Siebentes Kapitel

Die Sonderbarkeiten und Widersprüche in dem „natürlichen System" der Weltgeschichte treten noch schärfer hervor, wenn wir diesem Systeme die logischen Forderungen gegenüberstellen, die der Verfasser für jede Klassifizierung als notwendig bezeichnet. Eine dieser Forderungen lautet: „Alle Objekte oder Erscheinungen der einen Gruppe müssen einen höheren Grad von Ähnlichkeit oder Verwandtschaft miteinander haben als mit den zu einer anderen Gruppe gehörigen Erscheinungen oder Objekten". Das ist jedenfalls eine für jede Klassifizierung unbestreitbar notwendige Forderung. Darf die Erfüllung dieser Forderung aber als Tatsache gelten bei einem System, das z. B. das christliche Byzanz und das alte Hellas als eine Gruppe oder als einen einheitlichen kulturhistorischen Typus zusammenfasst? Konnte Danilewsky in der Tat glauben, dass die klassische Kunst Griechenlands einen höheren Grad von Ähnlichkeit oder Verwandtschaft zur byzantinischen Kunst (z. B. der Heiligenbildermalerei) besitze als zur europäischen Kunst der Gegenwart, die ja zur anderen Gruppe, zum romanisch -germanischen Typus, gehört? Ja, ist es möglich, in derselben Weise auch die Philosophie eines Plato und Aristoteles in einen engeren und intimeren Zusammenhang mit den Lehren der Scholastiker und der Asketen von Byzanz zu bringen als mit der metaphysischen Geistesrichtung westeuropäischer Denker, die zuweilen geradezu eine Wiederholung der Ideen des alten Hellas darstellt?

Nach einer zweiten, ebenso unanfechtbaren logischen Forderung „müssen alle Gruppen gleichartig, d. h. muss der Verwandtschaftsgrad, der ihre Glieder miteinander verbindet, bei allen gleichnamigen Gruppen der gleiche sein". Wenn es sich um den romanisch-germanischen kulturhistorischen Typus handelt, so ist es vollkommen klar, dass unter den Gliedern dieser Gruppe die einzelnen Völker Europas verstanden werden müssen. Die Frage gestaltet sich aber sehr schwierig in Bezug auf die anderen von Danilewsky aufgestellten Kulturtypen. Nur einer, der griechische Typus, erfährt vom Verfasser eine bestimmte Gliederung, indem er ihn in drei Stämme, den äolischen, dorischen und ionischen Volksstamm, einteilt. Somit ergibt sich nach Danilewsky, dass zwischen diesen drei Gruppen ein und desselben griechischen Volkes, das abgesehen von geringen Unterschieden in der Aussprache ein und dieselbe Sprache spricht, derselbe Verwandtschaftsgrad besteht wie zwischen ganzen Völkergruppen, die vollkommen verschiedene Sprachen reden und die in jeder Beziehung so wenig Gemeinsames miteinander haben, wie z. B. die Italiener mit den Dänen. In Wirklichkeit aber bestand zwischen den Ioniern und den Doriern keineswegs ein größerer (wenn nicht gar ein kleinerer) Unterschied als den Bewohnern der Provence und denen der Normandie, zwischen Piemontesen und Neapolitanern, und zwischen den nord- und süddeutschen Volksstämmen. Inwiefern kann also von einem gleichen Verwandtschaftsgrade zwischen den einzelnen Gliedern des romanischgermanischen Europa einerseits und Griechenland andererseits gesprochen werden, wenn die Glieder der ersteren Gruppe aus großen, in sich abgeschlossenen Nationen gebildet sind, während die zweite Gruppe überhaupt nur aus einer einzigen Nation besteht ? Genau dasselbe muss aber von fast allen übrigen kulturhistorischen Typen der Einteilung Danilewskys entsprechend gesagt werden. Es wäre interessant zu erfahren, welche Glieder im altägyptischen oder hebräischen kulturhistorischen Typus dieser, aus ganzen und großen Nationen beistehenden Gliederung Europas entsprechen würden. Überhaupt fällt die vollständige Ungleichheit zwischen den einzelnen Gruppen dieses sogenannten „natürlichen Systems" stark in die Augen. Die europäische Welt, diese ausgedehnte Vereinigung vieler großer Nationen, die mit ihren Kolonien und ihrem Kultureinflusse den ganzen Erdball umfasst, wird hier einzelnen Völkern zur Seite gestellt, von denen manche niemals über ihre ethnographischen und geographischen Grenzen hinausgekommen sind.


