Dritte Fortsetzung

Das Wesen der Leibeigenschaft war ein Teil eines Systems, wonach in Russland jedermann dem Zaren zu dienen hatte. Der Adel war verpflichtet, dem Zaren direkt zu dienen, und die Leibeigenen dienten dafür dem Adel. Durch Peter III. wurde im Jahre 1762 der obligatorische Dienst des Adels aufgehoben. Es wurde aber nicht zugleich das Dienen der Bauern abgeschafft, was die logische Folge hätte sein müssen. Die Bauern dachten jedoch logisch, sie hielten an der alten Auffassung fest und erwarteten ein weiteres Manifest, das sie aus der Gewalt der Besitzer befreien sollte. Peter III. wurde durch eine Palastverschwörung entthront. Dadurch erhielten die Gerüchte, dass er ein Befreiungsmanifest erlassen hatte, dass aber der Adel die Leibeigenschaft beizubehalten wünsche, unter den Bauern neue Nahrung.

Peters Nachfolgerin, Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst, die sich nach ihrem Übertritt zum orthodoxen Glauben Katharina nannte, wurde die größte russische Kaiserin. In dem Kampfe zwischen Reaktion und Fortschritt trat sie für europäische Kultur ein. Im Beginn ihrer Regierung wollte sie Aufhebung der Leibeigenschaft, sie wollte die Einberufung einer gesetzgehenden Versammlung bewerkstelligen. Sie berief auch eine Anzahl Abgeordneter aus allen Ständen und allen Rassen des Reiches, löste aber nach kurzer Zeit die Versammlung wieder auf.


Durch die Dörfer lief inzwischen die Kunde, der Zar Peter sei den Verschwörern entronnen, und bald erschien in dem Dongebiet ein Kosak namens Pugatschew, der sich für den Zaren ausgab. Tausende von Kosaken fielen ihm zu, und er zog bald in das Gebiet der Wolga, überall von den Bauern als Zar begrüßt. Die gegen ihn gesandten Truppen schlug er mehrmals, und man fürchtete schon einen Einfall in das Herz des Reiches. Endlich gelang es einem größeren Heere, ihn zu besiegen. Als zu der Zeit, wo man über Aufhebung der Leibeigenschaft beriet, in Kleinrussland ein Bauernaufstand ausbrach, da machte die Kaiserin, die kurze Zeit vorher das Wort Rab, das heißt Sklave, aus dem russischen Wörterbuche gestrichen hatte, über eine Million freier Bauern zu Leibeigenen.

Unter ihr erreichte die Leibeigenschaft ihren Höhepunkt. Die Leibeigenen wurden nun als ein Teil des unbeweglichen Vermögens der Gutsbesitzer angesehen. Sie waren Zubehör des Bodens. Man gewöhnte sich, den Grundbesitz nicht nach Morgen zu berechnen, sondern nach der Zahl der männlichen Leibeigenen. So sagte man, es habe jemand so und so viel hundert „Seelen“. Damit der Geist des Ungehorsams in den Leibeigenen nicht geweckt werden könnte, wurde von Katharina verordnet, dass Leibeigene, welche gegen ihre Herren klagten, gepeitscht und in die Bergwerke nach Sibirien verschickt werden sollten. Aus Rücksicht auf Westeuropa verbot Katharina nur ihre öffentliche Versteigerung, das sie dies für eines „europäischen Staates“ unwürdig hielt.

Katharina teilte den Staat in Verwaltungsbezirke; um sich Mittel zu Kulturaufgaben zu verschaffen, zog sie die Kirchengüter ein. Voltaire schrieb damals: Heute kommt uns das Licht aus dem Norden.

Ihr Sohn war von ganz anderer Gesinnung als seine Mutter. Er hasste alles Fremde und schloss Russland gegen die Bücher und die in ihnen verbreiteten Ideen des Westens ab. Paul I. wollte die Macht der adligen Grundbesitzer beschränken und erließ ein Gesetz, wonach die Leibeigenen nicht mehr als drei Tage in der Woche für die Grundherren arbeiten sollten.

Katharina hatte aber ihrem Enkel Alexander eine liberale Erziehung angedeihen lassen, war doch der republikanisch gesinnte Schweizer Laharpe sein Lehrer gewesen. Alexander regierte zunächst im Sinne seiner Erziehung, er beabsichtigte, die Leibeigenschaft aufzuheben, und der deutsche Adel der Ostseeprovinzen machte auch den Anfang mit der Befreiung der lettischen und estnischen Leibeigenen. Von seinem Staatssekretär Michael Speranski wurden Ministerien eingeführt und ein Staatsrat. Bald bekam aber die altrussische Partei das Obergewicht; der Historiker Karamsin trat für die Leibeigenschaft und die unbeschränkte Selbstherrschaft ein. Die Gräueltaten der französischen Revolution und der ihr nachfolgenden Napoleonischen Zeit ließen Alexander in seinen Ideen schwankend werden. Es ging ihm ebenso wie seiner Großmutter Katharina. Nun waren aber die Offiziere, die nach 1815 aus Frankreich zurückkehrten, von den Ideen der französischen Revolution nicht unbeeinflusst geblieben. Es bildeten sich in den höheren Kreisen des Adels Geheimbünde zur Befreiung Russlands, ohne dass sie bestimmte politische Ziele gehabt hätten.

