Fünfte Fortsetzung

Alexander II., dessen Erziehung von dem liberal gesinnten trefflichen Dichter Schukowski geleitet worden war, beschloss, auf allen Gebieten des staatlichen Lebens Reformen einzuführen. Zunächst nahm er die Aufhebung der Leibeigenschaft in Angriff.

Wenn man die russischen Leibeigenen mit den westeuropäischen vergleicht, so sehen wir, dass in Russland die starke zentrale Gewalt der Zaren, die einen großen grundbesitzenden Adel nicht aufkommen ließ, den Bauern geholfen hat, sich in freien Gemeinden zu erhalten. Eine große Anzahl freier Gemeinden blieb so bestehen. Von den neu erworbenen Ländereien wurde ein Teil als Apanagengut in den Privatbesitz der kaiserlichen Familie überführt, die von Katharina II. eingezogenen Kirchenländereien wurden in Reichsdomänen umgewandelt. Bei der Aufhebung der Leibeigenschaft gehörte der bei weitem größere Teil des Bodens dem Staate, und die Hälfte der Landbewohner bestand aus Reichsbauern. Diese wurden zwar auch von besonderen kaiserlichen Beamten unterdrückt und ausgepresst, sie waren aber keine Leibeigenen im engeren Sinne und hatten bei weitem mehr Land als die gutsherrlichen Bauern. Von den 50 Millionen Bauern bei der letzten Zählung vor der Aufhebung der Leibeigenschaft waren 27 Millionen Reichs- und Apanagenbauern, während auf dem Lande der Gutsbesitzer nur 23 Millionen saßen. Die Leibeigenen zahlten Abgaben vor allem in Arbeit und Geld. Zum Teil begnügte sich der Gutsbesitzer damit, dass ihm seine Leibeigenen jährlich eine Summe Geldes zahlten, während sie dafür Bewegungsfreiheit erhielten. Dies Rechtsverhältnis nannte man Obrok. Zuweilen überließ der Gutsbesitzer sein ganzes Land den Bauern, welche, genossenschaftlich im Mir vereinigt, ihm eine Pacht zahlten. Ferner bestanden Eigenwirtschaften der Gutsbesitzer, wo die Leibeigenen landwirtschaftliche Arbeiten zu verrichten hatten. Man muss sich die Periode der Leibeigenschaft nicht etwa als eine bloße Bauernschinderei vorstellen. Jede gesetzliche Einrichtung hängt von der Art ab, wie sie gehandhabt wird. Die große Mehrzahl der Gutsbesitzer verfuhr gegen ihre Leibeigenen wohl so, dass sie ganz gut leben konnten. Der Gutsbesitzer war, wenn das Haus des Bauern abbrannte, oder eine schlechte Ernte eintrat, verpflichtet, den Bauern zu unterstützen. Der Fehler war, dass viele Grundbesitzer von den Leibeigenen übermäßige Arbeiten forderten und sie unmenschlich behandelten. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts konnte der Gutsbesitzer nach den geltenden Gesetzen ungemessene Arbeit von seinen Leibeigenen verlangen, nur mit der Beschränkung, dass sie dadurch nicht zu Grunde gerichtet und die ihnen durch das Gesetz festgesetzten Tage für ihre eigene Arbeit belassen wurden. Ferner hatte er eine Strafgerichtsbarkeit bis zu vierzig Rutenstreichen oder fünfzehn Stockschlägen. Schließlich hatte er das Recht, wenn er einen Leibeigenen für unverbesserlich hielt, ihn der Militärbehörde zur Einreihung als Rekrut oder zur Verschickung nach Sibirien zu überliefern. Die Bauern hatten gegen diese Bestimmung, dass sie oder ihre Söhne zu Rekruten genommen oder nach Sibirien verschickt wurden, keinen gesetzlichen Schutz. Das benutzten die Grundbesitzer vielfach zu Erpressungen. So lebte nun das russische Volk bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Die Bauern antworteten auf alle Unterdrückungen durch passiven Widerstand, und wenn es ihnen besonders schlecht ging, dann entliefen sie ihren Peinigern. Sie zogen dann, indem sie sich als Pilger ausgaben, durch das weite Russland und wurden in den Klöstern, wie es in Russland Sitte war, unentgeltlich aufgenommen, ohne dass irgendwelche Fragen an sie gestellt wurden. Die Hausbedienten erhielten keinen Gehalt, infolgedessen war ihre Zahl sehr groß, und sie brauchten nicht viel zu arbeiten. Es war aber ein großes Unglück, wenn ein Bauer zum Hausbedienten gemacht wurde, da er dadurch seinen Anteil an dem Gemeindelande verlor. Die Klasse dieser eigentlichen Haussklaven ergänzte sich durch natürliche Vermehrung. Noch zu Beginn des vorigen Jahrhunderts war es ganz üblich, die Hausbedienten zu verkaufen, ebenso wie in andern Ländern, wo die Sklaverei gesetzlich eingeführt war. In den Zeitungen dieser Zeit finden sich Anzeigen, wo Kutscher, Hausmädchen und Jäger neben Kühen und Musikinstrumenten zum Verkauf angeboten wurden. Die Zahl der Hausbedienten betrug etwa 7% der Gesamtzahl der Leibeigenen.


