Das russische und germanische Lebensprinzip

In seinem Gegensatz zu den andern Kulturformen wird das russische Lebensprinzip seine Eigentümlichkeit am klarsten darstellen.

Die Gottheit und der menschliche Richterspruch — das Fatum und der eigne Kampf und Entschluss — die Natur und der Pakt — die Notwendigkeit und die freie Soziabilität waren die Stifter der Staaten des Altertums. Athen, Sparta und Rom existierten gleichsam von selbst, durch eine gewisse Naturnotwendigkeit; ihre Existenz hing so wenig von menschlichem Willen und Belieben ab, als die Gottheiten selbst, die ihre Seele bildeten; ihre Existenz verstand sich eben so von selbst, wie die der Minerva und des Jupiter Capitolinus. Die einzige innere Frage dieser Staaten war die, wie weit die Einzelnen an den öffentlichen Angelegenheiten Teil nehmen sollten. Ursprünglich gehörte der Staat und mit diesem die Gottheit den aristokratischen Geschlechtern; allmählich, in Folge innerer Bürgerkriege und Reibungen und durch eine Reihe von Kompromissen wurde der Staat die gemeinsame Angelegenheit aller Klassen — durch diese demokratischen Kämpfe und Aufstände aber lebensgefährlich bedroht, rettete er sich durch sein Fatum und verwies er den Pakt einzig und allein ins Privatleben — das Kaisertum entstand und der Kaiser, das fleischgewordene Fatum, hielt die erniedrigten Patrizier und die emanzipierten Plebejer in Ruhe und Ordnung.


Die Germanen haben das antike Fatum entthront und das Recht in ihre Brust verlegt. Sie erkennen keine äußere Gewalt noch Autorität über ihnen an; Alles ist für sie das Werk ihres eignen Willens; was der Germane ist, ist er durch sich selbst; das Gefühl der eignen Ehre leitet ihn bei seinen Entschlüssen, das Gefühl seines eignen Wertes begleitet ihn in seinen Handlungen und verlässt ihn in keinem Verhältnis welches er nur mit freiem Willen eingeht.

Die germanischen Staaten, zu denen auch die romanischen zu rechnen sind, insofern sie erst durch den germanischen Zusatz ihre moderne Form erhalten haben, existieren nicht wie die antiken durch eine Naturnotwendigkeit — sie sind vielmehr freie Schöpfungen, mit klarem Bewusstsein gestiftet, denn sie sind das Werk der Eroberung. Auch der persönliche Besitz des Germanen ist fein eignes Werk, sein persönliches Recht, denn er hat ihn kraft seines Schwerdts gewonnen. Endlich auch in seinem Verhältnis zu dem Herrn, dem er sich zum Zweck der Eroberung freiwillig untergeordnet hat, leitet ihn, wenn die Organisation an die Stelle der Eroberung tritt, die Rücksicht auf seinen freien Entschluss, das Gefühl der Ehre und die einzige Garantie für den Bestand des Gemeinwesens ist diejenige, die seine persönliche Treue bietet. Die Germanen sind das Adelsvolk der Weltgeschichte.

Keine allgemeinen Vorstellungen, kein Fatum, keine abstrakte oder metaphysische Ideen halten den germanischen Feudalstaat zusammen. Der Germane kennt kein Vaterland, noch ein gemeinsames Zentrum, welches ohne seine Zustimmung sich über ihn erhoben hätte und ihn unterwerfen dürfte; — er hat kein Rom, kein Athen, welches das Opfer seiner Individualität fordern dürfte. Sein Dienst ist persönlich wie seine Autorität, und er würde seine Persönlichkeit, d. h. sein Alles verlieren, wenn in irgend einem seiner Verhältnisse, sei es in seinem Dienst oder in seiner herrschaftlichen Stellung seine Ehre Schaden leiden sollte.

Nur in seiner Vermischung mit der römischen Kultur und mit dem keltischen Blute hat der Germane die antike und namentlich römische Vorstellung des Vaterlandes erhalten und sich allgemeinen und abstrakten Ideen unterworfen — in Frankreich und Spanien, wo sich im Laufe des Mittelalters kompakte Nationalitäten und feste Staaten bildeten.

In Deutschland dagegen, wo die germanischen Stämme ihre Reinheit am meisten bewahrt haben, ist die Einheit von Staat und Vaterland unerreichbar geblieben. Die Frage: „was ist des Deutschen Vaterland?" ist wirklich eine Frage, nicht nur eine poetische, sondern eine historische.

