Sechste Fortsetzung

Zur Deckung der Kriegskosten und der Befriedigung des Bedarfs an Geldumlaufsmitteln hat man, wie sich denken lässt, auch hier zu der weiteren Ausgabe von Papiergeld gegriffen: Schatzanweisungen von 300 Millionen Rubel wurden ausgegeben und das Emissionsrecht der Reichsbank erweitert auf die Ausgabe von 1,2 Milliarden Rubel neuer Noten. Da noch für 400 Millionen Rubel aus der Friedenszeit Noten ausgegeben werden konnten, stand eine weitere Summe von 1,6 Milliarden zur Verfügung, natürlich auf dem, Papier. Ferner ist eine 5 prozentige innere Anleihe aufgenommen worden im Betrage von einer halben Milliarde Rubel; wieviel davon eingezahlt ist, ist noch nicht bekannt. Ebenso ist nicht bekannt, aber in vollem Umfange wenigstens nicht wahrscheinlich, ob der Versuch, eine Anleihe von einer halben, Milliarde Rubel zu 94% in England aufzunehmen, geglückt ist, zumal England schon in Friedenszeiten bei aller politischen Freundschaft die Taschen für Russland immer zugeknöpft hielt. In der richtigen Einsicht nun, dass alles das nicht ausreicht, ist der Finanzminister Bark gezwungen, zu einer weiteren Ausdehnung der Steuern seine Zuflucht zu nehmen. Da muss man nun freilich schon zu verzweifelten Mitteln greifen. Zunächst tauchte die Einkommensteuer wieder auf, die seit Jahren, in Vorbereitung ist. Einzelheiten darüber, wie man sie jetzt plant, sind noch nicht bekannt geworden, sie werden, aber auch nichts an der Erfahrung ändern, die bereits Kokowzow bei der Vorbereitung dieser Steuer in Friedenszeiten machte, dass das mobile Kapital in Russland und im Eigentum des russischen Volkes heute noch nicht groß genug ist, um aus der Einkommensteuer eine Quelle der Staatseinnahmen zu machen, wie etwa in Preußen. Man schätzt den Ertrag daraus höchstens auf 60—80 Millionen Rubel. Außerdem — und das gilt auch für die anderen geplanten Auflagen — lassen sich derartige Steuern, in Kriegszeiten auch nicht improvisieren: man, hat schon in jahrelanger Vorbereitung der Friedenszeit eine solche Einkommensteuer nicht zustande gebracht, man wird sie in der Hetze und Unordnung der Kriegszeit erst recht nicht fertigbringen. Der Voranschlag für 1915 enthält nun außer den bisherigen Steuern, die zum Teil erhöht werden, und zu denen noch weitere Auflagen, auf Telefon, Gas, elektrisches Licht, Kinematographen, treten, als Hauptneueinführung eine sogen. Transportsteuer, von der man 300 Millionen Rubel erwartet, und eine Eisenbahnbilletsteuer, die 50 Millionen Rubel bringen soll. Die letztere soll durch Erhöhung der Eisenbahntarife ersetzt werden, wie auch die Tarife für Porto, Telegramme usw. erhöht werden sollen. Dass diese Erhöhungen, vor allem die Eisenbahnbilletsteuer oder die Erhöhung der Eisenbahntarife, nennenswerte Beträge bringen, ist nicht zu glauben. Fällt doch das Eisenbahnsystem Russisch-Polens einfach aus und sind doch auch sonst die Eisenbahnen mit den Truppentransporten usw. genau wie in den anderen Ländern belastet. Noch bedenklicher aber ist das Hilfsmittel der Transportsteuer. Unter diesem Namen verbirgt sich nämlich nichts anderes als eine Abgabe auf die notwendigsten Nahrungsmittel, die z. B. bei Korn und Mehl 4 Kopeken, bei Zucker 8 Kopeken, bei Salz 3 Kopeken auf das Pud, bei Vieh 1,5 Rubel auf das Haupt betragen soll. Man wollte auch gar nichts anderes, als eine Besteuerung der Massenverbrauchsmittel; in den Blättern wurde offen ausgesprochen, dass die Besitzenden die Einkommensteuer und die Masse diese indirekten Abgaben zählen müsse, um die Kriegsopfer aufzubringen. Aber man hat sich nicht getraut, diese Brot und Getreidesteuer direkt als solche zu bezeichnen und zu erheben, weil man natürlich die Folgen der Unzufriedenheit in der Masse fürchtete, und hat daher diesen Ausweg gewählt, eine Verkehrsabgabe von allem, was zu Land oder zu Wasser transportiert wird, zu erheben. In den Beratungen des Komitees dafür wies nun Graf Witte mir Recht darauf hin, dass man damit den weitaus größten Teil dieser Nahrungsmittel mit der Steuer nicht träfe, da der Bauer seinen Bedarf an Brot ja selber deckt und nicht auf dem Markte der nächsten Stadt einkauft. Mithin wird entweder diese Steuer einen erheblichen Betrag nicht bringen, da auch sonst der Transport z. B. von Kohle aus dem Donezgebiet stockt, oder wenn man sich noch entschließt, sie als Abgabe von den Nahrungsmitteln überhaupt zu erheben, wird sie die Gefahr einer sozialen Revolution nahe rücken.