Im März 1856 wandte Alexander in Moskau sich zu den versammelten Adelsmarschällen mit den Worten: „Es ist besser, es kommt von oben, als von unten. Ich bitte Sie zu überlegen, wie eine Änderung des Besitzes von Leibeigenen ausgeführt werden kann und meine Worte dem Adel mitzuteilen." Der Zar wollte, dass der Adel freiwillig einen Vorschlag machte, aber seine Worte hatten nicht den gewünschten Erfolg. Der Kaiser war enttäuscht, er glaubte, dass sein getreuer Moskauer Adel seinem Ruf sofort entsprechen würde. Er bildete nunmehr ein aus Staatsbeamten zusammengesetztes Komitee für Bauernangelegenheiten. In Litauen wollten die Gutsbesitzer eine Reform gewisser Spezialbestimmungen, aber nicht etwa die Aufhebung der Leibeigenschaft. Es wurde aber ein kaiserliches Reskript entworfen, in dem ihr Verlangen gutgeheißen wurde, und in dem gesagt wurde, die Aufhebung der Leibeigenschaft müsse allmählich vollzogen werden. Es wurde nun ein Rundschreiben an alle Gouverneure und Adelsmarschälle gerichtet, dass der litauische Adel die Notwendigkeit erkannt hätte, seine Bauern frei zu geben, und dass diese edle Absicht dem Kaiser besondere Genugtuung gewährt hätte. Das Reskript wurde mitgeteilt für den Fall, „dass der Adel der andern Provinzen einen ähnlichen Wunsch äußern sollte.“ Das war nun nicht mehr misszuverstehen. Die Presse begrüßte die Anregung der Frage mit Enthusiasmus. Beinahe der ganze Adel wurde auch von dem Streben ergriffen, die modernen, menschenfreundlichen Ideen widersprechende Leibeigenschaft abzuschaffen. Es fragte sich nun, ob die Bauern ohne Land befreit werden sollten, und ob jene Gemeindeeinrichtungen, die jedem einen Anteil des Bodens gaben, abgeschafft werden sollten. Eine große Strömung in der Gesellschaft sah in der Verleihung von Land an die befreiten Leibeigenen und in der Beibehaltung der ländlichen Gemeinde die besten Mittel, um die Bildung eines Proletariats in Russland zu verhüten. In provinzialen Komitees, die zur Beratung der Reformen zusammentraten, wurden auch die Interessen des Adels verteidigt. Es gab aber überall eine Minderheit, die allgemeine Menschheitsideale vertrat. In den Zentralkomitees der Regierung gewann die liberale Richtung die Oberhand. Man wollte die Leibeigenen in eine Klasse freier Bauern verwandeln, die ein Haus, einen Garten und einen Teil des Gemeindelandes besitzen sollten. Im übrigen sollten die bestehenden Einrichtungen beibehalten werden, vor allem aber die Bauern das Land, das sie in Nutzung hatten, jetzt zu Eigentum erhalten.

