Dritte Fortsetzung

Sofort aber tritt diese Frage in ein anderes Licht, wenn Österreich-Ungarn in die Betrachtung hereingezogen wird. Gegen diesen Staat als einen vom Deutschtum organisierten und beherrschten Staat musste sich von vornherein nach seiner ganzen Natur jener Panslawismus richten, dessen Wesen heute vollständig klar liegt. Es sei erlaubt, gleich hier das Notwendige über dieses Schlagwort zu sagen, das jetzt bis zum Überdruss in allen Zeitungen widerhallt und das mir dem Ausbruch des Kriegs in seiner vollen Gefährlichkeit, aber auch in seiner Leere erkannt worden ist.

Russland tritt mit ihm auf als Schützer und Kern des ganzen Slawentums, das, durch Einheit der Rasse, Sprache, Religion aufs engste verbunden, das Germanentum in die Schranken fordert. Schon diese Voraussetzungen der Einheit trafen niemals zu. Die Bulgaren sind der Rasse nach überhaupt keine Slawen, in den Westslawen ist viel germanisches, in den Ostslawen viel finnisch-mongolisches Blut. Die Ostslawen bekennen sich mit den Bulgaren, Serben, Montenegrinern zur griechischen Kirche, dafür hängen die Westslawen mit den Slowenen der römischen Kirche an. Und wenn sich auch die einzelnen slawischen Sprachen näherstehen als die Zweige des germanischen Sprachstammes, so ist keine Rede davon, dass etwa der Pole den Bulgaren verstände oder der Tscheche den Russen: es gibt keine allslawische Gemeinsprache, und auf den allslawischen Kongressen musste man sich im Stillen sagen, dass die allslawische Gemeinsprache immer blieb und bleibt — das Deutsche. Daher ist auch aus allen Versuchen, diese allslawische Gemeinsamkeit positiv, praktisch auszumünzen, rein nichts herausgekommen.


Aber auch das, was man politisch vom Boden dieser Gemeinsamkeit, von der sich ja in Zeitungsartikeln und Kongressreden leicht viel Wesens machen ließ, wollte, stand immer im inneren Widerspruch mit sich selbst. Für den Russen war der Panslawismus politisch sehr einfach, dass, wie es Russlands größter Dichter, Alexander Puschkin, poetisch ausgedrückt hat, „die slawischen Bäche alle bestimmt seien, ins russische Meer einzufließen“. Aber daran dachte und denkt kein nicht-großrussischer Slawe. Dazu kämpfte man bei den Balkanslawen doch nicht gegen die Türkei und bei den Westslawen gegen den österreichischen Staat, um im russischen Wesen aufzugehen, sondern man wollte selber etwas werden, womöglich einen eigenen nationalen Staat sich schaffen. Diese Sorte Panslawismus hat daher bei den anderen Slawen keinen Widerhall gefunden. Dafür strebten diese einer demokratischen Selbständigkeit zu, die sich allerdings an Russland, an das Kernwerk der Weltstellung des Slawentums überhaupt, fester anlehnen wollte, um in den immer größer werdenden Verhältnissen der Politik sich eine Zukunft zu sichern. So sah dann der Panslawismus der Serben, der Montenegriner, eines Teiles der Bulgaren, der Tschechen und Slowenen aus, von hier erklärte sich die dreibundfeindliche Agitation, die durch den Mund des Abgeordneten Kramarz den Dreibund ein „abgespieltes Luxusklavier“ nannte und sich auf den allslawischen Kongressen breitmachte. Aber auch dieser Panslawismus hatte seine Haken. Zunächst fehlten in ihm die Polen, die auch trotz großer Bemühungen einer politischen Richtung unter ihnen bis heute dem Panslawismus aus Hass gegen Russland nicht gewonnen sind, und die rund 30 Millionen Kleinrussen, denen gleichfalls der Hass gegen den Großrussen und gegen Moskau viel wichtiger ist, als das Gefühl der Rassen, Sprachen und Kirchengemeinsamkeit. Dann aber entstand eine für den russischen Staat selbst sehr schwierige Frage. Die demokratische Selbständigkeit, die Südslawen und Westslawen erkämpften oder anstrebten, als Voraussetzung dieses Panslawismus, war diese nicht auch den nicht-großrussischen Slawen in Russland recht und billig, also den Kleinrussen, den Polen, den Weißrussen? Und wenn denen, konnte sie dann den andern nicht-russischen Völkern des Reiches, den Finnen, Deutschen, Letten, Litauern, Armeniern, Tataren versagt bleiben? Ein Russland, das auf der Balkanhalbinsel für die unterdrückte Sprache und Religion der dortigen Slawen eintrat und daheim Polen und Kleinrussen drangsalierte, war doch eigentlich ein seltsamer Führer des Panslawismus.

