Kunstliteratur

§ 6. Sie nimmt ihren Anfang mit der Bibel. Die russische Bibel ist in mancherlei Hinsicht eigentümlich. Die beiden griechischen Mönche Kyrill und Methodius 6), zwei Brüder aus Saloniki, hatten um 855 die griechische Bibel für die Mähren übersetzt. Saloniki liegt nicht fern von Bulgarien, die beiden Griechenbrüder beherrschten demgemäß von den slawischen Dialekten am besten das Bulgarische. Sie übertrugen daher die Bibel ins Bulgarische, untermischt mit dem der bulgarischen Sprache nahestehenden Südrussisch. Die Mähren wollten nicht viel von der Bibel wissen; natürlicher war es, dass sie den Bulgaren gefiel. Und von diesen nahmen nun 100 Jahre später nach Einführung des Christentums die Russen diese Übersetzung. Die Sprache der russischen Bibel und überhaupt der für den Gottesdienst verfassten liturgischen Bücher ist also nicht russisch, sondern altbulgarisch (kirchenslawisch) 7); und diese Sprache ist nicht allein die Sprache der rechtgläubigen Kirche bis heute geblieben, sondern sie hat auch einen äußerst bedeutenden Einfluss auf die russische Sprache überhaupt und auf die russische Literatur, auch auf die Volksliteratur, ausgeübt.

Die Russen nahmen auch gutwillig die verzwickte Schrift der beiden Griechen an, die diese, schon aus Hass gegen Rom, nicht auf lateinischen Lettern, sondern auf griechischen aufgebaut hatten. Für die vielen Laute des Slawischen mussten sie noch Entlehnungen aus dem Hebräischen, Koptischen und Armenischen machen. Die Schrift mutet uns noch heute sonderbar genug an; sie ist aber schon durch Peter den Großen mit Anlehnung ans Lateinische modernisiert worden. Kyrill und Methodius hat man zum Dank unter die Heiligen versetzt; ihr Gedächtnistag ist der 11. Mai. (Neben diesem kyrillischen Alphabet gibt es noch die Glagolitika, d. i. die bei den dalmatinischen Slawen gebräuchliche Schrift des Mönches Hieronymus — 13. Jahrhundert — , die er zur Niederschrift der heiligen Bücher verwendete; sie ist durch die kyrillische 7) verdrängt worden.)


Mit der bulgarischen Bibel kamen auch bulgarische Gelehrte ins Land, die in den Klöstern Lehrer der Russen wurden. Sie lehrten nach ihren religiösen Büchern, Übersetzungen aus dem Griechischen. Daher der kolossale Einfluss der (bulgarisch) griechischen Bildung, der byzantinischen, in Russland, der ungebrochen bis zum Fall von Byzanz (1453) und darüber hinaus bis ins 16. Jahrhundert dauerte. Erst da wurde er von dem (polnisch) römischen abgelöst.

Die Bibelübersetzung der beiden Griechen ist nun freilich verloren gegangen, und daher haben wir ein Urteil über sie nur durch die der Zeit nach nächsten Kopien z. B. durch das Osstromir-Evangelium.

Zu den ältesten Denkmälern dieser bulgarischen Schriftsprache zählen hauptsächlich, aus dem 11. Jahrhundert:

1) Das eben genannte Osstromir-Evangelium 8), zwischen 1056 und 1057 vom Diakonus Gregor für den Nowgoroder Statthalter Osstromir angefertigt und zwar nach Wochen und Tagen in Abschnitte geteilt, wie sie in den Kirchen gelesen wurden.

2) Die beiden Isborniki 9) des Diakons Johann; der erste 1023, der zweite 1076 für den Großfürsten Sswjatosslaw Jarosslawitsch aus dem „Isbornik" abgeschrieben, der für den bulgarischen Zaren Simeon (9. bis 10. Jahrhundert) aus dem Griechischen übersetzt war. Der erste Isbornik (d. h. Sammelwerk) enthält nicht bloß geistliche, aus den Kirchenvätern entnommene Aufsätze, sondern auch historische, philosophische und sogar rhetorische Betrachtungen. Der zweite Isbornik ist hauptsächlich religiös-moralischen Inhalts.

