Das Fatum

Die Unachtsamkeit und Verblendung sind die Hilfsmacht des Fatum.

Es war nur die richtige Folge von der theoretischen Schwäche des letzten philosophischen Systems, welches die Kultur des westlichen Europa hervorgebracht hat, wenn Hegel von einer Krisis, die die germanische Welt zu erfahren habe, nichts wusste und für Russland in seinem System keinen Platz hatte. Wie sein Wissen nicht wirklich Erkenntnis und Abschluss, sondern nur Wiederholung der Überlieferung ist, so hielt er es für möglich, dass die christlich-germanische Welt in ihrer Selbsterkenntnis, d. h. in der unfruchtbaren und tautologischen Reminiszenz der zurückgelegten Geschichte ihre Vollendung erreiche und das Ziel und den Endzweck der Entwicklung der Menschheit bilde. Sein System, ohne schöpferische Kraft, schloss selbst die Ahndung von einem Bruch mit der ganzen bisherigen Kultur aus und ließ also auch die Frage nach einer neuen Kulturstufe, nach einem neuen Zeitalter, nach einem neuen Volke nicht aufkommen.


Kants kritische Richtung gegen das Bestehende und Statutarische und seine Forderung, dass die Völker endlich nach allgemeinen Rechtsprinzipien konstituiert würden, führten ihn auf den Gedanken des Kampfs, aber nicht des Bruchs — wie Hegel mit dem, was er die Versöhnung mit der Vergangenheit nannte, also mit einer idealen Wiederholung des Gesamterlebnisses der Menschheit die Geschichte abschloss, so stellte Kant in der ewigen Wiederholung und Wiederaufnahme der Revolution von 89, in der er die höchste Bürgschaft für die moralische Anlage der Menschheit zum Fortschritt erblickte, der Geschichte ihre ewige, wenn auch niemals vollständig erreichbare Aufgabe.

Als endlich Fichte in seinen Reden an die deutsche Nation seine Landsleute zur Selbstermannung gegen die napoleonische Herrschaft aufforderte, reizte er ihren Stolz, indem er sie als das Urvolk und im Gegensätze zu den romanischen Nationen, den Völkern der äußern Form, als die schöpferische Nation darstellte und an die Selbstbehauptung ihrer eignen Ewigkeit die Wiederherstellung der Welt und Wiederbelebung der Menschheit knüpfte.

Alle diese deutschen Philosophen, die den Ansichten ihrer Nation den höchsten und reinsten Ausdruck gaben, dachten nur an den Westen — der Osten war für sie noch nicht da — ein Verhältnis der germanischen Welt zu Russland existierte für sie noch nicht.

Und doch hatte Katharina II. schon zu Kants Zeiten eine Diktatur über den Kontinent aufgerichtet, die an Kraft, Einfluss und welthistorischer Bedeutung diejenige Carls V. von Spanien und Ludwigs XIV. von Frankreich bei weitem übertraf. Sie hatte der polnischen Adelsrepublik, in der die Konsequenzen des mittelalterlichen Germanentums bis zum Extrem ausgebildet waren, das aristokratische Gleichheitsprinzip die reinste Demokratie gestiftet hatte, der Kampf der bewaffneten Konföderationen die einzige Lebensfunktion bildete und die adlige Eigenmacht selbst vor der letzten Konsequenz, dem liberum Veto nicht zurückgeschreckt war, ein Ende gemacht. In der zweiten Teilung von Polen warf sie die Schranken nieder, die Russland vom Herzen der germanischen Welt, von Deutschland trennten — sie unternahm bei weitem mehr, als Ludwig XIV. mit seinen Reunions-Kammern gewagt hatte — sie gewann eine größere und sicherere Akquisition als selbst das französische Volk im Enthusiasmus seiner Revolution zu gewinnen vermochte — während sie die politische Interventionskunst der Römer wieder herstellte, vollbrachte sie ein wahrhaft revolutionäres Werk, indem sie den äußersten Vorposten des Mittelalters niederwarf — sie war glücklicher als Joseph, der in seinem Versuch, die ungarische Aristokratie dem modernen Staat zu unterwerfen, scheiterte, und sie brachte Russland mit dem Land, in dem die Konföderation der Feudalherren ihre klassische Darstellung erhalten hatte, mit der Fürstenrepublik des deutschen Reichs, mit der Verfassung, in der das liberum Veto sein letztes Asyl finden sollte, in unmittelbare, zukunftsschwangere Berührung.

