Vierte Fortsetzung

Was der Panslawismus nun an Schwung und innerer Kraft überhaupt hat, hat er nicht aus dem Gegensatz zu Österreich geschöpft, sondern aus den großen politischen Zielen, die er sich in der orientalischen Frage steckte. Hier muss allerdings jener offene Brief des Professors Mitrofanow als ein durchaus richtiger und zutreffender Ausdruck dieser russischen Anschauungen betrachtet werden. In der orientalischen Frage, d. h. in der Frage nach dem Schicksal der Türkei und der von ihr sich loslösenden Balkanstaaten, stehen seit Jahrhunderten die österreichischen und russischen Interessen in einen, unversöhnlichen Gegensatze. Darin lag ja immer die Gefahr begründet, die Bismarck stets fürchtete, dass aus irgendeiner kleinen Reibung in Mazedonien oder wo sonst der Funke aufstiege, an dem ein Weltbrand sich entzünden könne. Und so sehr dieser Gegensatz zwischen Österreich und Russland durch das Emporkommen kräftiger und selbständiger Balkanstaaten bereits gemildert und gelöst wurde, er war bis in die Gegenwart stark genug, um den Weltbrand zu entzünden, der, wie gleichfalls Bismarck immer voraussah, dann nicht mehr zu lokalisieren war. Wenn Russland nach Konstantinopel wollte, so ging, wie man es früher ausdrückte, der Weg dazu über Wien. Das war ein Gegensatz, der, sollte Österreich nicht überhaupt auf die Rolle eines selbständigen Staates mit eigener Politik verzichten, einmal ausgekämpft werden musste. Lange genug har sich Österreich die auf seine Zerstörung und auf seine Ausschaltung aus der orientalischen Frage gerichteten Bestrebungen gefallen lassen, die serbische Agitation und deren Unterstützung durch Russland, alles das, was aus der Entstehungsgeschichte dieses großen Krieges jetzt ganz deutlich und klar ist. Ich glaube, dass das auch heute den weitesten Kreisen bei uns ohne weiteres verständlich ist, warum an dieser orientalischen Frage der große Krieg zwischen Österreich und Russland ausbrach. Deshalb sei es gestattet, dieses Problem hier nur eben zu berühren. Dagegen ist nicht ohne weiteres verständlich, warum Deutschland in diesen Krieg gewissermaßen automatisch mit eintrat. Diese Frage so klar und scharf wie möglich zu beantworten, ist auch heute nicht überflüssig, umso weniger, als Aussprüche Bismarcks angezogen werden können, die gegen eine solche Hereinziehung Deutschlands in einen derartigen Krieg sprechen. Bismarck spricht ja ganz deutlich in den „Gedanken und Erinnerungen“ von dem möglichen „Verlangen, dem casus foederis die Vertretung österreichischer Interessen im Balkan und im Orient zu substituieren .... Aber es ist nicht die Aufgabe des Deutschen Reiches, seine Untertanen mit Gut und Blut zur Verwirklichung von nachbarlichen Wünschen herzuleiten. (Folgt der oben S. 26 zitierte Satz.) Man sollte sich jedoch in Wien enthalten, über diese Assekuranz hinaus Ansprüche aus dem Bündnisse ableiten zu wollen, für die es nicht geschlossen ist.“ Gegen diese Formel hat die deutsche Politik seit 1908 konsequent und unter vollster Zustimmung des deutschen Volkes gehandelt. Die Lage ist anders geworden gegen die Zeit, für die Bismarck jenen Satz schrieb, und jedermann im Deutschen Reiche stimmt dem zu, dass die Knochen recht vieler pommerscher Grenadiere für diese orientalische Frage geopfert werden müssen. Denn die Stellung Deutschlands zu dieser Frage hat sich von Grund auf gegen die Bismarck‘sche Zeit geändert, obwohl Bismarck selbst die Anfänge dieser Veränderung noch erlebt hat: die Entsendung deutscher Militärinstrukteure nach der Türkei, die Begründung der Levantelinie und die erste Konzession für die sogenannte Bagdadbahn, den ersten Besuch des deutschen Kaisers in Konstantinopel 1889. Doch liegen die eigentlichen Verschiebungen erst in den 90er Jahren und später. Erst da kam trotz aller Schwierigkeiten das große Unternehmen der Bagdadbahn zu voller Entfaltung, von deutscher Intelligenz und deutschem Kapital getragen. Und als 1905 der deutsche Kaiser in Tanger einritt, wurde uns völlig klar, was schon in jener kaiserlichen Rede am Grabe Saladins 1898 angedeutet worden war: dass der deutsche Kaiser und die deutsche Politik mit der Türkei und, noch mehr, mit dem vom Sultan als Kalifen geführten Islam als einem gewaltigen politischen Faktor rechneten, der für die deutschen Zukunftsaufgaben auf die deutsche Seite geführt werden müsse und um seiner eigenen Interessen willen dahin gehöre. Daher, als Österreich 1908 eine neue eigene Orientpolitik zu machen begann, die zunächst nicht ohne weiteres verständliche Wucht, mit der sich Deutschland in den daraus entstehenden Krisen an die Seite Österreichs stellte. Es verteidigte in dieser Stellung bei Österreich nicht nur Österreich-Ungarn als selbständigen Staat, der vom Panslawismus bedroht war, sondern zugleich seine eigenen großen Interessen in den Gebieten der Islamanhänger.