3) Die Ssuprassl-Handschrift 10) (in Ssuprassl bei Bjelosstok gefunden). Sie enthält die Lebensbeschreibungen von Heiligen, Worte des Heiligen Slatousst u. a.

4) Der später gefundene Tschudov-Psalter 11) mit Kommentar des Theodoritos von Kyrrhos.

Es sind auch sonst, aber späteren Datums, viele Übersetzungen aus dem Bulgarischen, ebenso aus dem Serbischen — Serbien hatte wie Bulgarien vor den Russen das Christentum von Byzanz angenommen — nach Russland übergegangen, meist selber Übersetzungen aus dem Griechischen, aber auch einige Originale. Voran immer gottesdienstliche Bücher, dann „Sammelwerke" z. B. die „Bienen", welche einsammeln aus den Kirchenvätern 12), auch aus heidnischen Autoren und Auslegungen bringen über Tugenden und Fehler, über Armut und Reichtum usw. Ferner eine große Menge sog. Apokryphen 13), die sich um Salomo, um die Mutter Gottes gruppieren. Einige geben uns einen hübschen Blick in die Gedankenwelt. Z. B. im „Gang der Mutter Gottes zu den Qualen" werden uns die Qualen der in der Hölle Gepeinigten geschildert, und wer sind diese? „Die welche nicht an Pfingsten glauben, welche Götzenbilder anbeten, welche die Sonne, Mond, den Pjerun für Götter halten, die, welche zu faul sind, um zur Frühmesse zu gehen, Diebe, Verleumder und die, welche — zu hohe Prozente nehmen." In den Apokryphen um Salomo spielt die Königin von Saba eine Rolle. Sie will die Klugheit Salomos prüfen und führt ihm Knaben und Mädchen in gleicher Kleidung entgegen; Salomo soll nun erkennen, wer ein Knabe, wer ein Mädchen ist. Da wirft er ihnen Nüsse hin, und die Knaben stecken sie in die Rockschöße, die Mädchen in die Ärmel. Das „Gespräch der drei Heiligen" (gemeint sind die Heiligen: der große Wassilij, Gregor Bogosslowo und Johann Slatousst) ist ein Rätselraten: Welche Mutter verzehrt ihre Kinder? Das Meer, denn es nimmt die Flüsse in sich auf. — Es gibt eine Eiche ohne Wurzeln und Zweige; zu ihr geht einer ohne Füße, fasst sie an ohne Hände, schneidet sie ohne Messer, isst sie ohne Zähne. Was ist das für eine Eiche? Der Mensch, zu ihm kommt der Tod und schneidet ohne Messer.

Das hat bereits einen recht weltlichen Anstrich. Es gibt auch schon rein weltliche Sagen, die Byzanz selber sich gleichfalls erst geholt hat, so die Sage vom trojanischen Krieg, von Alexander dem Großen, von Barlaam und Josaphat, also dieselben Stoffe, die wir und die übrigen europäischen Literaturen gern in jener Zeit behandeln. Auch eine Menge von Chroniken taucht auf.

§ 7. Neben dieser Literatur in bulgarischer Sprache zeigt das 11. Jahrhundert aber auch eine Literatur in russischer Sprache. Es muss hier gleich darauf hingewiesen werden, dass, so groß Russland ist und so groß auch sonst die Unterschiede zwischen Großrussland, Kleinrussland und Weißrussland sind, doch die Schriftsprache, wie bei uns, für alle ein und dieselbe war und geblieben ist. Diese Kunstliteratur (die Volkspoesie reicht, wie wir schon gesehen, noch weiter zurück) ist natürlich vorwiegend wieder kirchlich und kommt von dem Sitz der damaligen Gelehrsamkeit, aus Kijev. Hierher gehören:

1) Zwei Predigten des Abtes Theodosius vom Kijewer Höhlenkloster: die eine spricht von den Strafen Gottes, vom Hunger, von Regenlosigkeit, von den Überfallen durch die Steppen „barbaren" wegen begangener Sünden, zu denen neben Diebstahl und Trunkenheit auch der Aberglauben zählt, z. B. der, welcher sich mit dem Niesen verbindet; die andere bespricht die Schattenseiten des klösterlichen Lebens.