Das Meisterstück ihrer Politik bestand aber in der Kunst, mit der sie den Augen der westlichen Völker die gefährliche Bedeutung ihrer Unternehmungen vollständig verdeckte und dieselben zugleich mit Enthusiasmus für sie selbst erfüllte, während sie ihre Souveräne lähmte und paralysierte, indem sie dieselben zu willenlosen Werkzeugen ihrer Pläne machte. Das europäische Publikum, welches über die Gewaltsamkeiten Ludwig XIV. und über die Anmaßungen seiner Reunions-Kammern einen Schrei des Unwillens erhoben hatte, ahndete nichts von der Gefahr, die diesem Wiederaufleben der römischen Politik folgen musste, achtete nicht auf die Mahnung, die die polnische Katastrophe für ganz Europa enthielt, bemerkte nicht die Übermacht, die die Kaiserin durch die Kunst, mit der sie Preußen und Österreich zu Genossen ihrer Unternehmung gegen Polen gemacht hatte, über Deutschland erhalten musste. Der Vorwand, den die Gewaltsamkeiten der katholischen Partei gegen die Evangelischen der Kaiserin zu ihrer polnischen Intervention gab, blendete die Nationen und das Völkerrecht wurde aus Rücksicht auf die Toleranzphilosophie, in deren Namen die russischen Armeen in Polen einrückten, vergessen. Nicht genug endlich, dass die Völker und ihre aufgeklärten Führer Katharina II. als die Heldin des Fortschritts betrachteten — der ununterbrochene Strom von Kulturelementen, der vom Westen, namentlich aus Deutschland und Frankreich sich nach Russland ergoss, bewirkte es sogar, dass diese ungeheure Erweiterung der russischen Macht zu einem großen Teil als das Werk des westlichen Europa erschien.

Etwas Ähnliches war noch nicht in der Geschichte geschehen. Die Diktatur, die sich an den Grenzen der westlichen Nationen aufrichtete, wurde von ihnen als ihr eignes Werk bewundert, als eine stolze Akquisition Westeuropas von ihren Dichtern gefeiert und von der Schaar ihrer Fortschrittsmänner, von den Voltaires, Diderots als ein Sieg der westlichen Kultur und Aufklärung gepriesen.

Auch damals noch, als Alexander den bedeutenden Anteil, den Russland am Sturz Napoleons hatte, zur Errichtung der heiligen Allianz benutzte und unterm Schirm derselben die letzten Regungen der französischen Suprematie auf dem Kontinent bekämpfte, waren die Völker weit davon entfernt, in dem, was sie nur für einen augenblicklichen Sieg der Reaktion hielten, die wirkliche Diktatur zu erkennen, und erwarteten sie von dem Sieg der französischen Opposition, deren Kampf mit der älteren Linie der Bourbons ganz Europa beschäftigte, die Beseitigung eines Einflusses, der ihnen nur zufällig durch den Brand von Moskau herbeigeführt zu sein schien.

Es waren aber nicht nur Selbsttäuschungen, es war nicht nur die Oberflächlichkeit der Beobachtung, was die Völker über das Fatum, welches mit Katharinens polnischen Unternehmungen über den Westen kam, und die größten Denker Europas über eine Macht, die nicht erst im Aufstehen begriffen, sondern bereits konsolidiert war und sich in ungeheuren Taten offenbart hatte, in Unwissenheit erhielt, sondern die Verblendung hatte auch ihren positiven, sehr gehaltvollen Grund. Sie war also tragisch.

Der ganze westliche Kontinent war noch in der Entwicklung begriffen. Alle Kräfte waren auf das Äußerste angespannt, umso mehr, da es galt, die äußerste Vollendung zu erreichen und die Entwicklung zum Abschluss zu bringen. Es handelte sich darum, zu gleicher Zeit die Auflösung des Mittelalters und die positive Organisation, die mit der Auflösung bereits im Mittelalter begonnen hatte, zu vollenden. Deutschland zumal hatte den poetischen Lorbeer zu gewinnen, die Musik zur höchsten Vollendung zu bringen, den Kreis der philosophischen Systeme für immer abzuschließen und den Übergang von der Metaphysik und Theologie zur Kritik, von der theologischen Anschauung zur wissenschaftlich-positiven vollständig durchzuführen. Als Katharina II. in Polen den Vorposten des Mittelalters stürzte, hatte die Revolution das Mittelalter des Westens in Brand gesteckt; während der Periode der Restauration endlich hatte der Westen seine Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf Paris gerichtet und harrte er der Lösung des konstitutionellen Experiments, dem eine ganze Nation ihre Kräfte gewidmet hatte.

