Zweite Fortsetzung

Ein stärkerer westeuropäischer, und zwar hauptsächlich deutscher Einfluss hat sich während des Mittelalters nur in den baltischen Küstenlandschaften und auch im nordwestlichen Teile Russlands in Nowgorod, wo der Kaufhof der Hansa stand, geltend gemacht. Von Iwan IV. an suchten die größten russischen Regenten die Bildung ihres hinter den anderen Völkern Europas weit zurückgebliebenen Volkes durch Berufung von Künstlern, Gelehrten, Technikern und Handwerkern aus dem Westen zu heben und ließen es sich angelegen sein, als sich das Reich durch Eroberungen nach Süden und Osten vergrößerte, die menschenleeren und wüsten Provinzen dadurch der Kultur schneller zuzuführen, dass sie aus Deutschland Ackerbauer, Winzer und Viehzüchter nach Russland zogen. Bereits unter Iwan IV. befand sich eine sehr beträchtliche Anzahl von Deutschen in Moskau. Es waren dies teils Künstler und Handwerker, vor allem aber Buchdrucker, die freiwillig eingewandert waren, teils unfreiwillige Einwanderer, besonders Livländer, die nach der Eroberung von Dorpat von den Russen als Kriegsgefangene nach dem Innern fortgeführt worden waren. Das Schicksal dieser ersten Deutschen in Russland war sehr wechselvoll. Der Zar gewährte ihnen zunächst allerlei Rechte und Freiheiten, als sie jedoch nach einiger Zeit zu ziemlichem Wohlstande gekommen waren, überfiel der „Schreckliche“ sie eines Tages mit den Großen seines Reiches, und sein Herold rief es durch die Straßen aus, „dass man die Deutschen ausplündern dürfe, doch ohne sie zu töten.“ Es wurde ihnen nur ihre Habe genommen, ihre Häuser wurden zerstört und ihnen selber sogar die Kleider vom Leibe gerissen. Derselbe Zar liebte es, ab und zu mit den evangelischen Pastoren, die den Gefangenen gefolgt waren, über die Grundsätze ihrer Lehre zu diskutieren, wobei es freilich zu unangenehmen Zwischenfällen kam. Als ein Pastor Luther mit dem Apostel Paulus verglich, da ergrimmte Iwan, wie der Chronist erzählt, „und er schlug den Pastor mit einer Reitpeitsche über den Kopf und schickte ihn mit seinem Luther zu allen Teufeln".

Peter I., der Große, der seinen Namen wie kaum ein anderer Regent verdient, ein hervorragender, mit unbeugsamer Willenskraft begabter Herrscher, suchte Russland zu einem europäischen Staate umzugestalten. Er legte überall mit Hand an, er unternahm Reisen nach dem Westen und wollte Russland durch Kultur groß und stark machen. Von der Sehnsucht nach dem Meere getrieben, gewann er im Nordischen Kriege Livland, Estland, Ingermanland und baute auf den Schweden abgenommenen Gebieten eine neue Hauptstadt, die seinen Namen trägt. Peter sorgte für Hebung des Bergbaues, der Landwirtschaft und der Viehzucht.


Er erließ im Jahre 1702 ein Manifest zu dem Zwecke, „die Fremden, welche an dem Ziele, den Handel zu verbessern und zu verbreiten, mitwirken wollten, anzuregen, gemeinsam mit anderen dem Reiche nützlichen Künstlern nach Russland zu kommen“. Der Ruf dieses Zaren hatte einen sehr großen Erfolg. Zwei Jahrzehnte nach der Gründung von St. Petersburg hatte die Stadt bereits drei reformierte und zwei lutherische Kirchen.

Unter Leitung von Deutschen und Holländern entstanden in Russland die ersten Fabriken, die ersten Erzgruben, Glashütten und Pulverwerkstätten.

