Zweite Fortsetzung

Dass sich aber die Abneigung gegen Deutschland, deren allgemeine Gründe angegeben wurden, nun in der Intelligenz, den politischen, publizistischen und militärischen Kreisen zum Hass und zur Kriegshetzerei gesteigert hat, ist ebenso wenig zu bestreiten, wie dass die noch durchaus gebundene Masse des russischen Volkes nicht in der Lage ist, selbst wenn sie schon rationell alle diese Zusammenhänge verstünde, ihre Meinung dagegen auszusprechen. Bismarck hat dazu schon in den „Gedanken und Erinnerungen“ (Kap. 23) das Entscheidende so ausgesprochen: „Die russische Entrüstung über das Ergebnis des Berliner Kongresses war eine der Erscheinungen, die bei einer dem Volke so wenig verständlichen Presse, wie es die russische in auswärtigen Beziehungen ist, und bei dem Zwange, der auf sie mit Leichtigkeit geübt wird, sich im Widerspruche mit aller Wahrheit und Vernunft ermöglichen ließ.“ Diese Worte unseres größten Staatsmannes, der gerade die Frage „Deutschland und Russland“ mit unvergleichlicher Sicherheit durchschaute, treffen die Lage, wie sie ist.

Sprach ich eben von dem elementaren Hass, der zwischen dem deutschen und englischen Volke entstanden ist, so ist dagegen von einem, das ganze Volk umfassenden und erfüllenden, Hass gegen das russische Volk auf der deutschen Seite auch nicht die Rede. Eine starke Abneigung gegen den russischen Staat ist immer in vielen Kreisen unseres Volkes lebendig gewesen und heute lebendig. Auch ihre Motive waren verschiedenartig. Man empfand das „Wettkriechen vor Russland“ als unwürdig des stolzen Deutschen Reiches, man sah auf der anderen Seite die Barbarei und Unkultur, das Gefühl empörte sich oft mit Recht gegen Freundschaft mit einem Staate der schrankenlosen Polizeiwillkür, der sibirischen Gefängnisse usw., die politisch liberale Anschauung war gegen Beziehungen zu dem Reich des Absolutismus, die die „Reaktion“ im Innern stützen könnten. Später fand auch die Überzeugung von dem welthistorischen Gegensatz zwischen Germanentum und Slawentum Vertreter in Deutschland und wurde gern verlautbart. Diese Abneigung, die niemals annähernd so große Kreise der Gesellschaft in Deutschland ergriff, wie in Russland, ist ferner durch einseitige und tendenziöse Informationen über die innerrussischen Verhältnisse und noch mehr dadurch genährt worden, dass man dem russischen Wesen innerlich fremd blieb. Kaum ein Volk und Staat der Welt ist heute, trotz der Massen russischer Literaturerzeugnisse, die besonders seit Beginn der neunziger Jahre Deutschland überschwemmten, so unbekannt in ihm geblieben wie Russland. Dieser Mangel ist in den letzten Jahren vor Kriegsausbruch immer stärker bei uns empfunden worden und der Wunsch, ihm abzuhelfen, ist auch nicht einem elementaren Hassgefühl gegen das andere Volk entsprungen. Wahrscheinlich werden sich freilich Germanentum und Slawentum innerlich fortdauernd fremd bleiben, aber darin liegt kein Grund zu einer ins tiefste gehenden, von Hass getragenen Abneigung gegen das andere Volk als solches. Vielleicht klingt, was ich hier sagte, selbstverständlich und banal, aber es ist notwendig, wie das auch schon während des Krieges von anderen Seiten geschehen ist, auf diese Grundtatsachen hinzuweisen, die in sich genau zu begründen hier weder der Raum noch die Veranlassung ist. Denn wichtiger für uns ist im Augenblick, festzustellen, wie sich die stimmungsmäßige Abneigung der, sagen wir der Einfachheit halber gleich: maßgebend gewordenen panslawistischen Kreise in Politik, Militär und Publizistik gegen Deutschland steigerte nicht nur zum Hass, sondern so weit, dass sie das große Risiko eines Krieges gegen Deutschland frevelhaft auf sich nahm. M. a. W.: Für den Augenblick und die Zeit des Krieges und die nächste Zukunft ist wichtiger, so scharf wie möglich zu erkennen, worin der politische Gegensatz begründet lag, aus dem heraus diese kleine, aber mächtige und einflussreiche Richtung den Zaren gezwungen hat, die Mobilmachungsorder zu unterschreiben.


