Sechste Fortsetzung

Als im Jahre 1863 der polnische Aufstand ausbrach, verleugneten die russischen Liberalen nicht ihre Sympathie für die Sache Polens. Darüber war man sich aber einig, dass von einer Auslieferung Weißrusslands und Litauens an seine früheren Beherrscher, den polnischen Adel und die katholische Geistlichkeit nicht die Rede sein könne, und dass diese hauptsächlich von orthodoxen Russen bewohnten Provinzen dem russischen Staatsverband erhalten bleiben müssten. Die Polen waren damit nicht einverstanden, und als der Aufstand nach der Provinz Wilna übergriff und das Erscheinen polnischer Gendarmen die bäuerlichen Massen zu einer Erhebung gegen ihre polnischen Herren und zum Anschluss an die Regierung bestimmt hatte, da trat das ganze liberale Russland gegen die Polen auf. Als Herzen und Bakunin den Anspruch der Polen auf die weißrussischen und litauischen Provinzen anerkannten, da wandten sich auch ihre Anhänger von ihnen ab.

Nach Unterdrückung des Aufstandes setzte Alexander die Reformtätigkeit fort. Eine ausgedehnte Selbstverwaltung wurde in den Semstwos geschaffen. Den Universitäten wurde ein liberales Statut mit der Wahl der Dozenten durch die Professoren gegeben. Als sich der Zar am 16. April 1866 im Kaiserlichen Sommergarten befand, schoss der Student Karakasow auf ihn. Damit begann die Epoche der Mordanschläge auf die Zaren und auf hohe und auf niedere Beamte. Man nennt sie vielfach nihilistische Verbrechen, jedoch, wie später erklärt werden soll, mit Unrecht. Als den geistigen Vater der Bewegung nennt man meistens Michael Bakunin.


Michael Bakunin stammte aus einer alten Adelsfamilie der Provinz Twer. Nachdem er, wie damals alle Adligen in den Militärdienst getreten war, ging er im Alter von 22 Jahren auf die Moskauer Universität und verkehrte in dem Kreise von Stankewitsch. Anfang der vierziger Jahre bezog er die Berliner Universität, ging aber bald darauf nach Dresden, um Arnold Rüge, den Herausgeber der Halleschen Jahrbücher, kennen zu lernen. Er beherrschte die deutsche Sprache und die Hegelsche Terminologie völlig, so dass ihn Rüge aufforderte, an der Zeitschrift mitzuarbeiten. Später ging er nach Paris. Im Jahre 1848 nahm Bakunin an dem Aufstand in Dresden teil, ja er war die eigentliche Seele der Verteidigung gegen die sächsischen und preußischen Truppen. Nachdem er ergriffen und an die Truppen ausgeliefert war, wusste er nach dem Urteil der Zeitgenossen sich bis zuletzt eine stolze Haltung zu wahren. Einen der ihn begleitenden Offiziere belehrte der gefesselte Riese, dass in politischen Dingen allein der Erfolg darüber entscheide, was große Tat und was Verbrechen sei. Bakunin wurde zunächst in Sachsen zum Tode verurteilt, aber der österreichischen Regierung ausgeliefert. In Österreich wurde er ebenfalls zum Tode verdammt, aber auf Verlangen des Kaisers Nikolaus an Russland herausgegeben und dort zunächst drei Jahre in der Peter-Paulfestung und alsdann weitere drei Jahre in Schlüsselburg gefangen gehalten. Kaiser Nikolaus hatte im Jahre 1851 von ihm verlangt, dass er an ihn wie an einem Vater schreiben sollte. Der Brief fiel so aus, dass der Kaiser sich über ihn äußerte: „Er ist ein kluger, braver Kerl, aber ein gefährlicher Mensch, man muss ihn hinter Schloss und Riegel halten.“ Bei der gelegentlich der Krönung Alexanders II. verkündeten Amnestie wurde Bakunin in das östliche Sibirien verbannt. Da der Generalgouverneur von Ostsibirien sein Vetter war, so war seine Bewachung nicht allzu streng, so dass er über Japan nach Nordamerika fliehen konnte. Nachdem er in England gelandet war, begann der fast 50 jährige Mann seine revolutionäre Tätigkeit von neuem, indem er vor allem Sendschreiben an die russische Jugend richtete. Bakunins literarische Tätigkeit ist für das Verständnis der russischen revolutionären Bewegung von der größten Bedeutung. In dem Aufsatz, den Bakunin in den Halleschen Jahrbüchern veröffentlichte, wurde ausgeführt, dass die Gegner des Revolutionsprinzips eine reaktionäre, weitverbreitete Partei seien, die in der Politik Konservatismus, in der Rechtswissenschaft historische Schule, in der spekulativen Wissenschaft positive Philosophie genannt werde. Die Macht dieser Reaktion liege an der Unzulänglichkeit der demokratischen Partei, welche noch nicht zum affirmativen Bewusstsein ihres Prinzips gekommen sei und, weil sie die ganze Fülle des Lebens außer sich habe, nur als Negation der bestehenden Wirklichkeit existiere. Die demokratische Partei dürfe sich mit dem, was sie nach ihrer innersten Natur zerstören müsse, äußerlich nicht vertragen. Der Standpunkt der Vermittlung sei unehrlich. Der Artikel schließt mit den Worten: „Lasst uns deshalb dem ewigen Geiste vertrauen, der nur deshalb zerstört und vernichtet, weil er der unergründliche und ewig schaffende Quell alles Lebens ist Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust.“

Im Jahre 1848 erschien ein Aufruf an die Slawen, in dem gesagt wird, dass die Welt in zwei Heerlager geteilt sei. Hier Revolution, dort Kontrerevolution, das seien die Losungen.