Begreiflicherweise hat das Kapital in Handel und Industrie gegen dieses Bouquet von neuen Steuern Widerspruch erhoben. So hat das schon genannte Conseil der Vertreter von Handel und Industrie betont dass man Opfer bringen müsse und dass man, um den Charakter des Opfers auch auszudrücken, lieber eine einmalige, allgemeine Kriegssteuer erheben solle. Auch auf diesen Vorschlag trifft wieder zu, was über die Einkommensteuer gesagt wurde. Wenn der einmalige Wehrbeitrag nicht sehr hoch angesetzt wird, kommt nichts Rechtes heraus, zumal mindestens drei Viertel der russischen Industrie auf ausländischem Kapital beruhen, das für diese Zwecke nicht in Frage kommt. Von, ländlichen größeren Besitz aber, der aus hier nicht näher zu erörtern den Gründen seit langem im Sinken ist, kann man einen hohen Betrag auch nur erwarten, wenn man die Vermögenswerte fiktiv ansetzt. Dasselbe gilt für das Projekt einer Wehrsteuer, das eben von, Finanzminister veröffentlicht worden ist. Danach sollen die von, Militärdienst befreiten Personen, die weniger als 1000 Rubel Jahreseinkommen haben, eine Jahressteuer von 6 Rubel zahlen, während die Einkommensteuerzahlenden die Wehrsteuer im Betrag der Hälfte ihrer Einkommensteuer leisten. Abgesehen davon, dass danach alles auf den Namen der Frau eingetragene Vermögen frei bleibt, setzt auch dieses Projekt die Einführung der Einkommensteuer bereits voraus.


Aus diesem Überblick ist klar, dass sich Russland in einer Finanzlage befindet, die im höchsten Grade ungünstig ist. Überall bietet sich eben nur die Hilfe der Assignatenpresse, die aber doch auch nur bis zu einem gewissen Grade ausgenutzt werden kann. Jetzt zeigt sich in dieser großen Krise die Unfertigkeit der russischen Volkswirtschaft überhaupt. Es war, wie die Erfahrungen der letzten 10 Jahre bewiesen haben, durchaus unberechtigt, an dem sogenannten System Witte jene Kritik zu üben, die bereits 1902 den Zusammenbruch prophezeite. Aber Witte selbst hat sein System für tragfähig nur gehalten, wenn längere Zeit Frieden bliebe. Man war durch die Revolution hindurch noch hart an der Krisis vorbeigekommen. Dann hatten mehrere günstige Ernten die Lage wieder gebessert, was freilich infolge der maßlosen Überspannung des Militäretats den Reformen und dem Fortschritt recht wenig zugutekam. Schon aus der Denkschrift, die Kokowzow seinem letzten Etatentwurf beigegeben hat, liest man zwischen den Zeilen sehr deutlich die Besorgnis, dass die Staatsfinanzen dies ungeheure Anschwellen der Ausgaben für Heer und Marine nicht dauernd tragen könnten, und unzweifelhaft ist ein wesentlicher Grund seines überraschenden Rücktrittes sein Widerstand gegen die Kriegshetzer und die Militärpartei aus diesem Grunde gewesen. Jetzt nehmen diese Besorgnisse eine viel bedrohlichere Gestalt an. Es ist gar nicht abzusehen, wie die russischen Finanzen, die noch längst nicht


fähig waren, einer großen Anspannung durch einen Krieg zu widerstehen, diesen aushalten sollen. Das Gespenst des Zusammenbruches, des verschleierten oder unverschleierten Staatsbankrottes, rückt damit in immer greifbarere Nähe. Dabei wolle man freilich nicht vergessen, dass dieser einen Schuldnerstaat von der Größe und der Verschuldung Russlands selbst nicht so vernichtend trifft wie einen ausgebildeten Rentnerstaat. M. a. W.: ein solcher Zusammenbruch trifft weniger Russland, dafür aber seinen Bundesgenossen Frankreich einfach tödlich. Für Russland selbst ist bei aller Bedeutung dieser finanziellen Schwäche wichtiger die Frage, ob die anderen materiellen Mittel genügend vorhanden sind.

