Fünfte Fortsetzung

Jetzt sprechen die Waffen, jetzt ist die zuletzt unerträglich gewordene Spannung vorbei, in der ja schließlich die offiziellen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland den Charakter völliger Unwahrhaftigkeit annahmen. Die Geschichte aber wird dereinst dem deutschen Kaiser das Zeugnis ausstellen, dass er gerade in den Beziehungen zu Russland bis an die äußerste Grenze der Freundschaft gegangen ist, dass er aber dabei die deutschen eigentlichen Lebensinteressen nicht und nirgends hat verletzen lassen.

Haben wir so die Frage beantwortet, wie Russland zu unserem Gegner geworden ist, so hat die Antwort gezeigt, wie außerordentlich verwickelte Zusammenhänge damit angeschlagen werden. Nicht mit einem Wort ist diese Entwicklung zu bezeichnen, und verschlungen sind die Wege, auf denen schließlich der Kriegsgott zur Entfesselung des Krieges gekommen ist. Aber je weniger man sich scheut, in diese verschlungenen Zusammenhänge einzudringen, umso klarer werden dann doch auch zuletzt die wirklich großen Gegensätze, auf die es ankommt, der Gegensatz der Macht, um den in diesem Zusammenhange Ost und Südost Europas nun zwischen den verbündeten Truppen und dem russischen Gegner gefochten wird.


II.


Wie nun dieses Russland, das aus eigenem Entschluss unser Gegner geworden ist, als Gegner zu werten ist, ist die zweite Frage, die uns bewegt. Wir betreten damit ein Gebiet, auf dem zumeist nur Vermutungen möglich sind. Das liegt an jenem Sphinx-charakter des russischen Staats und Wirtschaftslebens, von dem eingangs gesprochen wurde. Wer sich aus Beruf oder Neigung lange mir russischen Angelegenheiten befasst hat, kommt aber immer mehr davon ab, zu prophezeien, und der Historiker Russlands kann lediglich das Ergebnis seiner Beobachtungen bis an die Schwelle der Gegenwart feststellen, so wie es sich ihm darstellt. Zu prophezeien lehnt er ebenso ab, wie er sich bemühen wird, den Kern der Frage nicht verhüllen zu lassen durch allgemeine geschichtsphilosophische oder gefühlsmäßige Betrachtungen dieses Gegensatzes. Weder die absprechend vergleichende Beurteilung des Westeuropäers, die dem russischen Volk jede Entwicklungsmöglichkeit abspricht, noch die Betonung des Rassengegensatzes, der in diesem Kampfe er sichtlich unzutreffend ein Ringen zwischen Germanen und Slawentum sieht, noch eine bestimmte Anschauung von der inneren Politik, die in Russland vor allem einen Hort reaktionärer Bestrebungen ablehnt, sind geeignet, unser Urteil über den russischen Gegner richtig zu bestimmen. Auch die slawische Welt ist ein Ausschnitt des allgemeinen Kulturlebens unserer Zeit; Karl Krumbacher, der von der Byzantinistik her sich auch um das Verständnis russischer Dinge große Verdienste erworben hat, sah in ihr gern das jüngste Beispiel des Strebens der Menschheit nach Luft und Licht, des Ringens um wirtschaftliche Hebung, um geistige und politische Freiheit, um religiöse und sittliche Vertiefung. Wir sehen nicht, dass das Urteil über den deutsch-russischen Kampf irgendwie gefördert wird dadurch, dass man von einem im Kern asiatischen Staate spricht, der in seine asiatischen Grenzen zurückgeworfen werden müsse, oder vom Koloss auf tönernen Füßen oder, gewöhnlich ohne ausreichende historische Kenntnis, die Bedeutung der Tatarenherrschaft und des tatarischen Elementes übermäßig übertreibt. Das letzte Wort über die Kulturfähigkeit des Ostslawentums, des Russentums und seiner einzelnen Zweige, ist heute noch nicht gesprochen, und wer positive Kräfte auch im tieferen Sinne des Wortes drüben sucht, der findet heute genug Quellen der Erkenntnis etwa in Tolstois Schriften, in der Philosophie Wladimir Solowjows oder in den Anregungen, die Masaryk in seinem deutschen Werk „Zur russischen Geschichts- und Religionsphilosophie“ gegeben hat. Aber alles das steht in diesem großen Ringen heute ja überhaupt nicht zur Erörterung. Es ist, wie immer wieder gesagt sei, ein Ringen um die Machtgegensätze, das mit den friedlichen Mitteln der Politik nicht mehr weiterzuführen war, ein Zusammenstoß von Großstaaten in ihren Lebensinteressen, der mir den Waffen durchgekämpft werden muss. Und nur unter diesen Gesichtspunkten kann die Frage: Wie ist Russland als unser Gegner zu werten? aufgeworfen und beantwortet werden.

