Erste Fortsetzung

So lagen die politischen Beziehungen. Zu ihnen traten die Beziehungen des wirtschaftlichen Zusammenhanges, der seit rund zwei Jahrzehnten zwischen beiden Staaten immer enger geworden ist. 1912 nahm Deutschland 31,7 Prozent der russischen Gesamtausfuhr auf und lieferte 50 Prozent des russischen Imports, und nahm Russland über 7 Prozent unserer Ausfuhr auf, während es 14 Prozent unseres Imports lieferte. So steht Deutschland im russischen Außenhandel in Einfuhr und Ausfuhr an erster Stelle, Russland in der deutschen Einfuhr bei weitem an erster, in unserer Ausfuhr an fünfter Stelle.

Wir übersehen natürlich nicht, dass diese Statistiken des reinen Handelsverkehrs cum grano salis zu betrachten sind, auch dass es letzten Endes auf die Aktiva und Passiva gegen einander im ganzen ankommt. Immerhin genügen diese Zahlen als Beweis, dass beide Volkswirtschaften einander beste Abnehmer und weite Kreise in ihnen beiden — Landwirtschaft und Industrie, Arbeitgeber und Arbeitnehmer — an diesen Beziehungen lebhaft interessiert waren.


Wenn auch weit älteren Datums, sind sie auf eine feste Basis erst mit dem deutsch-russischen Handelsvertrag von 1894 gestellt worden, in dem Russland zuerst, auf seine bisherige Tarifautonomie verzichtend, in einem relativ langfristigen Vertrage seine Zollpolitik band, und mit der Durchführung der Goldwährung durch den Grafen Wirre. Die Idee in vielen deutschen Kreisen war damals etwa die, dass Russland Deutschland Getreide (und Saisonarbeiter) und Deutschland Russland dafür industrielle Ganz oder Halbfabrikate liefere. Diese Auffassung von der Arbeitsteilung zwischen beiden Volkswirtschaften war freilich zu einfach und zu eng, um auf die Dauer ihre Interessen richtig auszudrücken. Insonderheit kam dabei die deutsche Landwirtschaft infolge der zu tief angesetzten Vertragszölle viel zu kurz. Und die Industrie, die in erster Linie Vorteile für die Maschineneinfuhr nach Russland sah und erstrebte, wurde darauf hingewiesen, dass — es ist wohl ein Wort von Schulze -Gaevernitz— Maschineneinfuhr nur gestundete Fabrikatausfuhr sei, weil der Import von Maschinen ja gerade die Industrie des Importlandes direkt entwickelt.

Diese wirtschaftlichen Beziehungen traten nun in der letzten Zeit in ein kritisches Stadium, als man sich auf die neuen Verhandlungen für die Zeit nach 1917 rüstete — der Handelsvertrag lief ja mit dem 31. Dezember 1917 ab. Russland bereitete sich auf diese Vertragsverhandlungen umfassend vor und man sah in diesen Vorbereitungen reichlich viel Grund zu Reibungen und bemerkte eine lebhaft gegen Deutschland gerichtete Stimmung in den Kreisen der russischen Landwirtschaft und Industrie. Die Landwirtschaft richtete sich gegen das System der deutschen Einfuhrscheine und dachte, deshalb die Saisonarbeiter-Auswanderung aus Russland nach Deutschland zu erschweren, die Industrie forderte einen ausgedehnten Zollschutz im Sinne des wirtschaftlichen Abschlusses nach außen und des bekannten neumerkantilistischen Wirtschaftsideals. Natürlich ist es kein Zufall, wenn jetzt während des Krieges gerade diese Kreise sich besonders scharf gegen Deutschland ausgesprochen haben. Das „Conseil der Vertreter von Handel und Industrie, die umfassendste Organisation dieser Erwerbszweige, sprach die Forderung aus, dass durch den Krieg die Abhängigkeit von Deutschland beseitigt werden müsse, die Moskauer Kaufmannschaft forderte mit derselben Begründung vom Zaren, dass der Krieg gegen Deutschland unter allen Umständen durchzuhalten sei. Es sind die Kreise, denen die Vertragsbeziehungen zwischen beiden Ländern am unbequemsten waren und in denen sich die vom russischen Nationalismus bewusst und hetzerisch geförderte Vorstellung festgesetzt hatte, dass Deutschland die schwierige Lage Russlands im Jahre 1904 benutzt habe, um Russland einen günstigen Handelsvertrag abzupressen. Oft genug ist in solchen Versammlungen und in Zeitungsartikeln die Behauptung ausgesprochen worden, dass Russland wie ein zum Tribut verpflichteter Staat wirtschaftspolitisch von Deutschland abhängig sei, ein Zusammenhang, der eines so großen Reiches unwürdig sei. Man brauchte diese Klagen, in denen volkswirtschaftlicher Unverstand, Neid gegen die überlegene Konkurrenz und Chauvinismus brüderlich zusammengingen, trotzdem an sich nicht übermäßig ernst zu nehmen. Die wirklichen Streitpunkte waren sämtlich nicht der Art, dass sich nicht eine Einigung über sie hätte finden lassen. Und alles Geschrei beseitigte die Tatsache nicht, dass beide Länder ein sehr großes Interesse am wirtschaftlichen Verkehr miteinander hatten. Von Bedeutung für den Ausbruch des Krieges sind diese wirtschaftspolitischen Reibungen, die sicherlich sehr schnell als klein erschienen wären, wenn Deutschland es auf einen Zollkrieg wirklich hätte ankommen lassen, nur geworden, weil die zum Kriege drängende Richtung der Politik und der Presse sie auf das Äußerste und mir größter Skrupellosigkeit ausnutzte. Sie konnte sich dabei freilich auf die Abneigung gegen Deutschland im Allgemeinen stützen, die auf der russischen Seite vorhanden war und ist.

