Unter dem Mongolenjoch (1224 — 1480)

§ 10. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts kamen vom Süden her, aus Mittelasien, die Tataren in mehreren Horden unter Tschingis Chan und Batyj und verwandelten den ganzen Süden Russlands in einen Trümmerhaufen. Alle größeren Städte Kijev, Wladimir, Moskau — letzteres war um 1147 vom Großfürsten Jurij Dolgorukij angelegt worden — , Rjasan, Jarosslawl gingen in Flammen auf. Nun waren aber die Mongolenführer eigentlich weitherzige Leute, die 'sich vor allem nicht in die religiösen Angelegenheiten der Russen mischten; auch waren ihre Heerscharen nicht so groß, dass sie bei den gewaltigen Raumverhältnissen Russlands ihre Macht in gleicher Weise überall fühlbar machen konnten. Man atmete, je weiter man von ihrem Hauptsitz Ssaraj an der Achtuba, überhaupt vom Süden entfernt war, freier, und so ist es zu erklären, dass z. B. Alexander Jarosslawowitsch selbständig einen Krieg mit den Schweden, den Deutschen (den livländischen Schwertrittern) und den Litauern führen und über sie an den Ufern der Njewa 1240 einen gewaltigen Sieg davontragen konnte (daher sein Name Alexander Njewskij). So konnte auch Nowgorod in Verbindung mit der deutschen Hansa einen recht lebhaften Handel treiben, der es der dortigen deutschen Kolonie sogar ermöglichte, sich eine — steinerne Kirche zu bauen.

Aber im Süden saß die Bildung, und da ging alles zu Grunde. Sonderbarerweise hat sich aber aus diesen Trümmern der ganze wertvolle Sagenschatz nach dem Norden gerettet. Das ist so sonderbar, dass man, als diese Güter nun wieder ans Tageslicht kamen, sie als Produkte des Nordens angesehen hat. Ihre Heimat ist aber der Süden, der Norden ist nur ihr Retter geworden.


Von einem Gedeihen der Literatur kann keine Rede sein. Doch gibt es ein paar Denkmäler wie „die Lehren Serapions“, des Bischofs von Wladimir, eine „Bitte Daniels des Verbannten", eines verbannten Mönches, der in sein Kloster zurück will, auch einige geschichtliche Ansätze wie „das Leben und die Tapferkeit Alexander Njewskijs"; dann tauchen nach und nach immer häufiger Reisebeschreibungen auf.

Für uns recht interessant ist die Reisebeschreibung, die der Ssusdaler Klostergeistliche Simeon von seiner 1437 nach Florenz unternommenen Fahrt gibt, weil er Deutschland berührt hat: in Lübeck hat ihm die Nähkunst an den Messgewändern besser als in Russland gefallen, und in Lüneburg staunte er die Wasserkünste an: „das Wasser fließt aus menschlichen Figuren, die mitten in der Stadt stehen, bei der einen aus dem Mund, bei dem andern aus den Ohren, Augen, Nasen, aus den — Ellbogen". — Auch die Reise, die der Kaufmann Athanasius Nikitin aus Twjer im Jahre 1466 nach Indien unternahm, also bevor Vasco de Gama den Seeweg entdeckte, „Wanderung über drei Meere" (Kaspische, Indische, Schwarze) , ist interessant durch ihre Beschreibung des Aussehens, der Lebensweise, der Religion der Inder.

Nach und nach war das Tatarenjoch gelockert. Schon 1380 hatte sich Dmitrij Joannowitsch in einen offenen Kampf mit ihm eingelassen, hatte sie am Don besiegt; man hatte aber, modern gesprochen, den Sieg nicht ausnutzen können. Jedoch innere Zwistigkeiten unter den Horden selbst halfen den Russen; von der Goldenen Horde von Kiptschak an der Achtuba hatte sich die von Kasan und die Krimsche losgelöst. Da führte denn genau 100 Jahre später, 1480, den entscheidenden Schlag über sie der Moskauer Großfürst Iwan III., von jetzt ab Großfürst und Gossudar (Herr) von ganz Russland", und damit steht Moskau an Stelle von Kijev im Vordergrund.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Literaturgeschichte