Nach den Angaben der amtlichen Zeitung des Finanzministers, der „Torgowo-Promyschlennaja Gazeta“, ist heute bereits in 73 Gouvernements für 19l4 eine Missernte festgestellt worden. Wir brauchen hier nur an den oft erwähnten Zusammenhang zu erinnern, dass der russische Bauer nicht genügend Getreide zur Nahrung hat, und dass die oft geschilderten Folgen der alten russischen Agrarverfassung durch die Agrarreform zunächst nur in beschränktem Maße überwunden sind. Damit droht der Masse des Volkes für den Winter und darüber hinaus abermals eine große Teile des Reiches umfassende Hungersnot. Auch dieser Aus blick darf nicht übertrieben werden, da andererseits das Stocken jeglicher Ausfuhr an diesem Punkte günstig wirkt. Die Unmöglichkeit, Getreide über die Häfen des Schwarzen Meeres auszuführen, trifft natürlich den Getreidehandel und alle mir ihm zusammenhängenden Existenzen auf das schärfste. Aber die Getreidevorräte, die sonst zur Herbeiführung einer aktiven Handelsbilanz ins Ausland ausgeführt wurden, bleiben jetzt im Lande, können zur Ernährung der Masse und zur Verproviantierung der Truppen verwendet werden. Dass Polen ganz ausfällt, ist dafür auch kein Verlust, weil das Weichselgebiet seit Jahrzehnten mehr Getreide konsumierte als produzierte. Liegen die Dinge aber jetzt so, so verschlechtern sie sich unter allen Umständen von Monat zu Monat. Es fehlen die Hände, die den Acker bestellen, weil tatsächlich alle Wehrfähigen in dem großen Reiche schon zur Fahne gerufen sind. Denn man darf sich den Reichtum Russlands an Menschen und Soldaten nicht so vorstellen, dass es mit seinem Millionenheer heute nur erst einen Teil unter den Fahnen hielte, während der andere noch seinen Beschäftigungen nachgehen und beliebig herbeigeholt werden könnte. Nach einwandfreien Nachrichten hat auch Russland bereits alles aufgeboten, was es für den Weltkrieg an militärischen Kräften einsetzen kann. Deshalb fehlen daheim die Arbeiter in den Fabriken und die Arbeitskräfte, die den Acker bestellen. Was das für eine Volkswirtschaft bedeutet, die noch zum allergrößten Teile auf der Arbeit der Hände allein beruht, braucht nicht ausgeführt zu werden. Gerade die Betrachtung der agrarischen Verhältnisse lehrt zwingend, wie verkehrt die Behauptung und Anschauung ist, dass die Zeit der beste Bundesgenosse Russlands sei. Im Gegenteil, je länger der Krieg dauert, umso mehr fressen sich seine Wirkungen in seine Volkswirtschaft ein und umso stärker schüren sie den großen Vorrat an Unzufriedenheit, der im Lande vorhanden ist.

Als Poincaré kurz vor Ausbruch des Krieges in Petersburg einfuhr, streikten dort 200.000 Fabrikarbeiter und auf den Straßen knatterte das Gewehrfeuer des Barrikadenkampfes. Eine große Streikbewegung, die seit langem das Land in Atem hielt, brach damit in einem der Zentren lichterloh auf. Sie ist mit der Mobilmachung naturgemäß zusammengebrochen. Denn damit wurden ihr gerade die besten Kräfte entzogen, die zu den Fahnen eilten, und der Kriegszustand erlaubte, gegen die Arbeiterführer noch rücksichtsloser und willkürlicher vorzugehen, als man es schon im Frieden getan hatte. Aber damit ist die Unzufriedenheit nicht erstickt, die in diesen Kämpfen zum Ausbruch kam. Sie wird verstärkt durch die Folgen der agrarischen Reform. Wer den Umgestaltungsprozess Russlands seit 1905 verfolgte, ist immer wieder zu dem Schlusse gekommen, dass eine längere Zeit äußeren Friedens diesem Reiche beschieden sein müsse, sollte dieser ungeheure historische Prozess zu einem für Russland segensreichen Abschluss gedeihen. Der Friede ist unterbrochen, die Staatsmänner, die jenen Standpunkt vertraten, sind mundtot gemacht oder halten sich zurück, nichts hört man von Witte, nichts von Kriwoschein. Jetzt werden Hunderttausende, ja Millionen Bauern aus dem unbequemen und oft schmerzlichen Übergange der agrarischen Reform in einem Jahre weiter Verbreitung der Missernte herausgerissen. Jetzt ist nirgends Geld zu all den anderen Reformen da, ohne die die Agrarreform nur eine leere Form bleibt. Jetzt treffen die durch diese Agrarreform ganz proletarisierten Massen in den Städten zusammen mit der revolutionären Gärung, die dort niemals aufgehört hat. In der Intelligenz aber hatte die Unzufriedenheit mit dem Regierungssystem der letzten Jahre ebenfalls einen hohen Grad erreicht. Zündstoff für eine kritische Gestaltung der inneren Verhältnisse ist also in Menge vorhanden, und man wundert sich, wie leichtsinnig sich diejenigen darüber hinwegsetzten, die Russland in diesen Krieg getrieben haben. So sehr lange sind doch die Erfahrungen von 1905 und 1906 nicht her, dass ein unglücklicher Krieg eine schwere Erschütterung des Staates, ja auch der Dynastie herbeigeführt hatte. Man hat diese Erfahrungen in den Wind geschlagen, in maßloser Selbstüberhebung hat die zum Krieg treibende Clique auf die Macht und Stärke Russlands gepocht. Es wird ihre Schuld sein, wenn Niederlagen in der Feldschlacht abermals und noch viel stärker auf das Innere zurückwirken wie vor 10 Jahren.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland als Gegner Deutschlands