Das Endziel der Revolution sei die allgemeine Föderation der europäischen Republiken. Bakunin sagt weiter, dass er im Namen von sechzig Millionen Slawen spreche. Nicht bei Kaiser Nikolaus sollten sie Rettung suchen, sondern in demjenigen Russland, welches das Kaiserliche Russland über ein kurzes stürzen und von der Erde vertilgen werde. Dem deutschen Volke, nicht aber den Despoten Deutschlands sollten sie die Hand bieten. In einer weiteren Schrift „Romanow, Pugatschew oder Pestel" meint Bakunin, Alexander II. könnte sehr leicht der Abgott des Volkes, der erste russische Volkszar werden, mächtig durch die Liebe, die Freiheit und die Wohlfahrt seines Volkes. Er müsste Polen befreien und sich dadurch von den Deutschen losmachen. Bakunins System, das er sich später zurecht gemacht hat, ist folgendermaßen zu charakterisieren: Die westeuropäische Zivilisation beruhe auf der Zwangsarbeit einer ungeheuren Mehrheit, die zu einer elenden Existenz verurteilt sei, damit eine kleine Minderheit gut leben könne. Dieser Zustand könne nicht von Dauer sein, denn die Arbeiter wollten selbst Einfluss auf die Politik gewinnen. Sie strebten danach, nur eine Klasse von Menschen zu schaffen, welche allen die gleichen Ausgangspunkte, gleichen Unterhalt, dieselben Erziehungs- und Bildungsmittel biete, und zwar nicht durch Gesetze, sondern durch die Natur ihrer Organisation. Der Kommunismus sei zu verwerfen, weil derselbe die Verneinung der Freiheit sei, weil er alles Eigentum in die Hände des Staates lege, während die Abschaffung des Staates grundsätzlich anzustreben sei.

Die menschliche Gesellschaft sei zu organisieren ohne Autorität, von unten nach oben durch freie Genossenschaften. Alle Einrichtungen des gegenwärtigen Staates seien abzuschaffen, vor allem das persönliche Eigentum und das Erbrecht, da dies nur Konsequenzen des Staatsprinzips seien. Wenn alle Menschen gleich seien und dieselben Mittel hätten, ihre Bedürfnisse durch eigene Arbeit zu bestreiten, so würden die jetzt für natürlich gehaltenen Ungleichheiten verschwinden. Deswegen sei also die Natur durch die Organisation der Gesellschaft zu verbessern.

Bakunin selbst wollte während des Deutsch-französischen Krieges die Proletarier aller Länder zum Schutze Frankreichs herbeirufen. Er schrieb eine Flugschrift unter dem bezeichnenden Titel „L’Empire knouto-germanique et la révolution sociale'', worin er ausführte, dass Frankreichs Unterwerfung unter ein von preußischen Bajonetten eingesetztes Regiment ein Unglück für Europa und die Welt sei. Seit dreihundert Jahren jedes liberalen Gedankens bar, seien die Deutschen ruhig und zufrieden, wie Ratten in einem Käse, nur von dem einen Wunsche beseelt, dass dieser Käse möglichst groß werde. Sie hätten es durch ihre gewohnte Disziplin und ihr gewohntes Sklaventum leicht gehabt, aber das demoralisierte Frankreich den Sieg davonzutragen. Bakunin war der Todfeind von Marx, der eine Anzahl von Schriften gegen ihn publizieren ließ. So sehen wir, dass in diesem Manne ein Revolutionär, der den Staat abschaffen wollte, sich mit einem begeisterten Panslawisten paarte. Alle seine Theorien wurzelten aber im deutschen Boden.

In einer der zitierten Schriften sagt Bakunin: „Blutige Revolutionen sind dank der menschlichen Dummheit manchmal notwendig, doch sind sie immer ein Übel, ein ungeheures Übel und ein großes Unglück.“

Den politischen Mord hat Bakunin niemals gepredigt. Bakunin hat sich bis in sein spätes Alter eine gewisse Sorglosigkeit und Naivität bewahrt. Er war ein großes Kind geblieben. Er ließ sich dazu bewegen, mit einem minderwertigen, ungebildeten jungen Russen, Netschajew, in Verbindung zu treten, indem er ihm die Leitung des russischen Zweiges eines von ihm gebildeten revolutionären Vereins anvertraute, der „Europäischen Revolutionären Vereinigung.“ Netschajew, der bis dahin gar keine Verbindung in revolutionären Kreisen hatte, gelang es, allein mit der Vorzeigung eines von Bakunin ausgestellten Scheines mit einem Stempel unter Studenten, Schülern und jungen Offizieren einen Geheimbund zu gründen. Netschajew publizierte angeblich von Bakunin verfasste Schriften und hielt die Organisation durch die Furcht vor einem Hauptkomitee, das nicht existierte, zusammen. Es steht nicht unbedingt fest, ob die von ihm veröffentlichten Schriften wirklich von Bakunin verfasst waren. In einem „Wort an die russische Jugend" wird ausgeführt, dass unter dem Zaren Alexis der Räuberhauptmann Stenka Rasin den Weg zur Befreiung des russischen Volkes betreten habe. In ihm sei der staatenzerstörende Geist des russischen Volkstums repräsentiert. Dieses nationale Räubertum sei eine der herrlichsten Erscheinungen des russischen Volkslebens. Die russischen Räuber seien die wahren Revolutionäre ohne Phrase und Theorien. Eine wahre russische Volksrevolution könne nur von dieser Welt ausgehen. Deswegen sollte die Jugend Universität und Schule verlassen, die die Träger einer Wissenschaft seien, die nur dazu diente, die Jugend zu entmannen und zu fesseln.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland im XX. Jahrhundert