Während die alten Griechen und Römer für den Staat lebten, und wenn es notwendig war, sich für eine allgemeine Idee aufopferten, während der Germane nur persönliche Verhältnisse und Beziehungen anerkannte, sind im Leben des Russen beide Prinzipien auf das Strengste verbunden.

Die Familie, die Gemeinde, die Nation sind in dem Grade die Lebenssubstanz des Russen, dass er ohne sie nicht einmal Eigentum haben kann. Der Staat ist nicht sein Werk, sondern Gottes, des russischen Gottes Werk. Aber diese Lebenssubstanz, sein höchster Zweck ist für den Russen in einer Person inkarniert, im Kaiser, der der Vater des Einzelnen, der Familie, der Gemeinde und der ganzen Nation ist.

Der Allmacht und Präexistenz der griechischen und römischen Staatsidee entspricht die Suprematie des Staats, dem der Russe sich ohne Vorbehalt unterwirft, aber der Staat ist im Kaiser, dem allgemeinen Vater konzentriert.

In Russland gibt es angesehene, eigentlich kann man nur sagen, reiche adlige und fürstliche Familien — aber welcher Unterschied zwischen ihnen und dem germanischen Adel! Sie haben den Staat nicht geschaffen, denn er existiert nur durch Gott und übt seine Autorität durch den Mund des Kaisers — des lebenden Gesetzes. Wenn sie daher außer dem Ansehen, welches der Reichtum gibt, noch eine persönliche Bedeutung haben wollen, so können sie dieselbe nur durch den Staat erhalten, und es ist eine richtige Folge des russischen Lebensprinzips, dass eine Familie, aus der sich im Verlauf von drei Generationen Niemand dem Staat gewidmet hat, ihren Adel verliert.

Kaiser Paul, der selbst in seinen wildesten Extravaganzen immer noch das russische Lebensprinzip ausdrückte, sagte einmal, dass in seinem Staate derjenige nur Bedeutung habe, der mit ihm spreche und so lange er mit ihm spreche.

Das ist russisch, denn außer dem Staat und seiner persönlichen Existenz im Kaiser kann nichts eignen Wert haben — wahrhaft antik, denn im Altertume, in Rom und Griechenland hatte derjenige nur Wert und Bedeutung, auf den der Staat das Licht seines Angesichts leuchten ließ!

Von der Freiheit des germanischen Gehorsams, die auf den geringsten Anlass hin in offene Widersetzlichkeit ausarten kann, ist hier so wenig die Rede, als es in der Familie für den Sohn eine Frage sein kann, ob er dem Vater Gehorsam schuldig ist. Auch jene gesetzliche Konstituierung der Rechte, die aus der Gleichberechtigung der germanischen Eroberer folgt, ist im öffentlichen Leben des Russen eben so unmöglich, als die Umwandlung des moralischen Verhältnisses zwischen Vater und Kind in eine rein gesetzliche Verpflichtung. Der Germane kann seinem Herrn gegenüber bedenklich werden und die Frage aufwerfen, ob dessen Befehl mit seiner persönlichen Ehre verträglich ist — der Russe nimmer, denn er muss entweder dem allgemeinen Vater, dem lebenden Gesetz gehorsamen, oder aufhören, Russe zu sein, d. h. er muss aus seiner Familie und seinem Volke ausscheiden.

Herr von Haxthausen erinnert in seinen Studien an eine Anekdote, die die Unbedingtheit des russischen Gehorsams treffend zeichnet, und wenn auch wahrscheinlich erfunden, doch die Wirklichkeit ausdrückt. Als Paskiewitsch 1831 vor Warschau stand, sagte ein russischer Rekrut, indem er auf die Festungswerke zeigte, zu einem Veteranen: „das Ding scheint sehr fest zu sein." „„Ja,"" sagte der Veteran, „„ich glaube nicht, dass wir es einnehmen können."" „Aber, wenn es der Kaiser befiehlt," erwiderte der Rekrut. „„Das ändert die Sache,"" sagte der andere, „„dann werden wir es nehmen.""

Als der Winterpalast brannte, stürzte sich ein Priester durch die Flammen, um die Monstranz zu retten. Als er mit derselben zurück eilte, sah er durch den Rauch in einem Gange einen Soldaten stehen und forderte ihn auf, mit ihm zu gehen. „Nein," erwiderte derselbe, „ich werde auf meinem Posten bleiben; aber gib mir deinen Segen." Der Priester tat's und rettete sich nur mit Mühe.