So war er denn niemals ein klares, politisches Programm, weil diese Widersprüche sofort hervortraten, sobald man versuchte, einmal die praktischen Folgerungen daraus zu ziehen. Aber gerade wegen dieser Unklarheit war er ungemein geeignet als Hetz und Werbemittel gegen die Türkei, auf der Balkanhalbinsel, gegen Österreich dort und in dessen eigenem Lande. Er verhüllte nur die roh selbstsüchtigen Machtwünsche des großrussischen Staates in der orientalischen Frage, in Bezug auf Konstantinopel usw., und um ihn schwungkräftig und wirksam zu machen, malte eine gewissenlose russische Werbearbeit jahrelang eben jenen deutschen „Drang nach dem Osten“ — der ist so, mit diesen deutschen Worten, ein unentbehrlicher Bestandteil der russischen Agitation geworden — immer wieder an die Wand. Jeder deutsche Bauer in Russland, jeder Kaufmann und jeder Ingenieur war ein Pionier dieses „Dranges nach dem Osten“, dagegen konnte nur die Zusammenfassung aller Slawen helfen. Österreich — so sagte man weiter — war dabei ja nicht an sich Feind, das wurde nur getrieben und gestützt durch das Deutschland Wilhelms II., gegen das deshalb ein immer steigender Hass der russischen Panslawisten gerichtet wurde. Und es ist ganz bezeichnend, dass dieser Hetzerei außerhalb Russlands gerade die Slawen am meisten verfielen, die am wenigsten aus sich heraus fertiggebracht haben, die Tschechen und die Serben. Die letzteren vor allem, die sich am ehesten (1804) von allen Balkanslawen von der Türkei zu lösen anfingen und heute von ihnen allen in moralischer, wirtschaftlicher und politischer Festigung am weitesten zurück sind, die ließen sich auch am weitesten von der kaltrechnenden Politik der Hartwig und Genossen in den Phrasenqualen dieses Panslawismus hereintreiben, bis daran der Weltkrieg zum Ausbruch gebracht wurde.