Keineswegs aber war es naturnotwendig, dass daran ein Krieg zwischen Deutschland und Russland ausbrechen musste. Der gegebene Gegner war, wie die Entwicklung des Bagdadbahngedankens im Ganzen und im Einzelnen zeigt, überall nur für beide England. Auch hier sind, wenn man sich die Frage durchdenkt, Deutschland und England ohne Krieg nicht zu versöhnende Gegner geworden. Ein Deutschland, das die Türkei festigen und in ihr rein wirtschaftlichen Interessen bis zum Persischen Golf nachgehen wollte, und ein England, das die Türkei auflösen wollte, mir jenem grandiosen Plan einer Verbindung von Indien und Ägypten, der den Ausgang der Bagdadbahn, Arabien, die heiligen Stätten und das Kalifat unter englische Herrschaft gebracht hätte, — man sieht nicht, wie diese beiden Ideen auf die Dauer ohne Krieg hätten gegeneinander ausgeglichen werden können. Und mit darum wird deshalb heute an der Nordseeküste und auf den Wellen der Weltmeere zwischen Deutschland und England gekämpft. Dagegen brauchten die Interessen Russlands zu jenem Äußersten nicht zu führen.


Der einsichtige russische Staatsmann sah längst, dass gerade die Kriege, die Russland um der orientalischen Frage willen begonnen hatte, selbst wenn sie siegreich waren, Russland immer weiter von seinem erträumten Ziele abgebracht haben. Wer die Geschichte der orientalischen Frage im 19. Jahrhundert durchgeht, findet das überall bestätigt. Gleichwohl hat die von dem Traum Peters des Großen und Katharina II. erfüllte phantastische Politik noch einmal den Kampf darum ausgenommen, ob es ihr gelänge, nicht nur den Lebensinteressen, die auch Russland in der orientalischen Frage hat, nachzustreben, sondern vielmehr mit der Zerstörung der Türkei Konstantinopel in den Besitz Russlands und die Balkanstaaten und Vorderasien in Abhängigkeit von sich zu bringen. Damit erst trat diese Anschauung in den äußersten Gegensatz auch zu Deutschland, damit wurden einander entgegengesetzte Interessen klar, die ohne kriegerischen Austrag auch nicht ausgeglichen werden konnten.