Dieser widersprechenden Zusammenstellung ungleichartiger Gruppen kommt im Grunde genommen die von Danilewsky zugelassene Unterscheidung zwischen einmaligen, isolierten Typen und solchen, die sich weiter vererben, keineswegs zu Hilfe. Von seinem Gesichtspunkte aus hat Danilewsky gar nicht das Recht, diesem Unterschiede eine wesentliche Bedeutung beizumessen, denn damit würde ein neues Teilungsprinzip mit einem wesentlich anderen Merkmale als die selbständige Eigenart eines Kulturtypus in sein System hineingetragen werden, und das würde bei der Klassifizierung der ersten logischen Forderung geradezu widersprechen.

Weil Danilewsky ganz richtig annimmt, dass dieses Zugeständnis an die historische Wahrheit (nämlich die Unterscheidung vereinzelter, isoliert auftretender Typen von solchen, die sich weiter vererben) eine drohende Gefahr für sein ganzes System bildet, ist er bemüht, diese Zugeständnisse auf den Nullpunkt zurückzuführen, indem er mit allen Mitteln zu beweisen versucht, dass es eine wirkliche Vererbung im wahren Sinne des Wortes, d. h. eine Übertragung von Bildungsprinzipien, die ein Kulturtypus sich erarbeitet hat, auf einen anderen Typus, der sie sich in der Folge zu eigen macht, niemals gegeben hat und auch nicht geben kann. Seine Verneinung der Vererbungsmöglichkeit von Kulturprinzipien erhebt der Verfasser dann zu einem „Gesetze", zu einem der fünf von ihm gefundenen historischen Entwicklungsgesetze: Drittes Gesetz: ,,Die Bildungsprinzipien eines kulturhistorischen Typus können auf Völker eines anderen Typus nicht übertragen werden. Jeder Typus arbeitet diese nur für sich selbst aus, in höherem oder geringerem Maße beeinflusst von den ihm vorangegangenen oder gleichzeitig mit ihm lebenden Kulturvölkern".

Die Verneinung einer einheitlichen Menschheit im „natürlichen System" Danilewskys erhält notwendigerweise ihre logische Ergänzung durch dieses ,,Gesetz", das eine einheitliche Entwicklung der Menschheit, d. i. der Weltgeschichte verneint. Um dieses scheinbare Gesetz zu rechtfertigen, übergeht Danilewsky alle historischen Beispiele eines wirklichen Überganges kultureller Prinzipien von einem Kulturtypus auf den anderen mit Stillschweigen oder leugnet sie rundweg ab. Die Geschichte jedoch ist voll von solchen Beispielen. Abgesehen von jenem äußeren Einflüsse oder jener Einwirkung, die Danilewsky zugibt, sind immer und überall die geistigen Entwicklungsprinzipien von einem Volke auf das andere übergegangen, obgleich alle diese Völker den verschiedensten Stämmen und kulturhistorischen Typen angehörten. Indien hat, ungeachtet dessen, dass es zu den isolierten Typen gerechnet wird, einer großen Anzahl von Völkern, die ganz anderen Stämmen und anderen Typen angehörten, den höchsten Ausdruck seiner eigenen Geisteskultur, den Buddhismus, übermittelt, und zwar nicht nur als Material oder als „Verbesserung des Kulturbodens", sondern als vornehmstes, bestimmendes Prinzip ihrer Zivilisation. Es ist nicht von ungefähr, dass der Verfasser in allen seinen historischen Erwägungen so sorgfältig den Buddhismus übergeht, denn diese gewaltige welthistorische Erscheinung kann in seinem ,,natürlichen System" absolut nicht untergebracht werden. Diese Religion, die ihrem Ursprünge nach indisch ist, aber einen universellen Inhalt hat und nicht nur über die Grenzen des indischen kulturhistorischen Typus hinausgegangen, sondern fast ganz aus Indien verschwunden ist, wurde tief und umfassend von den Völkern der mongolischen Rasse aufgenommen, obgleich diese Völker in jeder anderen Beziehung nichts mit den Indem gemein hatten. Und diese Religion, die als ihren Zentralpunkt eine so eigenartige Landeskultur schaffen konnte, wie die tibetanische und trotzdem ihren universellen, internationalen Charakter bewahrt hat, die das Glaubensbekenntnis von fünf- oder sechshundert Millionen, zwischen Ceylon und Sibirien, zwischen Nepal und Kalifornien lebenden Menschen geworden ist, diese Religion ist die kolossale und reale Verneinung der ganzen Theorie Danilewskys; denn weder kann die große kulturhistorische Wichtigkeit des Buddhismus verneint, noch kann der Buddhismus selbst als Lehre nur einem vereinzelten Stamme oder Typus zugesprochen werden.

