russe auf die Umfassung und Berechnung großer Dimensionen angewiesen — von der Weichsel bis Kiachta hat er sich das gigantische und wohl zusammenhängende Gebiet geschaffen, welches sein weiter Blick verlangt, und er durchzieht dasselbe mit der Lust des Nomaden, mit der Kühnheit des Spekulanten und mit der Sicherheit eines Menschen, der da weiß, dass er als Mitglied seiner Gemeinde ein eben so berechtigtes Kind dieses Ganzen, wie jeder Andere seiner russischen Brüder ist.

Denselben Gegensatz, dieselbe reiche Kombination wie seine dem Extremen und Exzentrischen zustrebende Unternehmungslust und sein Zusammenhang mit dem Zentrum, bildet seine geduldige und sanfte Natur und dabei zugleich das Selbstgefühl und die unerschöpfliche Kraft, die das Wort „unmöglich" nicht anerkennt.

Die raffinierte, überlegende Grausamkeit, die dem westlichen Feudalen eigen ist und im Verließ der adligen Burgen wohnte, ist dem Russen fremd — er schlägt nieder und vernichtet, aber quält nicht und kann sich mit seinem Gegner nach dem Kampfe leicht wieder arrangieren.

In der fröhlichen Ausfüllung des Augenblicks lässt er sich durch keine Sorgen und Grübeleien stören, durch keinen geistigen Kummer und Unmut beunruhigen. In seinen Geschäften und Unternehmungen leitet ihn ein schneller Blick — in der Ausführung ist er elegant — die Arbeit selbst interessiert ihn nicht — er will so schnell wie möglich das Resultat genießen, aber er scheut auch nicht Gefahr und Anstrengung,

Er hängt nicht an seinem Werk; wenn es fällt, fragt er nicht schmerzlich danach und geht zu einem neuen über oder hilft den Gebrechen und Mängeln durch das Selbstvertrauen ab, mit dem er sich zurecht hilft; aber er setzt auch wieder Alles und sich selbst daran, wenn es dem Zweck und der geschichtlichen Bestimmung seines Volkes gilt, und wenn der Vater der Gesamt-Familie, der Zar entschieden hat und befiehlt, so folgt er unbedingt und rücksichtslos und denkt er nicht daran, das Ensemble, aus dem der Kaiser entscheidet und welches das ausschließliche Vorrecht desselben bildet, mit seinem Räsonnement zu stören oder zu lähmen. Das gemeinsame Werk seiner Nation ist das Einzige, an dem er unerschütterlich hängt und an dessen Durchführung zu zweifeln ihm eine Unmöglichkeit ist.

Wenn diese Unterordnung unter das Ganze und den vom Zaren repräsentierten Staat an Sparta und an Platos ideales Staatswesen, überhaupt an die antike Allmacht des Staats erinnert, so kann auch die Beweglichkeit des Russen und seine lebhafte Unternehmungslust nur dem gleichgestellt werden, was wir von den alten Griechen gehört haben. Selbst die Gesichtsbildung der Russen gleicht der der Hellenen in dem Grade, dass mehrere Ethnographen sich dadurch zur Annahme berechtigt glauben, dass beide zu einer und derselben Rasse gehören. Gewiss ist aber, dass die Eleganz auch der gemeinen Russen in Haltung und Benehmen, ihre Geschmeidigkeit, ihre Liebe zum schönen Schein, ihr Geschick der Darstellung, die Anmut und Kühnheit der Bewegung zugleich, die sie bei ihren Volksfesten entwickeln, ihr Witz und ihre Neigung zum Handel die entsprechenden Eigenschaften der alten Griechen modernisiert uns vor Augen stellen — nur lebt der moderne Grieche zugleich für einen römischen Zweck.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland und das Germanentum - Band 1