Als Alexander unerwartet auf einer Reise im südlichen Russland starb, hatte von seinen beiden Brüdern Konstantin und Nikolaus, von denen der erstere als liberal und Anhänger einer konstitutionellen Regierungsform galt, Konstantin als der ältere das nächste Anrecht auf die Krone. Konstantin hatte aber, weil er eine nicht standesgemäße Ehe einging, bereits förmlich dem Throne entsagt. Infolge einer in Russland noch häufig in der Geschichte hervortretenden Überstürzung und Zerfahrenheit hatte Nikolaus seinem älteren Bruder, der gerade in Warschau weilte, bereits als Kaiser gehuldigt. Es bildete sich nun in höheren Adels- und besonders Offizierskreisen der Garde die Dezemberverschwörung. Den Truppen wurde erzählt, dass Konstantin als Gefangener sich in Warschau befinde, und es wurde ihnen befohlen: Hoch die Konstitution! zu rufen. Der Versuch Konstantin auf den Thron zu bringen, scheiterte vollständig. Die Soldaten, welche die Konstitution hoch leben ließen, waren der Meinung, dass die Konstitution die Gemahlin Konstantins sei. Von Nikolaus wurden einige der Dezemberverschwörer (Dekabristen) dem Henker überliefert, andere verbannt.

Der tatkräftige, mit seltener Charakterstärke begabte Nikolaus war von der Größe seines Berufs als absoluter Monarch durchdrungen. Nikolaus hatte sich ein selbständiges System geschaffen, nach welchem er regierte. Für ihn waren die Grundpfeiler seiner Regierung die unumschränkte Monarchie und die Orthodoxie. Er wusste wohl, dass Westeuropa in der Zivilisation weiter fortgeschritten sei als Russland. Dafür kannte es aber nach seiner Ansicht nicht die schlimmen Seiten der Zivilisation. Kunst und Wissenschaft unterstützte Nikolaus, soweit sie nach seiner Anschauung für den Staat nützlich waren. Im übrigen wollte er sein Volk in dem glücklichen Zustande, in dem es sich nach seiner Meinung befand, erhalten, indem er den europäischen Einfluss fernhielt.

Unter Nikolaus hielt man die höhere Bildung für die niederen Klassen nicht nur für überflüssig, sondern auch für positiv schädlich. Der Kaiser fand es für gut, die Unterrichtsbehörden zu mahnen, sie sollten den ungezügelten Drang junger Leute der niedrigsten Stände nach höherer Bildung, durch die sie aus ihrem ursprünglichen Zustande ohne Nutzen für den Staat gelangen, unterdrücken.

Nikolaus fasste seine Stellung auf als eine allgemeine, allseitige und ausschließliche Sorge um das Volkswohl. Ober allem sollte sich eine leitende Autorität erheben. Wenn in der Praxis auch nicht alles vollkommen sei, so liege das an der menschlichen Schwäche. Daher müsse die Autorität die Aufsicht über alle verdoppeln.

So wurde Russland zu einem Polizeistaat, wo die Obrigkeit für den braven Bürger alles tat, ihm sogar das Denken ersparen wollte.

Die Gedanken brachen sich aber doch Bahn. Ende der dreißiger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts bildete sich in Moskau ein Kreis, der sich mit deutscher, besonders aber Hegelscher Philosophie beschäftigte. Besonders das Haus eines wohlhabenden Privatmannes, Stankewitsch, vereinigte eine Anzahl Studenten, Offiziere und Schriftsteller, die hier über das Wesen des „absoluten Geistes" und des „an und für sich Seins" disputierten. Die Schlussfolgerungen, welche diese Moskauer Hegelianer aus den Werken des deutschen Philosophen zogen, hätten diesen wohl wenig erfreut. Aus diesem Kreise gingen zwei verschiedene historische und politische Schulen hervor, die Slawophilen und die Anhänger des Westens, die Sapadniki oder Westler. Die Slawophilen fanden in der Hegelschen Lehre ihre konservative Staats- und Geschichtsauffassung bestätigt, während die Westler die Theorien des französischen Sozialismus in der Hegelschen Philosophie verkörpert fanden. Die ältesten Vertreter der slawophilen Theorie waren die Brüder Iwan und Peter Kirejewski und Chomjakow, die besonders religiöse Fragen behandelten. Dazu kamen Konstantin und Iwan Aksakow, Juri Ssamarin, und später Katkow. Zu den Westlern gehörte der Literaturhistoriker Bjelinski, der Publizist Alexander Herzen und der Historiker Granowski.