Es wäre höchst überflüssig, hier des Langen und Breiten über die militärischen Möglichkeiten dieses Kampfes zu sprechen. Wollten wir versuchen, auch nur die Zahlen der russischen Truppen, die gegen uns kämpfen, genau zusammenzustellen, so würden wir noch mehr im Dunkeln tappen als bei unseren anderen Gegnern. Nur zwei allgemeine Gesichtspunkte müssen dazu hier hervorgehoben werden.

Wir unterschätzen sicherlich nicht diesen Gegner, der das größte territorial geschlossene Reich der Erde darstellt, der über Riesenzahlen des Heeres, der Bevölkerung, der natürlichen Hilfsquellen und manch anderen schwerwiegenden Vorteil verfügt. Noch weniger unterschätzen wir die zähe Tapferkeit seiner Soldaten, des „grauen Tierchens“, wie der Koseausdruck des russischen Feldherrn sie nannte. Aber die phantastisch hohen Geldsummen und Truppenzahlen, mit denen vor dem Kriege und jetzt in der feindlichen Presse jongliert wird, können uns nicht schrecken. Gewiss ist seit 1907 in Heer und Flotte Russlands viel gearbeitet worden, aber mit allem patriotischen Opfermut kann man in sieben Jahren nicht den Geist der Initiative, die Promptheit und Redlichkeit der Intendantur und Heeresverwaltung, die Intelligenz und den sittlichen Schwung schaffen, alles das, was ein Heer zum Erfolg trägt und was den Russen im Kriege mit Japan so völlig fehlte. Dergleichen lässt sich nicht improvisieren und in Russland vollends nicht. Dafür aber erschwert die große Zahl der aufgestellten Truppen die Versorgung mit Ausrüstung, Munition und Proviant auf das äußerste. Wie soll auch nur eine längere Zeit der Bedarf für ein Millionenheer gedeckt werden, da die Zufuhr vom Auslande eigentlich völlig unmöglich gemacht ist? (Denn mit dem Hafen von Archangelsk ist jetzt nicht mehr zu rechnen, die einzige Verbindung Russlands mit dem Welthandel läuft nur noch über Wladiwostok.) Wo soll die Nachlieferung z. B. von Militärtuch herkommen, da die halbe Textilindustrie, die Russisch-Polens, stillliegt? Glaubt man wirklich, wie das russische Kriegsministerium es angefangen hat, den Bedarf in solchem Umfange decken zu können durch Ankäufe bei dem Hausfleiß, dem sogen. Kustar der russischen Bauern, die durch die Semstwos zu vermitteln wären? Und noch auf ein anderes sei hingewiesen. Der größte Schutz des russischen Reiches, das, was dafür viel mehr als seine Truppen und seine Feldherren ficht, ist die unermessliche Weite seines Landes. Und der Gedanke liegt nahe, dass deshalb Russland militärisch überhaupt nicht zu besiegen sei. Gegen diese Vorstellung, dass das Land schon in seiner Größe einen natürlichen und unüberwindlichen Schutz habe, ist allein ins Feld zu führen der Haupt und Kardinalsatz der deutschen Strategie, der in der Vernichtung der feindlichen Streitkraft die Hauptaufgabe sieht. Wer die unermessliche Weite Russlands übermäßig betont, hängt noch an jener alten Strategie des 18. Jahrhunderts, in der der Berg das Bataillon und das Bataillon den Berg deckte. Der Geist unserer Heerführung ist ein anderer: sie greift nur größter Konzentration und stärkster Offensive die feindliche Streitmacht an. Diese feindliche russische Streitmacht aber können wir besiegen, strahlende Erfolge sind schon durch eine geniale Heerführung gegen sie erfochten worden, die gerade das unwiderleglich beweisen, und so werden wir auch militärisch gegen die russische Streitmacht zu dem Ziele kommen, wie wir fest vertrauen, dass unsere Heerführung sich gesteckt hat.

In welcher inneren Verfassung aber steht der russische Gegner da, der sein Millionenheer an der Weichsel und an der Grenze Ostpreußens gegen uns fechten lässt? Fragen wir nach den materiellen und den ideellen Kräften, mit denen er in den Krieg gezogen ist.