So erscheint der Panslawismus zwar als ein mächtiges und tief gewurzeltes Gefühl slawischer Gemeinsamkeit, das gewaltig hervorbrechen kann. Aber in ihm eint das negative, die Stimmung gegen das Deutschtum, stärker als die positiven Gründe einer Gemeinsamkeit, die tatsächlich nicht existiert. Denn sie stößt sich zu hart an der Wirklichkeit politischer Dinge, wie sie heute liegen, oder sie stößt ins Leere, weil der politische Raum dafür zu groß ist. Trifft das letztere für die Richtung des Panslawismus auf die Balkanhalbinsel zu, so richtet sich das erstere unmittelbar gegen die Wirklichkeit politischer Dinge, wie sie heute liegen, im Kaiserstaate Österreich-Ungarn. Nicht zufällig ist der eigentliche Panslawismus auf dem Boden des mit Österreich im Zusammenhang stehenden westlichen und südlichen Slawentums entstanden. Wer die panslawistischen Kongresse von 1848 bis zur Gegenwart durchgeht, sieht aus ihnen allen am stärksten hervorleuchten die gegen die Existenz des österreichisch-ungarischen Staates gerichtete Spitze. Sobald aber dieser im Wesen und Grundsatz Österreichfeindliche Panslawismus von der russischen öffentlichen Meinung oder gar von der Politik Russlands gestützt wurde, war sofort der stärkste und unüberbrückbare Gegensatz gegeben gegen das Deutsche Reich. Da braucht noch gar nicht die orientalische Frage herangezogen zu werden. Bereits eine politische Tendenz, die Österreich seiner slawischen Bestandteile zugunsten Russlands berauben möchte, richtet sich gegen die unerschütterlichen Grundlagen auch der Existenz des Deutschen Reiches. Auch dafür sei aus Bismarcks Äußerungen das schlagende Wort angeführt: „Die Erhaltung der österreichisch-ungarischen Monarchie als einer unabhängigen starken Großmacht in Europa ist für Deutschland ein Bedürfnis des Gleichgewichts in Europa, für das der Friede des Landes bei eintretender Notwendigkeit mit gutem Gewissen eingesetzt werden kann.“ (Ged. und Er. 29. Kap.) Und noch etwas wärmer und schärfer in der Februarrede von 1888: „Denken Sie sich Österreich von der Bildfläche Europas weg, so sind wir zwischen Russland und Frankreich auf dem Kontinent mit Italien isoliert, zwischen den beiden stärksten Militärmächten neben Deutschland, wir ununterbrochen zu jeder Zeit einer gegen zwei, mit großer Wahrscheinlichkeit, oder abhängig abwechselnd vom einen oder vom anderen. So kommt es aber nicht. Man kann sich Österreich nicht wegdenken: ein Staat wie Österreich verschwindet nicht, sondern ein Staat wie Österreich wird dadurch, wenn man ihn im Stich lässt, . . . entfremdet und wird geneigt werden, dem die Hand zu bieten, der seinerseits der Gegner eines unzuverlässigen Freundes gewesen ist.“ Das ist das Wesen unseres Zweibundes auf eine nüchterne realpolitische Formel gebracht, die aber in den 30 Jahren seines Bestehens mit dem warmen Herzblut beider Völker erfüllt worden ist.

Dies ist die eine Wurzel, aus der Russland zum Gegner auch des Deutschen Reiches werden musste. Gerade wer betont, dass zwischen unserem Reiche und Russland Reibungsflächen nicht vorhanden waren, wird ebenso scharf unterstreichen, dass eine Duldung der gegen Österreich gerichteten panslawistischen Politik Russlands für das Deutsche Reich von vornherein durchaus unmöglich war und ist. Panslawistische Politik war nun keineswegs zu allen Zeiten einfach mit russischer Politik identisch. Sie war nur eine politische Strömung und Richtung, neben der andere vorhanden waren und nebenher gingen, die diesen Panslawismus ablehnten und die Aufgaben Russlands an anderen Stellen suchten. Diese Betrachtungen sind indes heute gegenstandslos, seit es in jahrelanger Arbeit der panslawistischen Richtung gelungen ist, sich der amtlichen russischen Politik zu bemächtigen. Erst eine spätere Zeit wird uns die Kämpfe enthüllen, die darum am Zarenhofe und in den russischen Ministerien geführt worden sind. Heute ist das ganz gleichgültig. Die anderen haben eben den Boden nicht zu behaupten vermocht, weder die, die den Frieden für Russlands Neugestaltung für unbedingt notwendig hielten, noch die, die in Mittel und Ostasien die eigentlichen Aufgaben Russlands sahen. Sie sind mundtot gemacht, überrannt worden durch eine wüste Agitation der Zeitungen, in den Ministerien, Parteien und Offizierskorps und durch ein jahrelang gesponnenes Intrigenspiel am Petersburger Hofe und in den diplomatischen Vertretungen draußen, bis diese, ich möchte sagen, diabolische Arbeit im Namen des Panslawismus den Krieg gegen Österreich und damit das Deutsche Reich entfesselt hat.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland als Gegner Deutschlands