Die von den Slawophilen aufgestellte Theorie über das Wesen des russischen Staates und der orthodoxen Kirche lässt sich folgendermaßen charakterisieren: Die russische Nation vertrete eine der westlichen entgegengesetzte Kultur. Die Kultur des Westens sei aus drei Elementen zusammengesetzt: aus der katholischen Kirche, der altrömischen Kultur und der Eroberungspolitik.

Die christliche Kirche sei in Wirklichkeit keine Gemeinschaft einzelner Individuen, sondern eine Einheit der göttlichen Gnade, die in der Gesamtheit aller derer, welche den einzigen und wahren Glauben bekennen, verweile. Der heilige Geist regiere und leite auch die Kirche und verleihe ihr Weisheit, und eben deswegen unterscheide sich die wahre Kirche von allen anderen Konfessionen durch innere Heiligkeit, die die Gegenwart jeglichen Irrtums ausschließe, und durch äußerliche Unveränderlichkeit, weil ihr Oberhaupt Christus unveränderlich ist.

Im Katholizismus habe nach der Abtrennung der griechisch-orthodoxen Kirche die äußere Verstandestätigkeit die Oberhand gewonnen und die Herrschaft der Päpste geschaffen. Von dem Katholizismus hätten sich die rationalistischen Sekten der Protestanten abgetrennt, die ihre Bedeutung nur in dem Gegensatz zum Katholizismus hätten. Die orthodoxe Kirche habe sich aber die Innerlichkeit gewahrt, in ihr seien die lebendigen über Verstand und Logik erhabenen religiösen Oberzeugungen herrschend geblieben. Die Orthodoxie sei das wahre Christentum. Anstatt des endlosen Kampfes logischer Abstraktionen, die das philosophische Denken Europas kennzeichneten, sei die Philosophie der Kirchenväter des Ostens wahrhaft christlich geblieben. Mit dem östlichen Christentum habe das russische Volk auch die durch die christlichen Lehren geläuterten Ergebnisse der östlichen Kultur empfangen. Und wenn sie auch in äußerer Verstandesentwicklung von der westlichen Kultur übertroffen worden sei, so sei in ihr das Gefühl der lebendigen christlichen Wahrheit erhalten worden. Daraus ergebe sich die göttliche Sendung des Slawentums und seine Aufgabe in der Gegenwart.

Wie in der Kirche, unterscheide sich aber Russland in seinem staatlichen Leben von dem der Völker des Westens. Während alle europäischen Staaten durch Eroberungen entstanden seien, ein Volk das andere unterjocht habe, so dass dort Gewalttätigkeit, Knechtschaft und Hass die Grundlage der Staatsbildung sei, sei das Russische Reich durch freiwillige Berufung der Waräger, also durch den Willen des Volkes, das eine Staatsgewalt von selbst begehrte, entstanden, so dass seine Grundlage Eintracht zwischen Volk und Fürst, Freiheit und Friede sei. In der russischen Geschichte gebe es kein Rittertum mit seinen blutigen Tugenden, keine unmenschliche religiöse Propaganda und keine Kreuzzüge. Demut im wahren Sinne sei eine unvergleichlich größere und höhere Geistesgabe, als jede stolze, furchtlose Tugend. Was das staatliche Leben angehe, so habe in Russland weder eine Aristokratie noch eine Demokratie wie im Westen bestanden. Jedem Hofbeamten sei das Volk nahe gewesen. Eine Garantie habe es nicht gegeben, aber eine solche sei auch nicht notwendig, sie sei ein Übel. Wo sie notwendig sei, da gebe es kein Gutes. Das Leben aber, in dem es kein Gutes gebe, solle lieber zu Grunde gehen, als mit Hilfe des Übels sich halten. Die größte Macht liege in der moralischen Überzeugung, und diesen Schatz besitze Russland, weil es immer vertraute und nicht zu Verträgen seine Zuflucht nahm. Wenn Europa nach konstitutionellen und republikanischen Formen und nach verschiedenen Freiheiten strebe und darin den Fortschritt sehe, so sei dies ein Irrtum und die Quelle der zersetzenden geistigen und politischen Kämpfe, welche Europa so sehr erschöpfen. Russland sei vor solchen Trugbildern des Staatlichen und nationalen Fortschrittes bewahrt worden, habe seine hergebrachten Prinzipien sich erhalten, könne daher mit den liberalen Bestrebungen in Europa nicht sympathisieren, sondern müsse das rein monarchische Prinzip aufrecht erhalten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland im XX. Jahrhundert