Es dürfte wohl kaum erlaubt sein, eine so große Schwierigkeit mit einem Satze wie der nachstehende abzutun: ,,Die Geschichte der ältesten kulturhistorischen Typen, wie Ägyptens, Indiens, Irans, Assyriens und Babylons ist in ihren Einzelheiten zu wenig bekannt, um eine Kritik unseres Satzes von der Unübertragbarkeit der Kulturprinzipien durch die historischen Ereignisse dieser Zivilisation selbst zu ermöglichen. Jedoch die Resultate dieser Geschichte selbst bestätigen ihn durchaus. Es ist nirgends ersichtlich, dass von irgendeinem Volke nichtägyptischer Abstammung die ägyptische Kultur angenommen worden wäre, und die indische Zivilisation blieb auf solche Völker beschränkt, deren Sprache vom Sanskrit abgeleitet werden kann".

Mag die alte Geschichte des Orients in ihren nebensächlichen Einzelheiten wenig bekannt sein, der Buddhismus ist jedenfalls keine nebensächliche Einzelheit, und allen ist die Tatsache bekannt, dass diese indische Religionsform von den Chinesen, Japanern, Mandschuren, Mongolen, und Tibetanern angenommen worden ist, die alle nicht zu jenen Völkern gehören, deren Sprachen vom Sanskrit abgeleitet werden.

Wenn unter dem Namen „indische Zivilisation" die Gesamtheit aller kulturellen Merkmale, die Indien vor anderen Ländern auszeichnet, verstanden werden soll, so versteht es sich in diesem Falle von selbst, dass die indische Zivilisation nur Indien allein angehören, oder mit anderen Worten, dass es nur ein Indien geben kann. Der Verfasser wird aber wohl kaum die Absicht gehabt haben, einen solchen Pleonasmus zu beweisen, über den weiter kein Wort zu verlieren ist. Die Frage, ob eine Kultur überhaupt übertragen werden kann, hat lediglich in dem Falle Sinn und Interesse, wenn unter Kultur vorzugsweise solche geistigen Bildungselemente verstanden werden, die nur durch einen bestimmten historischen Typus herausgearbeitet werden können. Und in diesem Falle stellt der Buddhismus ein unzweifelhaftes und sehr bedeutsames „Russland und Europa" S. 96.

Beispiel dafür dar, wie ein geistiges Prinzip von einem Volksstamme auf den anderen, ganz fremden übertragen wird. Aber Danilewsky vergisst nicht nur den Buddhismus, er geht auch mit Stillschweigen über die universelle Bedeutung des Judentums hinweg.

„Die Juden," sagt er, ,,haben ihre Kultur keinem einzigen der benachbarten und gleichzeitig mit ihnen lebenden Völker übermittelt". Unter der hebräischen Kultur darf aber nur die hebräische Religion verstanden werden. Das behauptet auch Danilewsky selbst an einer anderen Stelle, indem er die Juden zu den Typen mit nur einem Grundelemente rechnet und zugibt, dass die Religion ihr einziges selbständiges Kulturprinzip war. Folglich kann hier nur von einer Übertragung der jüdischen Religion die Rede sein. Denn sie konnten nicht gut ihre Architektur z. B. an die Phönizier weitergeben, weil sie diese ja selbst von ihnen übernommen hatten. Ihr religiöses Prinzip haben die Juden jedoch zweifelsohne weitergegeben, einerseits durch das Christentum den Griechen und Römern, den Germanen und Slawen und andererseits durch den Mohammedanismus den Arabern, Persern und den türkischen Volksstämmen. Oder soll etwa die Bibel auch nur als ein äußeres Hilfsmittel, nur als eine „Verbesserung des geistigen Kulturbodens" angesehen werden?*)

