Vierte Fortsetzung

Russland habe auch keine Stände gehabt, die sich gegenseitig bekämpft hätten. Der Adel habe sich nicht des Bodens bemächtigt, sondern die Bauerngemeinden seien die Eigentümer gewesen. Die Kirche sei mit dem Staat stets verbündet gewesen, und wie in einer großen Gemeinde habe der Zar die Gewalt ausgeübt. Peter habe nun diese Prinzipien verworfen und damit die Einheit des Volkes gestört. Der Staat sei nicht mehr national und die Kirche in starren Formalismus versunken. Um zur alten, natürlichen Entwicklung zurückzugelangen, müsse man von neuem die altrussischen Grundsätze annehmen. Die europäische Zivilisation sei nicht durchweg zu verwerfen, und nur das Prinzip, das sie verfolge, sei abzulehnen, da es sich auch im Westen nicht bewährt habe. Durch die von Peter dem Großen eingeführten Reformen seien die höheren Klassen der Bevölkerung von dem Volke getrennt worden. Die höheren Klassen hätten die europäische Zivilisation angenommen, die selbst im Niedergange begriffen sei. Deswegen müsse man zur alten Einheit zwischen dem Volke und den höheren Klassen zurückgehen. Das vernachlässigte und geknechtete Volk habe sich die wahren russischen Anschauungen, die die Elemente einer weiteren nationalen Entwicklung seien, treu bewahrt.

Endlich enthalte auch das russische Volkstum patriarchalische Tugenden, die Europa wenig bekannt seien. Dahin gehöre die Religiosität des russischen Volkes, sein volles Vertrauen zur Regierung und sein absoluter Gehorsam. Dieser Zustand zeuge von der Unverdorbenheit des Volkes, und sogar die Leibeigenschaft, welche nur einiger Reformen bedürfe, enthalte viel Patriarchales in sich, indem ein guter Herr für seine Leibeigenen besser sorge als sie selbst.


Die Anhänger des Westens wollten westeuropäische Reformen eingeführt wissen. Sie traten für Aufhebung der Leibeigenschaft, für eine Umgestaltung des Gerichtswesens und der Verwaltung ein. Die Vertreter beider Richtungen gingen zu Beginn der vierziger Jahre nach Berlin, wo die Hegelsche Richtung vorherrschte. Nach Berlin waren Katkow wie Granowski, Bakunin wie Turgeniew gegangen, die auch zusammen wohnten und studierten.

Von philosophischen Abstraktionen, von verschiedenen Auffassungen der Geschichte wie der Kunst ausgehend, wurden Westler wie Slawophilen bald in das Leben hineingedrängt.

Die beiden philosophischen Schulen begannen bald, sich zu bekämpfen; die Westler warfen den Slawophilen vor, dass sie nur Vertreter des Regierungssystems seien, während die Slawophilen gegen ihre Gegner den Vorwurf erhoben, dass sie nicht national, keine Patrioten, seien.

Tatsächlich waren die Vertreter beider Schulen überzeugte und patriotisch empfindende Männer. Die Führer der Slawophilen waren aufrichtig religiös, rechtlich und unabhängig in ihren Überzeugungen. Sie wurden auch dafür häufig von der Zensur verfolgt. Den Kaiser nannten ihre Anhänger wegen seiner Vorliebe für das preußische Militär und wegen seiner deutschen Verwandtschaft Karl Iwanowitsch, genau so, wie die demokratischen Preußen jener Zeit den König „Lehmann“ nannten. Die Westler haben nur zu allererst das nationale Element wenig betont. Man kann aber auf sie insgesamt die Worte anwenden, die Puschkin sang, als man ihm Mangel an Patriotismus vorwarf.

Weil ich bei ihrem Tun vor Scham oft rot bin,
Mir nicht Musik erscheint Geklirr der Ketten
Und mich nicht lockt der Glanz von Bajonetten,
Behaupten sie, dass ich kein Patriot bin.

Unter Nikolaus wurde der russische Gesetzeskodex geschaffen. So wurde er zum Justinian Russlands. Auch er war bemüht, die Leibeigenschaft aufzuheben, freilich aber ohne Erfolg. Um schädliche Einflüsse fernzuhalten, wurde die Zensur in unerhört strenger Weise gehandhabt.