2) Mehrere Schriften (Predigt, Lehren) des Kijewer Metropoliten Hilarion 14) u. a. über „das durch Moses gegebene Gesetz und über den Segen und die Wahrheit, die durch Jesum Christum gekommen“. Hilarion ist Gelehrter und liebt die Gelehrtensprache: er bringt alles im Symbol.

3) Vor allem gehört hierher die Geschichte des Mönches Nestor 15) († um 1130) aus dem Kijewer Höhlenkloster, die erste russische Geschichte. Das Original ist nicht mehr vorhanden; es hat sich von den vielen Abschriften die aus dem Jahre 1377 vom Mönch Laurentius erhalten. Die Geschichte holt etwas weit aus, sie geht auf den Anfang der Welt zurück, wendet sich aber dann zu den slawischen Stämmen und geht die russische Geschichte von Ruriks Einzug bis zum Jahre 1110 durch. 1116 hat sie der Mönch Silvester abgeschrieben, aber auch diese Abschrift ist verloren. Die ganze Geschichte ist natürlich unter dem Gesichtspunkt des Mönches, also dem religiösen, geschrieben. Die Geschichtsschreibung entwickelte sich, mit Nestors Geschichte als Ausgangspunkt, schnell weiter; Fortsetzungen von ihr sind: die ,,Kijewer Handschrift", die bis zum Jahre 1200 geht, „die Wolynsker" bis 1292, „die Ssusdaler" bis 1350 usw.

4) Neben Nestors Werk beansprucht größte Beachtung die erst 1738 von Tatischtschev aufgefundene „Prawda" 16), das unter Jarosslav dem Weisen ausgearbeitete erste russische Gesetzbuch.

§ 8. Nestors Werk reicht schon ins 12. Jahrhundert hinein. Der Gesichtskreis erweitert sich nun; die weltlichen Ereignisse erobern sich einen Platz neben den religiösen. Dem 12. Jahrhundert gehören an:

1) Die Schriften des Heiligen Kyrill, Bischofs von Turov (Gouv. Minsk). Kyrill soll ein sehr bedeutender Redner, ein „zweiter Slatousst" gewesen sein. In seinen „Schriften" liebt er das Symbol und den Dialog. Sie geben hauptsächlich Feiertagsbetrachtungen und Lehren an die Mönche.

2) Die erste Reisebeschreibung. Die erste, natürlich sehr gefahrvolle Reise, von der wir wissen, hatte der Abt des Kijewer Höhlenklosters Barlaam 1062 nach Jerusalem unternommen. Dann pilgerte zwischen 1093 und 1113 der Abt Daniel, wahrscheinlich aus Tschernigov, dorthin; er hat die Reise in seinem Buch „Palomnik" (Bezeichnung aller Pilger, weil sie Palmenzweige von der heiligen Stätte mitbrachten) beschrieben. Wohltuend berührt hierin sein stark ausgeprägtes Nationalgefühl; er hat zu den Füßen des heiligen Grabes ein kostbares Gefäß niedergestellt „für alle russischen Fürsten, für die ganze russische Erde, für alle Christen des russischen Bodens".

3) Erziehungsbüchern für die Geistlichen sind wir schon begegnet. Jetzt kommt auch die weltliche Erziehung an die Reihe. Wladimir Monomach, der gebildetste Fürst Altrusslands, hat für seine Kinder ein Erziehungsbuch geschrieben, in dem er ihre allgemein menschlichen und dann ihre fürstlichen Pflichten bespricht. Hübsch ist seine Ermahnung, die zeigt, dass die Rassen immer gleich waren und sind: „Seid nicht faul zu beten, seid nicht faul früh aufzustehen, seid nicht faul im Krieg, seid nicht faul Wissen zu erlangen."