*) Ein Hinweis auf das Herrliche der christlichen Offenbarungen wäre hier vollständig unangebracht. Erstens wird niemand, der an den wunderbaren Ursprung des Christentums glaubt, ihm zugleich auch den Charakter einer kulturhistorischen Erscheinung absprechen, die den Bedingungen von Zeit und nationalen Einflüssen unterworfen ist. Zweitens hindern ja die Wunder der alttestamentlichen Offenbarung Danilewsky keineswegs, in dieser Religion die kulturhistorische Grundlage (und dazu noch die einzige) des jüdischen Volkes zu sehen. Und drittens endlich kann die Tatsache keineswegs geleugnet werden, dass das jüdische Religionsprinzip durch den Mohammedanismus den arabischen, maurischen und türkischen Volksstämmen übermittelt worden ist, für die dieses Prinzip ebenfalls zum Hauptbildungsmomente ihrer ganzen Kultur und nicht nur zu einem Mittel für die ,,Verbesserung des Kulturbodens" wurde. Der Mohammedanismus ist keine übernatürliche Offenbarung, und sein wesentlicher Zusammenhang mit dem Judentume kann darum nicht als ein in die Erscheinung getretenes Wunder übergangen werden.

*) Ein Hinweis auf das Herrliche der christlichen Offenbarungen wäre hier vollständig unangebracht. Erstens wird niemand, der an den wunderbaren Ursprung des Christentums glaubt, ihm zugleich auch den Charakter einer kulturhistorischen Erscheinung absprechen, die den Bedingungen von Zeit und nationalen Einflüssen unterworfen ist. Zweitens hindern ja die Wunder der alttestamentlichen Offenbarung Danilewsky keineswegs, in dieser Religion die kulturhistorische Grundlage (und dazu noch die einzige) des jüdischen Volkes zu sehen. Und drittens endlich kann die Tatsache keineswegs geleugnet werden, dass das jüdische Religionsprinzip durch den Mohammedanismus den arabischen, maurischen und türkischen Volksstämmen übermittelt worden ist, für die dieses Prinzip ebenfalls zum Hauptbildungsmomente ihrer ganzen Kultur und nicht nur zu einem Mittel für die "Verbesserung des Kulturbodens" wurde. Der Mohammedanismus ist keine übernatürliche Offenbarung, und sein wesentlicher Zusammenhang mit dem Judentume kann darum nicht als ein in die Erscheinung getretenes Wunder übergangen werden.

Vielleicht fühlte Danilewsky die ganze Stärke dieses Einwandes und versuchte ihn daher zu umgehen, wenn auch auf die ungeschickteste und unbeholfenste Weise. „Die Juden“, sagt er, ,,haben ihre Kultur keinem einzigen der benachbarten und gleichzeitig mit ihnen lebenden Völker übermittelt“. Hier ist unter dem Leben des jüdischen Volkes augenscheinlich die Periode seines unabhängigen politischen Daseins gemeint, denn abgesehen davon leben die Juden bis heute noch. Aus welcher Quelle stammt eine solche Ausrede? Weder im antihistorischen ,,Gesetze" des Verfassers, noch in jener historischen Anschauungsweise, gegen die sich dieses Gesetz richtet, ist davon die Rede, dass Gleichzeitigkeit des politischen Daseins und Nachbarschaft der Ländergebiete als Bedingungen für die Übertragung von Kulturprinzipien zu gelten haben. Die von Danilewsky abgelehnte allgemeine europäische Anschauung vom historischen Geschehen behauptet nur, dass der Menschheit als einem einigen, solidarischen Ganzen ein gemeinsames Werk übergeben worden sei, an dem verschiedene Völker und Völkergruppen in verschiedener Weise tätig sind, indem sie auf ihren nationalen Grundlagen neue Kulturprinzipien schaffen, die eine mehr oder minder umfassende, allgemein menschliche Bedeutung haben, und indem sie diese welthistorischen Prinzipien und Ideen dann anderen Völkern und Völkergruppen weitergeben, und zwar nicht zur ,,Verbesserung des Bodens" ihrer nationalen Kultur, sondern zur weiteren Entwicklung und Verwirklichung dieser Prinzipien selbst ihrem menschlich bedeutungsvollem Inhalte nach. Der Verfasser stellt einerseits dieser Anschauung sein ,,drittes Gesetz" entgegen, durch das eine solche Übertragung kultureller Bildungsprinzipien von einem historischen Typus auf den anderen einfach verneint wird, wobei die Frage danach, ob diese Typen benachbarte Gebiete bewohnten oder ob ihr politisches Leben gleichzeitig verlief, gar keine Rolle spielt. Der Verfasser sah sich nur genötigt, darauf hinzuweißen, um irgendwie die unglaubliche, für seine Absichten aber notwendige Behauptung, dass die Juden ihr Kulturprinzip auf niemanden übertragen hätten, zu mildem. Dieser mildernde Umstand hat aber nur dann irgend einen Sinn, wenn die Juden zur Zeit der Entstehung des Christentums und des Mohammedanismus als besonderer Typus zu existieren vollständig aufgehört hätten, was bekanntlich nicht der Fall war, so dass Danilewsky für den Wahrheitsbeweis seiner Behauptung durch diese willkürliche Einschränkung gar nichts gewinnt.