Diese Tatsache einer tiefgewurzelten und weitverbreiteten Abneigung gegen Deutschland steht so fest, dass sie nicht weiter belegt zu werden braucht; jeder Blick in die russische Publizistik, von der „Nowoje Wremja“ angefangen, lehrte das seit rund 30 Jahren jedermann schlagend. In dieser Abneigung kamen eine ganze Reihe Motive und Tendenzen zusammen: vor allem der Antagonismus gegen die Ausländer überhaupt, die seit Peter dem Großen eine besonders große Rolle in Russland erhielten, im 18. Jahr hundert, unter Anna Iwanowna, geradezu herrschten und auch im 19. Jahrhundert eine wichtige Stellung — z. B. die Deutschbalten im Hof und Militärdienst — behielten, und unter denen die Deutschen immer die zahlreichsten und wirksamsten waren. Dieser Antagonismus konnte gefühlsmäßig begründet sein, Abneigung gegen bestimmte Eigenschaften des „Njemec“, seine Ordnungsliebe namentlich und seine Willenskraft, Geringschätzung wegen der politischen Schwäche des Vaterlandes der „Wurstmacher“, wie die Deutschen spöttisch genannt wurden, dann das politische Misstrauen nach dem deutsch-französischen Kriege usw. Oder er wurde auch rationalistisch, theoretisch begründet in der slawophilen Ablehnung der Vermengung mit nichtrussischen Kulturelementen überhaupt, wenn auch alle bedeutenden Slawophilen, Aksakow und Samarin, Chomjakow und Kirjeewskij, Katkow und wie sie heißen, deutsche Bildung genossen hatten und mit den Waffen der deutschen Geistesschulung gegen Deutschland kämpften. Schließlich kam noch der Panslawismus hinzu, der das Slawentum im Ganzen einen wollte und dieses immer nur kann nur der negativen Betonung des Gegensatzes gegen das Germanentum, der Furcht vor dem angeblichen Pangermanismus und seinem „Drang nach dem Osten“. Aus allen diesen Quellen ist immer, d. h. schon seit dem, 16. Jahrhundert — man denke z. B. an den Volksklatsch über die „deutsche“ Herkunft Peters — eine weite Kreise beherrschende und tiefsitzende Abneigung gegen die Deutschen erflossen. Sie hat niemals die ganze gebildete Gesellschaft, aber doch stets große Kreise in ihr beherrscht und in der Presse immer ihren Ausdruck gefunden. Durch die jahrzehntelange Freundschaft zwischen den Dynastien ist das wohl gelegentlich verschleiert worden. Aber schon beim Besuch Kaiser Wilhelms in Petersburg 1876 kam dieser Unterschied sehr deutlich zum Ausdruck zwischen der Stimmung des Hofes, der dem Herrscher Deutschlands einen glänzenden und herzlichen Empfang bereitete, und der der Gesellschaft, die gleichgültig, ja ablehnend danebenstand. Das Bündnis mit Frankreich, den, Antipoden Deutschlands, zu dessen Kultur und Lebensformen sich die oberen Kreise immer stark hingezogen fühlten — eine Wirkung des Hoflebens Katharinas II. —, hatte so seine psychologischen Wurzeln in der öffentlichen Meinung und wird so auch heute noch von ihr getragen, wenn daneben auch die Bewunderung der Kultur und politischen Normen Englands sehr stark geworden ist.