Fügen wir zum Zerstörungsprozess der Metaphysik, zu den Schöpfungen der Kunst, zu der Entwicklung der positiven Wissenschaft, zu den politischen Experimenten noch den Kreislauf, den die mechanischen zu einer Umwälzung aller Lebensverhältnisse führenden Entdeckungen zu machen hatten, und die ungeheure in die Zeit der Revolutionskriege und der Restauration fallende Entwicklung der Industrie, so ist es begreiflich, dass die westlichen Nationen bei einer so intensiven Tätigkeit weder Zeit noch Fähigkeit dazu haben konnten, sich über Russlands Stellung eine klare Idee zu bilden.

Erst nach der Julirevolution, als Nikolaus den polnischen Aufstand unterdrückte und damit die Hoffnungen der ganzen liberalen Partei des Westens zerstörte, erst da lichtete sich der Hass der Völker gegen Russland. Sie hatten bestimmt darauf gerechnet, dass die polnische Revolution den Mittelstaat wieder aufrichten würde, der sie von der unmittelbaren Berührung mit dem östlichen Koloss befreite — (ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, ob der Koloss die Errichtung einer solchen Barriere zulassen könne) — aber jetzt wurde es klar, dass Katharinens Erfolg in Polen nicht nur ein glücklicher Zufall war und Russlands Macht und Interesse diesen Mittelstaat zu einer Unmöglichkeit mache. Für die geheime und unwillkürliche Anerkennung dieser Notwendigkeit rächten sich die westlichen Liberalen, besonders Frankreichs und Englands in einer eignen Literatur von Pamphlets, die ihre Gehässigkeit an einzelne Gebrechen der Administration anknüpften, aber Eins ein Geheimnis bleiben lassen mussten: — die innere Kraft, die Russland zum Diktator des Kontinents machte.

Die Revolution von 48, von der der Westen noch einmal, aber ohne wirkliche Überzeugung, die Zerstörung der östlichen Diktatur erwartete, hatte nur ihre Kräftigung zur Folge. Als Paskiewitsch nach der Unterdrückung des ungarischen Aufstandes an den Kaiser schrieb: „Ungarn liegt zu Ew. Majestät Füßen," war vielmehr der ganze Kontinent gedemütigt und die Warschauer Beratungen zeigten, wo die diktatorische Kraft des Kontinents residiere.

Diese Tatsache, eine der bedeutendsten der Gegenwart, erkennen zwar die Völker und ihre revolutionären Sprecher an, aber wiederum nur als einen augenblicklichen Zufall — als eine nur augenblickliche Folge vom vermeintlichen Ungeschick, welches die Angelegenheiten des Westens leite.

Ein schwacher Trost gegenüber dem Ernst, dem römischen Ernst, der Russland leitet und umgibt — vor Allem gegenüber dem Ernst des Fatums, welches über ganz Europa schwebt.

Nicht die Behauptung der Revolutionäre: wir würden es anders angefangen, würden diesen Ausgang, wenn man uns nur hätte folgen wollen, verhütet haben — nicht diese chimärische Hypothese ist die Frage der Gegenwart und Zukunft, sondern das ist sie, ob die germanischen Völker Europas ebenso der russischen wie die griechischen Völker der römischen Diktatur unterliegen, oder ob sie ihr einst ebenso entrinnen werden, wie Russland selbst der mongolischen Herrschaft, der es Jahrhunderte lang unterworfen war — das ist die Frage, ob die germanische Welt den Untergang der alten Zivilisation (denn Nichts ist gewisser als dieser Untergang,) überleben oder ob die russische Nation allein die neue Zivilisation bestimmen wird — ob das beginnende Zeitalter das russische heißen oder ob ihm im Verein mit dem Russentum auch das Germanentum seinen Namen beilegen wird.

Um uns über diese Frage zu orientieren, werden wir zunächst das russische Lebensprinzip ins Auge fassen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland und das Germanentum - Band 1