Peter gründete eine Anzahl von Unterrichtsanstalten, eine Baugewerbeschule, eine Seeakademie und eine Schule, wo Kartenzeichner vorgebildet werden sollten. Auf den Vorschlag von Leibniz, den er sehr hoch schätzte und dem er den Geheimratstitel nebst tausend Talern Jahresgehalt verlieh, stiftete er die Akademie der Wissenschaften. Vom 1. Januar 1700 führte er den julianischen Kalender ein, während man bis dahin in Russland wie bei den Juden noch nach Jahren seit der Welterschaffung gerechnet hatte. Auch in das gesellschaftliche Leben griff er ein, indem er Bälle veranstaltete, auf denen zum ersten Male die Frauen in der Öffentlichkeit erschienen, die bis dahin nach morgenländischer Sitte verschleiert gingen und sich Männern nicht zeigten. Er führte auch europäische Tracht am Hofe ein und schnitt einigen Würdenträgern eigenhändig den Bart ab. Freilich hat er sich mit seinen Reformen bei dem Volke nicht überall Freunde erworben.

Der größte Teil des russischen Volkes und zwar nicht nur die unteren Volksklassen, sondern auch die meisten Vertreter des Adels und der Geistlichkeit hegten Hass und Verachtung gegen alles Fremde. Im Jahre 1701 verurteilte ein nationalgesinnter Russe die Einführung der Post. In einer hierüber veröffentlichten Schrift heißt es: „Die Ausländer haben aus unserem Lande in das ihre ein Loch durchgeschlagen und sehen dadurch alle unsere staatlichen und gewerblichen Angelegenheiten. Was auch immer bei uns geschehe, von allem wissen die Ausländer gleich; dadurch werden sie reich, wir aber verarmen. Wollen wir unsere Waren auf den Markt bringen, so schreiben die Deutschen sogleich in ihre Heimat, wie hoch dieselben im Preise stehen und ob es viel oder wenig Vorrat davon gibt. Auch wissen sie stets, wenn ihre ausländischen Waren nicht mehr reichlich vorhanden sind, und solche Waren bringen sie sofort und verlangen hohe Preise dafür. Unsere armen Kaufleute dagegen wissen nie etwas von den Marktpreisen und werden übervorteilt."

Peter der Große hat die natürliche Entwicklung allzu sehr beschleunigt. Eine durch acht Jahrhunderte in den Kreis eigener Sitte, eigener Sprache und Schrift, einer eigenen Kirche gebannte Nation sollte alles Eigene abstreifen und eine fremde Welt als überlegen annehmen.

Ausländische Elemente erfüllten das ganze Reich. Im Volke gab es stets Leute, welche gegen die Ausländer hetzten. Bei einem Volksaufstand wurde ein deutscher Gelehrter getötet, weil man in seiner Wohnung einige präparierte Seefische vorgefunden hatte. Besonders auf die Ärzte hatte es das Volk abgesehen, da das medizinische Studium als ein Teufelswerk galt. Der Patriarch Joachim protestierte gegen den Bau von evangelischen Kirchen in Russland. Es standen sich in Russland wie überall die zwei Grundsätze der Unduldsamkeit und Duldsamkeit gegenüber. Die Regierung vertrat den Fortschritt. Sie gestattete den Bau von steinernen evangelischen Gotteshäusern. Peter der Große musste den Widerstand der Kirche brechen. Er vertrat daher bei mehreren Kindern der Ausländer Patenstelle.

Schon im 16. Jahrhundert wurde der Gutsbesitzer Richter über seine Bauern. Seine persönliche Freiheit behielt der Bauer. Erst unter Peter dem Großen wurde dem Adel der Grundbesitz als freies Eigentum geschenkt und die bisher freien Bauern für leibeigen erklärt. Dabei behielten die Bauern aber ihr Recht auf Ernährung von dem Gut, auf dem sie saßen. Die Anschauung des russischen Volkes drückte dieses richtig aus. Die russischen leibeigenen Bauern sagten: „Wir gehören dem Herrn, aber der Grund und Boden gehört uns." Auch das Gesetz sprach diesen Grundsatz aus, indem es verbot, leibeigene Bauern ohne Land zu verkaufen. Im Volke verbreitete sich das Gerücht, der wahre Zar sei auf seiner Auslandsreise von den Deutschen in einem Fass ins Meer geworfen worden, und ein Betrüger sitze nun auf dem Throne.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland im XX. Jahrhundert