Überblicken wir die oben mit ihren Haupttatsachen bezeichnete Politik im Zusammenhang, so sehen wir, dass sich Russland an die Veränderung der Lage gewöhnt hat, die das Jahr 1870, die Entstehung des Deutschen Reiches, heraufgeführt hat. Der Unterschied gegenüber der älteren Generation ergibt sich ja von selbst daraus, dass die heute Russland beherrschenden Männer in der Hauptsache nach der Gründung des Deutschen Reiches aufgewachsen sind. Daneben steht aber auch die Annäherung an Frankreich, den Bundesgenossen, den Gortschakow seit 1856 suchte, als die Zeit der russischen Vorherrschaft in Europa zu Ende gegangen war. Der Gedanke der russischen Politik ist dabei, bei aller persönlich verschiedenen Stellung Alexanders II. und III. zu Deutschland und dessen Kaiserdynastie, durchgehend der gleiche. War Alexander II. im deutsch-französischen Kriege neutral, also auf Seiten Preußen-Deutschlands, weil er die Wirkungen eines französischen Sieges auf das europäische Gleichgewicht und im Besonderen auf die russische Polenfrage voraussah und fürchtete, so stand sein Sohn unter dem Druck des Missbehagens und Misstrauens, das nun wiederum die Entstehung des deutschen Kaiserreiches bei den Großmächten Europas wachgerufen hatte. Dem hatte sich schon Alexander II. nicht entzogen, und auch er hat darum schon nach Frankreich hingeblickt. Denn die Wurzeln des Zweibundes liegen keineswegs erst in den ersten neunziger Jahren, sondern ganz deutlich bereits in der bekannten großen Krise von 1875 — man denke an Alexanders Gespräch mit dem französischen Botschafter in Petersburg Le Flô vom 14. April 1875. Und die wirtschaftliche Festigung der politischen Annäherung durch Anleihen Russlands auf dem französischen Kapitalmarkt hat auch bereits unter Bismarck begonnen —, als 1888 Hoskier und Wyschnegradski die erste große russische Anleihe bei Frankreich erschlossen und Bismarck darauf die Lombardierung russischer Werte bei den amtlichen deutschen Bankstellen verbot. Es ist daher auch nicht berechtigt, wenn der nach Bismarckschen Politik der bekannte Vorwurf in Bausch und Bogen gemacht wird, sie habe durch die Kündigung des deutsch-russischen Rückversicherungsvertrages Russland in die Arme Frankreichs getrieben. Die Annäherung zwischen Petersburg und Paris hat auch Bismarck nicht zu verhindern vermocht. Sie lag auf der französischen Seite begründet in dem Streben: koste es, was es wolle — und Frankreich hat darüber seine wirtschaftliche und politische Selbständigkeit vollkommen eingebüßt —, einen Bundesgenossen für den Revanchekrieg zu gewinnen. Auf der russischen Seite aber war sie in jener Anschauung vom europäischen Gleichgewicht begründet, die eine Vormacht Deutschlands in Europa unter keinen Umständen wünschte. Vordem war man Preußens sicher gewesen, weil dieses seinen Gegensatz zu Österreich noch auszukämpfen hatte. Nun war dieser Gegensatz durchgekämpft und nun entging es der russischen Politik natürlich nicht, dass Bismarck sofort auf eine erneute freundschaftliche Annäherung beider Mächte hinarbeitete. Gelang dieser ja schon auf dem Schlachtfelde von Königgrätz gefasste Gedanke, so stand Russland im alten System der Ostmächte einem Bunde oder wenigstens einer Freundschaft von Österreich und Preußen gegenüber, welch letzteres durch die Erweiterung zum Reiche noch zu einer unvergleichlich höheren Macht emporgestiegen war. Daraus ergab sich für die russische Politik, wenn sie die realen Machtverhältnisse ins Auge fasste, eine Hinneigung zu Frankreich, die ja freundschaftliche Beziehungen zu Deutschland nicht auszuschließen brauchte, aber zum mindesten darauf ausging, eine deutsche Hegemonie in Europa zu verhindern. Das sind so einfache und klare Lagen der Machtgegensätze unter den europäischen Großstaaten, dass sie eigentlich nicht schwer zu erkennen sind. Es ist auch heute müßig, darüber zu klagen (und mit Recht zu klagen), dass die amtliche deutsche Politik nach 1890 zunächst jahrelang die Beziehungen zu Russland überhaupt vernachlässigte, nachdem sie sich nicht mehr im Stande gefühlt hatte, das komplizierte System Bismarcks, Dreibund und Rückversicherungsvertrag mit Russland, weiter durchzuführen. Ebenso müßig wäre es, dem Gedanken nachzugehen, dass jener in sich begründeten Annäherung zwischen Frankreich und Russland allein wirksam nur eine Entente mit England oder gar schon mit den großen, außerhalb Europas aufkommenden Großmächten, Nordamerika oder Japan, begegnet hätte, oder schließlich die unter dem Eindrucke des Krieges heute sich aufdrängende Frage zu stellen, ob es für die deutsche Zukunft ein so unbedingter Gewinn war, als es Bismarck durch seine Vermittlertätigkeit 1878 gelang, den Krieg zwischen England und Russland um die orientalische Frage zu verhindern. Alle diese historischen Erinnerungen sind, wie gesagt, nach dem der Krieg ausgebrochen ist, völlig müßig. Sie könnten höchstens Fingerzeige geben für politische Spekulationen auf die Zeit nach dem Kriege, aber dazu ist, so lange die Waffen klirren, erst recht noch nicht die Zeit. Jedenfalls konnte der so latent vorhandene Gegensatz zwischen Russland und dem neuerstandenen Deutschen Reiche zwar zum Kriege führen, aber eine innere Notwendigkeit dafür lag auf keiner von beiden Seiten vor, namentlich wenn auf der deutschen die Richtlinien der Politik befolgt wurden, die Bismarck im 30. Kapitel der „Gedanken und Erinnerungen“ gegeben hat. Der Satz aus seiner Februarrede von 1888 ist dafür, d. h. nur für die Beziehungen zwischen Russland und dem Deutschen Reiche, völlig erschöpfend und zu treffend: „Dass der Kaiser von Russland, wenn er findet, dass die Interessen seines großen Reiches von hundert Millionen Untertanen ihm gebieten, Krieg zu führen, dass er dann Krieg führen wird, daran zweifle ich gar nicht. Aber die Interessen können ihm ganz unmöglich gebieten, diesen Krieg gerade gegen uns zu führen; ich halte es auch nicht für wahrscheinlich, dass ein solches Interessengebot überhaupt naheliegt.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland als Gegner Deutschlands