Nachdem die nötigen Vorbereitungen getroffen waren, verkündete der kaiserliche Erlass vom 19. Februar (3. März) 1861 den Leibeigenen der Gutsbesitzer und ihren Haussklaven die Befreiung. Die wichtigsten Bestimmungen des Gesetzes waren, dass die Leibeigenen nunmehr zu freien ländlichen Bewohnern werden sollten und an die Stelle der Abhängigkeit von Gutsbesitzern Selbstverwaltung der Gemeinde eingeführt werden! sollte. Die freie Landgemeinde sollte das von ihr zur Zeit genutzte Land als freies Eigentum erhalten und dem Gutsbesitzer dafür bestimmte jährliche Abgaben zahlen. Hierbei wollte die Regierung den Gemeinden helfen, durch Gewährung von Kredit diese Abgaben abzulösen. Die Hausbedienten sollten kein Anrecht auf einen Landanteil haben, aber nach zwei Jahren völlig frei werden. Durch dieses Gesetz erhielten mehr als zwanzig Millionen Leibeigene die Freiheit. Auch die Staats- und Apanagenbauern wurden von ihrer besonderen Verwaltung befreit Obwohl die Bauern so durch das Manifest mehr als die Hälfte alles Ackerlandes erhielten, das den Gutsbesitzern gehört hatte, und die persönliche Freiheit, so waren sie doch keineswegs zufrieden. Aus der Freiheit machten sich die Bauern nicht viel, sie wollten materielle Vorteile haben. Die Bauern erhielten zwar die Hälfte des Landes, nach ihrer Auffassung war aber der ganze Grund und Boden ihr Eigentum. Diese Auffassung, die im Volksbewusstsein tief eingewurzelt ist, hat sich bis heute bewahrt. Die Bauern sahen nun, dass sie Abgaben zahlen sollten, sogar für das Gemeindeland, das sie für ihr unbestrittenes Eigentum ansahen. So wurde unter den Bauern die Anschauung wachgerufen, dass die Gutsbesitzer das Gesetz des Zaren falsch auslegten, oder dass der Zar noch ein zweites Manifest erlassen werde, wonach alles Land verteilt und alle Abgaben abgeschafft werden müssten. Die Regelung der neuen Besitzverhältnisse wurde angesehenen, reformfreundlichen Gutsbesitzern übertragen, die Friedensvermittler genannt wurden. Die Regelung der Angelegenheiten vollzog sich durchaus friedlich. Es wurde die neue Selbstverwaltung der Bauern organisiert Die ländliche Gemeinde, welche bereits bestand, wurde nun zu neuem Leben erweckt und erhielt die Selbstverwaltung. Mehrere Dorfgemeinden wurden in eine Samtgemeinde, die Wolost, die etwa ein Kirchspiel umfasste, als Verwaltungseinheit vereinigt. Eine solche bestand schon bei den Reichsbauern, und sie wurde nun auf das Gebiet der Leibeigenschaft übertragen. Bald verbreiteten sich unter den Bauern Gerüchte, der Kaiser säße auf einem goldenen Thron in der Krim und gebe jedem Bauern soviel Land, wie er wollte. Es begann ein solcher Zustrom nach der Krim, dass Militär aufgeboten werden musste.

Von nun an ward Alexander II. zum Abgott der Bauern. Die Großfürstin Helene hatte schon 1859 die Leibeigenen ihrer Güter freigelassen. Die übrigen Apanagenbauern und die Kronsbauern, deren Lage eine weit günstigere war, wurden 1866 für völlig frei erklärt Alexander II. blieb aber dabei nicht stehen. Er reformierte das Gerichtswesen nach französischem Muster, Justiz und Verwaltung wurden getrennt und die Geschworenengerichte für alle Verbrechen eingeführt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland im XX. Jahrhundert