Die materiellen Kräfte ruhen zunächst in den Finanzen. Ihre Grundlage ist, wie bekannt, der seit Jahren immer wieder umstrittene Barbestand der russischen Reichsbank in Gold. Dieser betrug bei Ausbruch des Krieges 1600 Mill. Rubel nach einer Berechnung, die der Abgeordnete Schingarew in der Zeitung „Rietsch“ aufstellte. Kostet der Krieg Russland monatlich eine halbe Milliarde Rubel, rechnet man, wie es dieser Abgeordnete tat, den Krieg auf sechs bis acht Monate, so ist ein Ausgabenbedarf allein für den Krieg von drei bis vier Milliarden Rubel zu erwarten, eine absolute Vermehrung der Ausgaben des Staates, die den Etat für 1914 vollständig umwirft. Andererseits aber sinken die Ein nahmen, nicht nur die Einnahmen aus den Zöllen (334 1/2 Mill. Rubel im Jahre 1913), da, wie erwähnt, die russische Ausfuhr vollkommen abgeschnitten ist. Wie deshalb der Budgetentwurf für 1915 235 Millionen Rubel Einnahmen aus der Zollverwaltung einsetzen kann, ist nicht begreiflich. Die anderen Einnahmequellen werden, wie die Grund und Handelssteuer, die Tabak, Zucker, Petroleumsteuer usw., natürlich auch im Betrage sinken infolge der Rückwirkung des Krieges auf das Wirtschaftsleben überhaupt. Dazu aber hat sich der russische Staat einer gewaltigen Einnahmequelle mit dem Beginn des Krieges noch beraubt. Mit einem Federstrich hat der Zar das Branntweinverkaufsmonopol aufgehoben (Ukas vom 4. September, Telegramm des Zaren vom 20. Oktober an die Abstinenzler, dass er für immer den staatlichen Branntweinhandel beseitigen wolle, 4. November Mitteilung des Finanzministers von einer Ordre des Oberkommandierenden, die auch den Bierhandel in den unter Kriegszustand stehenden Ortschaften verbot.) Dieser Schritt ist begreiflich und verständlich, der Ukas wird auch, wie zahlreiche Nachrichten einwandfrei belegen, wirklich durchgeführt. Aber die Steigerung der militärischen Leistungsfähigkeit dadurch, dass der Soldat und der Offizier ohne die Möglichkeit des Alkoholmissbrauches im Felde stehen und die Auspeitschung der Unzufriedenheit durch den Branntweingenuss daheim vermindert wird, beraubt den Staat einer Einnahme, die nach dem Entwurf des Etats für 1914 nicht weniger als 935 Millionen Rubel brachte.

Mit diesen wenigen Zahlen ist bereits eine Finanzklemme bezeichnet, deren gleichen Russland in seiner Finanzgeschichte noch nicht erlebt hat. Natürlich stemmt es sich, wie alle anderen Länder dagegen, dass die Grundlage seiner Währung und seines Kredites, der Geldvorrat seiner Reichsbank, vermindert wird; die Einlösung seines Papiergeldes in Gold ist gleich in den allerersten Kriegstagen verboten worden. Aber die Zahlung der Zinsen für die Reichsschuld an das Ausland muss doch weitergehen; der dafür für 1914 eingesetzte Betrag war nicht weniger als 402 Millionen Rubel. Es bedeutet auch nur eine geringe Erleichterung, wenn der Zinsendienst an das feindliche Ausland natürlich eingestellt wurde. Die Hauptanlagen sind ja, wie bekannt, in Frankreich gemacht, das eine Einstellung oder nur Erschütterung des russischen Staatsschuldendienstes der Gefahr des völligen finanziellen Zusammenbruches aussetzt. Außerdem müssen alle Lieferungen vom Auslande in Gold bezahlt werden. Man hat auch schon mehrfach von der Überführung großer Geldbeträge nach England gehört, so einmal im Betrage von 120 Millionen Rubel. Alles das zehrt an diesem Barbestande, der, je länger der Krieg dauert, um so hoffnungsloser zusammenschmelzen muss. Möglichkeiten, ihn aus dem Volk selbst zu verstärken, wie es in Deutschland durch die Herausziehung des Goldes aus den Händen der kleinen Sparer geschehen konnte, sind in Russland nicht vorhanden, wo man schon in Friedenszeiten nur selten Gold sah.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland als Gegner Deutschlands