Alle die hier berührten Gedankengänge wurden wenige Monate vor dem Kriege der deutschen Öffentlichkeit besonders deutlich vorgeführt, als die „Preußischen Jahrbücher“ einen offenen Brief des Petersburger Historikers Mitrofanow an den Herausgeber veröffentlichten, dessen Ausführungen in diesen Monaten zunehmender Spannung und seitdem als Ausdruck der Meinung des russischen Volkes angenommen wurden. Aber wir wollen uns dabei nicht den Blick für die Dinge trüben lassen, wie sie liegen. Handelt es sich doch dabei um die Frage, die auf Menschenalter hin aus von größter Bedeutung sein kann, die Frage, ob es auf Grund aller eben bezeichneten Tatsachen richtig und erlaubt ist zu sagen, die beiden Völker stünden einander im Hass gegenüber. Dem, der mit Sachkunde und Unbefangenheit diese Frage betrachtet, war niemals zweifelhaft, dass Stimmen, wie die Mitrofanows, die Anschauung des russischen Volkes schlechthin keineswegs wiedergaben. Ein Mann wie er und ein Blatt wie die „Nowoje Wremja“ sind nur berechtigt, im Namen der sogenannten Intelligenz zu sprechen und der Kreise aus der Politik und dem Militär, die sich ihr darin anschließen. Für das Volk in seiner Gesamtheit, von dessen männlichen Teile nur 30 Prozent und von dessen weiblichen Teile nur 9 Prozent lesen und schreiben können, sind diese Gedankengänge gar nicht vorhanden. Wer soll sie ihnen denn nahebringen? Glaubt man, dass die „Nowoje Wremja“, die vierteljährlich 5,50 Rubel kostet, in weiten Kreisen der russischen Muschiks gelesen wird oder dass ein solcher Muschik eine Vorstellung vom Deutschen Reiche und seinen angeblichen ehrgeizigen Absichten hat? Was ihm davon beigebracht wird, kann ihm nur durch seinen Popen beigebracht werden; in welcher Gestalt das geschieht, davon sei nachher gesprochen. Aber in Bausch und Bogen von einem tiefeingewurzelten Hasse des russischen Volkes gegen das Deutsche schlechthin zu sprechen, ist nicht erlaubt und übertrieben. Und wenn der russische Ministerpräsident gesagt hat, dass Russland den Krieg gegen das Deutschtum führe, so kann mit gleicher Bestimmtheit gesagt werden, dass die Masse der russischen Soldaten, soweit sie aus dem russischen Bauerntum kommen, — und das ist die größere Mehrheit — diesen Satz einfach nicht verstehen wird. Lieber halten, wir uns an die Äußerung eines Mannes, der die russische Volksseele sehr genau kannte und der sie auf das stärkste beeinflusst hat: Leo Tolstoi hat vor 20 Jahren einmal geschrieben, von einer Feindseligkeit der Russen gegen die Deutschen könne ebensowenig die Rede sein, wie von ihrer angeblichen ausschließlichen Liebe zu den Franzosen. Tolstoi hatte dabei unzweifelhaft die Masse der Bauernbevölkerung im Auge, deren Seele er auf das genaueste kannte und von der er das mit größerer Bestimmtheit behaupten konnte als die, die die Äußerungen der Petersburger Presse als Ausdruck der Gefühle des Ganzen, russischen Hundertmillionenvolkes nehmen. Der Verfasser dieser Zeilen hat im letzten, Jahrzehnt bei nahe jedes Jahr einmal England und einmal Russland besuchen können. Er hat dabei sehen müssen, wie sich Jahr um Jahr die Abneigung des englischen Volkes gegen Deutschland zum Hasse steigerte, und darin musste das englische Volk immer mehr als eine Einheit genommen werden. Man spürte das überall: wenn man am Schanktisch der „public bar“ über die „damned dutchmen“ schimpfen hörte oder die Hetze der hochstehenden Zeitungen las oder am Tisch hochgebildeter Familien vor taktlosen und gehässigen Bemerkungen über Deutschland und seinen Kaiser nicht sicher war. So fühlte man, oft mit Schmerz und Trauer, eine elementare Bewegung von Jahr zu Jahr stärker ansteigen und das Volk immer mehr verblenden. Von ähnlichen Erscheinungen im russischen Volke, d. h. der bäuerlichen und bürgerlichen Masse, ist mir aber auf meinen Reisen, die mich durch das ganze europäische Reich und einen Teil des asiatischen Russlands geführt haben, nichts entgegengetreten, obwohl mich mit Russland besondere, günstig beeinflussende Beziehungen in keiner Weise verbanden. Ich würde der Wahrheit, die ich in langer, dieser Frage gewidmeter Forschungstätigkeit erkannt habe, ins Gesicht schlagen, wenn ich mich nicht gegen eine Auffassung wendete, die die Stimmung der Intelligenz und der Politiker der des russischen Volkes einfach gleich setzt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland als Gegner Deutschlands