Wenn die Juden der Welt ein höheres Religionsprinzip gegeben haben, so lagen dagegen die von den Griechen geleisteten Menschheitsdienste vorzugsweise auf dem Gebiete einer ästhetischen und verstandesmäßigen Kultur, die sie unmittelbar zuerst auf die orientalischen Völker und dann auf die Römer übertrugen. Danilewsky verneint treuherzig jede Bedeutung einer Hellenisierung des alten Orients nach der Regierung Alexanders von Mazedonien, indem er behauptet, dass die orientalischen Völker das geblieben seien was sie waren, und dass die Kulturarbeiter der alexandrinischen Zeitepoche wohl von Geburt Griechen waren, dass den Einheimischen davon jedoch sozusagen weder kalt noch warm wurde. Es fällt schwer, anzunehmen, dass der Verfasser von dem Juden Philo, vom Ägypter Valentinus und vom Syrer Bardesan usf. nichts gewusst haben sollte, aber er hat sie augenscheinlich ganz vergessen. Historische Erscheinungen von einer so ungeheuren Wichtigkeit wie das alexandrinische Judentum, der Gnostizismus und die neuplatonische Philosophie können entschieden weder zum griechischen, noch zum syrischen, ägyptischen oder jüdischen Kulturtypus im speziellen gerechnet werden; sie waren vielmehr das Resultat einer tiefen geistigen Wechselbeziehung zwischen diesen verschiedenen Typen und die Folge der Aufnahme griechischer Kultur durch die Völker des Orients, nicht als Werkzeug zur „Verbesserung des Kulturbodens", sondern als höheres Entwicklungsprinzip. Der Verfasser des ,,natürlichen Geschichtssystems" ist gezwungen, diese großen historischen Erscheinungen entweder zu vergessen, oder sie zu umgehen, weil sie in sein System nicht hineinpassen und seinen „Gesetzen" widersprechen, wie er auch den Buddhismus und die universelle Bedeutung des Judentumes entweder vergisst oder umgeht. Auf einer solchen lückenhaften Grundlage kann natürlich alles Mögliche behauptet und verneint werden. Aber welchen Wert dürften wohl solche Behauptungen und Verneinungen haben?

Aus Achtung vor dem Andenken des verstorbenen Schriftstellers wollen wir seine äußerst sonderbaren Auseinandersetzungen über die Wechselwirkungen zwischen der römischen und griechischen Kultur mit Stillschweigen übergehen. Interessanter ist die Frage nach den Beziehungen zwischen der slawisch-russischen und griechisch-byzantinischen Kultur. Hier sind zwei vollkommen verschiedene kulturhistorische Typen gegeben, und dennoch muss Danilewsky endlich selbst zugeben, dass der eine Typus dem anderen nicht nur Material, nicht nur die „Verbesserung des Bodens" seiner Kultur, sondern dass er ihm die höchsten Entwicklungsprinzipien seines historischen Daseins gegeben hat. Sonderbarerweise hat der Verfasser die verhängnisvolle Bedeutung dieser Tatsache für seine Anschauungsweise augenscheinlich gar nicht bemerkt. Nachdem er erklärt hat, dass Russland und das Slawentum die Erben von Byzanz seien, ebenso wie die romanisch-germanischen Völker die Erben Roms sind, macht er nicht einmal irgendwie den Versuch, von seinem Gesichtspunkte aus diese Übertragung geistigen Erbgutes, diese Gemeinsamkeit der Entwicklungsprinzipien zu erklären, die seinem „dritten historischen Entwicklungsgesetze" direkt wiedersprechen. Dieses Gesetz fordert ja doch, dass jeder kulturhistorische Typus aus sich selbst und für sich selbst die Entwicklungsprinzipien seiner eigenen Zivilisation herauszuarbeiten habe. Mittlerweile ergibt sich aber die Tatsache dass das grundlegende Entwicklungsprinzip der romanisch-germanischen Völker nicht von ihnen selbst herausgearbeitet, sondern von einem früheren kulturhistorischen Typus übernommen worden ist. Ebenso ist das grundlegende Entwicklungs- und Bildungsprinzip des russisch-slawischen historischen Typus nicht von diesem selbst herausgearbeitet, sondern vollständig, ohne irgendeine Abänderung von den byzantinischen Griechen, die einem anderen Kulturtypus angehören, übernommen worden.