Macht man sich diese allgemeinen Linien deutlich, so ist nicht nötig, die Geschichte der Kriegsvorbereitung für Russland von 1908 bis zur Gegenwart im Einzelnen zu erzählen. Beide Staaten, Deutschland wie Österreich, haben in diesen Jahren einer ununterbrochenen Spannung aufs äußerste Selbstbeherrschung bewahrt. Österreich hat eine Langmut in der Duldung staatsfeindlicher, von Russland getragener Agitation bewiesen, die schon Verwunderung erregte. Deutschland hat die von Jahr zu Jahr zunehmenden militärischen Rüstungen Russlands mit sich selbst beherrschender Ruhe betrachtet. Wir haben eine steigende Unruhe über russische Rüstungen und Drohungen bei uns zur Ruhe gemahnt, weil nicht wir diese Spannung verschärfen wollten und weil wir wussten, dass unseren Generalstab auch hierin schlechterdings nichts überraschen konnte. Auch wer die reale Interessengemeinschaft beider Reiche und die Einsicht und Charakterstärke seiner Leiter hoch einschätzte, hat alle Zeit mit der Möglichkeit eines solchen Ausbruches gerechnet. Man sah, wie, nachdem jene asiatische Politik im Feldzug gegen Japan Schiffbruch gelitten hatte, die andere „nahöstliche“ Richtung der russischen Außenpolitik Schritt für Schritt an Boden gewann. Und niemand bei uns war sich darüber im Unklaren, dass diese panslawistische Richtung mir ihrer Todfeindschaft gegen den österreichisch-ungarischen Staat und mit ihren maßlosen und ehrgeizigen Ansprüchen in der orientalischen Frage, wenn sie die amtliche Haltung Russlands gewann, Lebensinteressen unseres Deutschen Reiches verletzte. Dann war keine Versöhnung mehr denk bar, dann half kein Betonen der trotz allem bleibenden realen Interessengemeinschaften, dann musste mit dem Schwert in der Hand Russland entgegengetreten, muss mit dem Schwert dieser große Machtgegensatz durchgefochten werden.

Aber es ist gleichwohl nicht richtig, zu sagen, dass Russland die letzten Endes treibende Kraft gewesen sei, die den Ausbruch des Weltkrieges verschuldet habe. Gewiss gab und gibt es im russischen Reiche gewissenlose Politiker und Militärs genug, die leichten Herzens in den Krieg gegen Deutschland und Österreich trieben, auch wenn nur auf die Hilfe Frankreichs zu rechnen war. Aber der Entschluss der wirklich entscheidenden Stellen wurde erst möglich, als man sah, dass man auch auf die Unterstützung Englands rechnen könnte. Und diese Unterstützung ist von Russland nicht gesucht, sondern ihm von England angeboten, ja aufgedrängt worden. Wir brauchen nur an das Abkommen über Persien von 1907 und den Besuch König Eduards in Reval von 1908, an das Grey-Iswolskische Mazedonienprogramm und die Stellung des Grafen Benckendorff am Londoner Hofe zu erinnern. Erst dann hörte jenes Balancieren der Gegensätze auf, dem wir letzten Endes den Frieden in den Jahren von 1870 bis 1904 verdankt haben. Sobald England wieder in den Kreis der Kontinentalstaaten handelnd hereintrat, war dieses System nicht mehr zu halten. Auch Bismarck selbst hätte es nicht aufrechterhalten können. Denn die Waagschale, in die England sein Gewicht legte, wurde ganz automatisch die schwerere, die Seite, auf die England trat, war imstande, mit gewisser Aussicht auf Er folg das dadurch politisch ja bereits beseitigte europäische Gleichgewicht auch militärisch anzugreifen. So hat Russland zwar gewissermaßen die Zündschnur entzündet, die die Mine zur Explosion gebracht hat, aber die Mine selbst ist in jahrelanger Arbeit von England gelegt worden. Nicht Iswolski ist der zuerst Schuldige, sondern Sir Edward Grey, der es verstand, nicht nur die französische, sondern auch die russische Politik vollkommen sich dienstbar zu machen. Wäre es nicht so, so wäre es ihm selbst 1914 ebenso gut möglich gewesen, den Krieg zu verhindern, wie ihm das 1913 gelungen war. England hat das nicht gewollt und so den Krieg letzten Endes herbeigeführt, einen Krieg, den Russland selbst, wie wir aus zahlreiche» Zeugnissen wissen, erst für 1916 oder 1917 in Aussicht genommen hatte. Weder waren die militärischen Rüstungen so weit gediehen, wie man sich vorgenommen hatte, noch waren jene strategischen Bahnbauten auch nur entfernt fertig, für die Kokowzow seine letzte große Anleihe bei Frankreich aufgenommen hatte. Aber die skrupellose Hetzerei des russischen Panslawismus hat es allerdings fertiggebracht, im Kriegsausbruch die Lage herbeizuführen, die Frankreich immer ersehnte, nämlich, dass der Krieg zwischen Deutschland und Russland ausbräche, in den Frankreich ganz selbstverständlich eintrat. Denn dann war dir Gefahr für Frankreich beseitigt, die Bismarck einmal so ausgedrückt hat, dass Russland Frankreich in einem solchen Kriege nur „möglicherweise bei springen“ würde.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland als Gegner Deutschlands