Schon in den letzten Jahren der Regierung Alexanders I. hatte die Zensur jede freie Regung des Geistes unterdrückt. Manche Zensoren zeigten einen besonderen religiösen Eifer. Als in einem lyrischen Gedicht, das von Liebe handelte, das Datum des 9. März vermerkt war, wurde das Gedicht abgelehnt, weil der 9. März zu Beginn der großen Fasten fiele und während dieser Zeit es „unanständig sei, von der Liebe zu irgendeinem unbekannten Mädchen zu sprechen.“ Als ein Gelehrter eine statistische Übersicht über Morde und Selbstmorde auf Grund offiziellen Materials zusammenstellte, wurde der Druck des Berichts verboten. Der Zensor verfügte folgendermaßen: „Ein solcher Aufsatz ist nicht nur unnütz, sondern sogar schädlich. Wozu braucht man die Zahl der Verbrechen zu wissen. Wie kann ferner der Leser sicher sein, dass die Zahl nicht übertrieben ist. Wozu kann drittens eine solche Publikation dienen? Höchstens dass die Verbrecher, die noch nicht entschlossen waren, sich nunmehr ans Werk machen. Solche Artikel müssen den Verfassern mit dem Bemerken zurückgesandt werden, dass sie sich fürderhin mit solchen unnützen Dingen nicht abgeben sollen.“

In einem geographischen Artikel strich der Zensor eine Stelle, wo es hieß, dass man in Sibirien auf Hundeschlitten fahre, mit der Begründung, dass er davon noch nichts gehört habe, und dass er vom Autor hierüber eine Bescheinigung von selten des Ministeriums des Innern verlange.

Die Zensur hat sich manchmal nicht gescheut, die Worte der Autoren zu streichen und den Sinn vollständig zu verändern. In einem deutschen Lustspiel im Anfang des vorigen Jahrhunderts sagt ein verliebter Schuster, der von hoffnungsloser Liebe entbrannt war: „Ich gehe nach Russland, dort soll es kälter sein als hier.“ Da setzte der Zensor hierfür: „Ich gehe nach Russland, dort gibt es lauter ehrliche Leute“.

Am schlimmsten wurde aber die Zensur nach 1848, wie überhaupt die Ereignisse dieses Jahres der russischen Politik ihre Richtung gaben. Es wurde nun jede Besprechung der gegenwärtigen Gesetzgebung verboten. Die Zeitungen wurden angewiesen, von den Konstitutionen und den Volksvertretungen der europäischen Staaten zu schweigen. Es wurde auch jede Kritik ausländischer Bücher und Schriften, die verboten waren und darum nicht bekannt werden sollten, untersagt, auch wenn sie noch so wohlmeinend sei. Ferner wurde verboten, die russischen Volksaufstände, wie den Aufstand Pugatschews, zu schildern. Es wurde auch untersagt alle Volkssprichwörter, Anekdoten usw. und überhaupt alle volkstümlichen Überlieferungen zu drucken, durch welche die guten Sitten verletzt werden könnten. Die Volkslieder sollten einer strengen Zensur unterworfen werden. Das Verbot, über die staatlichen Institutionen zu schreiben, wurde so verstanden, dass einem Schriftsteller verboten wurde, weiter zu schreiben, weil in einer seiner Erzählungen der Polizei nicht gelang, eine Diebin einzufangen. Die Zensoren wurden angewiesen, streng zu sein. Als in einer Erzählung, die in einer Zeitung veröffentlicht war, die Sätze vorkamen: ,,So ein kaiserlicher Feldjäger, der mit den Sporen klirrt und die mit Bartpomade getränkten Schnurrbartspitzen emporsträubt und die mit ihm tanzende Dame in eine Rosenwolke hüllt, der kann sich was einbilden“, so wurde der Zensor, weil er diese Stelle durchgelassen hatte, eingesperrt, weil es unanständig sei, Personen anzugreifen, die zum Offiziersstande gehörten. Es wurde schließlich aus Anlass eines Zeitungsartikels, der sich über die Droschkenkutscher beklagte, die zu hohe Preise nehmen, allgemein verboten, in der Presse auch nur indirekten Tadel über die Verfügungen der Regierung und der von ihr eingesetzten Behörden zu äußern. Nach der westeuropäischen Revolution von 1848 verloren die Universitäten das Recht der Wahl des Rektors, und die Zahl der Studenten wurde auf dreihundert beschränkt. Die klassischen Sprachen wurden für staatsgefährlich angesehen. In einem Geschichtsbuch für den Schulgebrauch konnte man damals lesen, die Römer hätten nur deshalb eine Republik gehabt, weil sie den wohltätigen Einfluss der reinen Monarchie noch nicht erfahren hätten. Man begann in den Schulen Gesetzeskenntnis zu lehren, dabei wurde aber den Lehrern verboten, die Theorie und die Geschichte der Gesetze auch nur zu berühren. Man kann sich vorstellen, wie die späteren Beamten die so erlernten Gesetze anwendeten.

Diese Maßregeln waren für die Wissenschaft verhängnisvoll. Eine Halbbildung verbreitete sich in Russland und als ihr nie fehlender Begleiter der Dünkel, die Nichtachtung vor Autoritäten und eine vollständige Unfähigkeit zum logischen Denken. Noch heute wirken diese Maßregeln nach.

Als der Krimkrieg hereinbrach und die auf dem Selbstherrschertum aufgebaute Regierungsmaschine völlig versagte und zum ersten Male die öffentliche Meinung erwachte und das Regierungssystem für die Misserfolge verantwortlich machte, da sah Nikolaus froh dem Tode entgegen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland im XX. Jahrhundert