Danilewsky will nicht zugeben, dass ein ausschließlicher Nationalismus eine Schranke bedeutet, und dass der historische Fortschritt darin besteht, diese Schranken zu überschreiten. Wir brauchen dem Verfasser nicht mit irgendwelchen Erörterungen zu antworten, es genügt auf die größten und wichtigsten Erscheinungen in der Menschheitsgeschichte hinzuweisen; sie alle waren durch diese Aufhebung nationaler Schranken, durch den Übergang vom Nationalen zum allgemein Menschlichen gekennzeichnet. Das reichbegabte indische Volk sagte im Buddhismus sein Ewigkeitswort der Welt, und mit diesem Worte hatte es aufgehört nur indisch zu sein. Der Buddhismus ist nicht die nationale Religion Indiens, sondern eine universelle, internationale Lehre und ein gewaltiges Moment in der geistigen Entwicklung der ganzen Menschheit. Das jüdische Volk hat alle Kräfte seines Volksgeistes in der Messiasidee konzentriert, und als diese Idee sich historisch verwirklicht hatte, erwies sie sich durchaus nicht als eine jüdische, sondern wiederum als eine internationale, weltumfassende Idee, die schmerzvoll die harte Schale des ausschließlichen Hebräertumes durchbrach. Ebenso wie Indien das Höchste, das aus ihm herausgeboren war, den Buddhismus, der das ,, Licht Asiens" wurde, krankhaft von sich abwies, so trat auch das höchste welthistorische Ereignis, das aus dem jüdischen Volkstume herausgeboren worden ist, das Christentum, in einen Gegensatz zum jüdischen Nationalismus, was aber gerade die universelle Aufgabe des Christentums, nämlich die Befruchtung des ganzen heidnischen Europa mit den religiösen Wahrheiten Israels und die Begründung einer neuen allgemeinen Menschheitskultur wesentlich erleichterte. Und die Reaktion selbst gegen diese neue Kultur durch die alten religiösen Prinzipien des Orients, eine Reaktion, die endgültig in der großen historischen Erscheinung des Mohammedanismus zum Ausdrucke kam, sie hatte ganz offenbar keinen nationalen, sondern einen internationalen Charakter. Und auch das arabische Volk musste, um dieses, wenn auch negative, so doch im historischen Sinne große Werk zu verwirklichen, seine nationalen Schranken durchbrechen. Nicht aus sich heraus und nicht für sich haben die Araber den Mohammedanismus ausgearbeitet. Mohammed nahm aus dem Judentume die wesentlichen Prinzipien seiner Religion und gab ihnen eine solche allgemeine, übernationale Form, dass sie als ein höheres Aufklärungs- und Bildungsprinzip auch Völkern übermittelt werden konnten, die mit den Arabern und überhaupt mit den Semiten nichts gemein hatten, nämlich den Ariern (Persern) und Turaniern (Türken und Tartaren). Hierbei können wir noch eine merkwürdige Erscheinung wahrnehmen, die vom Gesichtspunkte der „isolierten“ kulturhistorischen Typen aus betrachtet, vollständig unbegreiflich ist: dieses Indien nämlich, das seine eigene religiöse Idee, den Buddhismus ablehnte und sie fremden, mongolischen Völkern übergab, nimmt jetzt für sich selbst (für einen großen Teil seiner Bewohner) die fremde, arabische Religion an.*)

*) Es gibt heute ungefähr 50 Millionen indischer Mohammedaner.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland und Europa