Dieser kindliche Gehorsam, der zugleich glühende Leidenschaft und stolzer Eifer für das Volk ist — diese väterliche Autorität, die zugleich die Gewalt des personifizierten Staats ist, gibt Russland im Verhältnis zum westlichen Europa dieselbe Stellung, die die stehenden Heere in den einzelnen Staaten einnehmen. Russland ist in dieser Beziehung ein streng diszipliniertes Heerlager, welches bloß dadurch, dass es an der Grenze des Westens Wache hält, unnütze und zwecklose Kämpfe verhütet, Kämpfe, die in diesem Augenblicke eben so wenig Bedeutung haben würden, als die Zänkereien der früheren polnischen Parteien. Durch seine Disziplin ist es für die Gegenwart das, was Rom für die alte Welt war, welches den beständigen Kriegen, besonders der griechischen Stämme, als sie in unnützen Hader und in gegenseitige Selbstzerfleischung ausgeartet waren, auch ein Ende machte.

Die Erfahrung, die das Jahr 48 Jedem, der eine Zukunft hat, in so ungeheurer Fülle dargeboten hat, ist für Russland am wenigsten verloren. Es ist fest, sicher, konsequent, systematisch — so wird es auch in der Zukunft — wenigstens so lange immer den revolutionären Kämpfen des Westens ruhig zusehen, als der Brand in der ersten Hitze steht; wenn aber die erschöpften Kämpfer in ihrer Verwirrung nicht mehr aus noch ein wissen, wird es als Mittler und Diktator einschreiten oder im äußersten Falle mit seiner militärischen Kraft das Feuer ersticken.

Wird es sich aber immer mit derselben Uninteressiertheit wie in der ungarischen Affäre zurückziehen?

Die Frage fällt mit der andern zusammen: — werden die Völker Westens durch künftige Revolutionen noch mehr als durch die letzte aufgelöst und beschädigt werden?

Kein Zweifel! — Sie werden es — die alte Kultur kann weder mehr einen ruhigen, noch einen sichern Zustand begründen; sie muss zerfallen und in ihren Konvulsionen der neuen Kultur Platz machen; — also wird auch Russland gezwungen werden, mit seiner militärischen Macht vorzurücken, um die Ruhe und Ordnung, die das Wachstum und Reisen der neuen Ideen erfordert, auf dem Kontinent zu erhalten.

Es muss noch weiter vorgehen, um den universellen, europäischen Kampf hervorzurufen, in dem sich die neuen Ideen zu bewähren haben. Schon dasjenige, was von den letzteren dem Keime nach vorhanden ist, kann sich mit keiner der westlichen Regierungen in einen ernstlichen Kampf einlassen. Ein Kampf mit einem Maupas oder wie sie Alle heißen mögen, würde für die neuen Kulturelemente zu gering sein — sie verlangen ein größeres Feld; Russland wird es schaffen — den Boden für den allgemeinen, den Weltkampf. Die neuen Kulturelemente sind bis jetzt nur in isolierten Personen vorhanden, die sie auszuarbeiten, zu gestalten, festzustellen, aber wahrlich nicht mit einem Maupas oder Persigny, Derby oder Aberdeen u. s. f. zu kämpfen haben.

Wie das römische Kaisertum wird Russland die ruhige Entwicklung der neuen Kulturelemente sichern und zugleich den letzten Kampf herbeiführen. — Aber wird es selbst eine neue Idee und Kraft in den Kampf werfen — selbst an der Gründung der neuen Kultur Teil nehmen?

Seine patriarchalische Kultur und seine Gemeindeverfassung — das ist gewiss — wird es nicht ausbreiten können; beides ist rein national und hat auch noch keine seiner Eroberungen sich unterwerfen können. Der deutsche Adel der Ostseeprovinzen und der katholische Polens, der mit dem Mittelalter die Lebensanschauungen des Westens überkommen hat, mögen dem diktatorischen Staat, der in St. Petersburg seinen Sitz hat, auf das eifrigste dienen und wie namentlich der erstere die geschicktesten Werkzeuge Russlands als europäischer Großmacht und die Vorkämpfer seiner Diktatur liefern, aber dem moskowitischen, dem nationalen, dem Patriarchalstaat haben sie sich mit ihrem germanischen und mittelalterlichen Selbstgefühl nicht assimilieren können.

Allerdings aber enthält Russland in seiner theoretischen Fertigkeit eine bedeutende Hilfsmacht der neuen Kultur, — eine Macht, die wir jedoch auch im Westen und gerade in seiner Auflösung sich hindurcharbeiten sehen werden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland und das Germanentum - Band 1