§ 9. Zur Kunstliteratur gehört auch das „geistliche Lied“, der „Vers". Seine Dichter sind zwar Leute aus dem Volke gewesen, hauptsächlich Pilger, die sich ihren langen Weg durch Gesang verkürzten, durch ihn auch ihren Lebens- und Reiseunterhalt erbettelten. Aber den Stoff dazu entnahmen sie der geistlichen Literatur, hauptsächlich den Apokryphen, und der Stoff hat auch der Aufmachung sein Gepräge gegeben, so dass man diese Art Dichtung wohl am besten in die Kunstliteratur einreiht. Die „Verse" haben sowohl epischen wie lyrischen Charakter. Der hervorragendste „Vers" ist der von jenem sonderbaren „(Tauben-?) Buch" 17), das, 40 Faden hoch, 40 Faden breit und 10 Faden dick, zur Zeit Davids aus einer Wolke, vom Himmel, auf Jerusalem niedergefallen ist, das alle tiefen Geheimnisse der Welt aufschließt. Die Geheimnisse, die damals die ganze christliche Welt in Aufregung versetzten, sind die Fragen vom Ende der Welt wie vom Anfang aller Dinge. — Sehr beliebt war der „Vers" von der „Klage Adams" über den Verlust des Paradieses. Ferner „der Reiche und Lazarus" und das Gegenstück dazu „der reiche Alexej", der sich seines fürstlichen Namens und seines Reichtums entledigt und ein von allen verachteter Bettler wird, und von ähnlicher Tendenz „Barlaam und Josaphat", worin der reiche indische Fürstensohn Josaphat vom weisen Barlaam zum Christentum bekehrt wird, die Krone niederlegt und arm in die Wüste zieht. Sehr bekannt ist auch „der heilige Georg", und zwar besteht dieser hier nicht allein den Kampf mit dem Ungeheuer, sondern auch die Martern werden besungen, die er vom bösen Zaren erdulden muss, und dann seine Befreiung und sein Zug ins „heilige Russland", das, vernichtet und verwüstet — wir sind damit offenbar in die Tatarenzeit gekommen — , nun durch ihn vom Untergang gerettet und im christlichen Glauben befestigt wird 18).


1) Eine große Sammlung (7 Bde) der noch heute vom Volke gesungenen Lieder gibt Sobolevskij, „Velikorosskija narodnyja pesni“. Peterbg. 1895 — 1902.

2) Die erste Sammlung dieser alten Lieder stammt ans dem 18. Jahrh. ; sie wird Kirscha Daniloy zugeschrieben. Sie wurde zum erstenmal 1805 von Jakubowitsch schlecht herausgegeben, dann auf Veranlassung des Kanzlers Rumjanzov 1818 gut von Kalaidovitsch. Nachdem sind sie vielfach, kommentiert, herausgegeben worden: Die christlich-mythologische Schicht im russischen Volksepos" (Archiv für slav. Phil. 1875). — Wollner, „Untersuchungen über die Volksepik der Großrussen“. Leipzig 1879.
Bylinen ist nicht der ursprüngliche Name; man nannte sie zuerst Starina.
Manche Forscher wollen die Einteilung in ältere und jüngere nicht.

4) Die ursprüngliche Handschrift ist beim Brande Moskaus verloren gegangen. Erhalten ist nur eine schlechte Nachahmung, die Zadonscina, ein Lied vom großen Sieg über die Tataren am Don 1380. — Eine Abschrift mit Varianten, 1864 unter den Papieren Katharinas II. gefunden, wurde herausgegeben von Pekarskij, „Slovo o polku Igoreve". Peterbg. 1864. — Gut orientierende Volksausgaben.

5) „Russische Volksmärchen". Gesammelt von Alexander N. Afanasjev. Deutsch von Anna Meyer. Wien 1906. Dazu Polivka im Arch. für slav. Phil. 1906. — Jagic, „Zur slavischen Mythologie“ im Archiv für slav. Phil. 1920. — August von Löwis of Menar „Der Held im deutschen und russischen Märchen“ Jena 1912. Dazu Polivka im Arch. für slav. Phil. 1916.

7) Über den Namen Kirchenslawisch herrscht keine Einigkeit. Zar Orientierung: „Entstehungsgeschichte der kirchen-slavischen Sprache“. Neue berichtigte u. erweiterte Ausgabe von V. Jagiö, Berlin 1913. — Peterbg. 1913. — S. die Einleitung zur „Altkirchen-slavischen Grammatik" von Vondrak, Berlin 1912.

8) F. F. Fortanatov, „Sostav Ostromirova evangelija" in Sbornik statej vest VI. J. Lamanskago. Peterbg. 1908. Daza Diels im Arch. für slav. Phil. 191 1. — Leskien, „Handbuch der altbulgarischen (altkirchen-slavischen) Sprache. Grammatik. Texte." 4. Aufl. Weimar 1905,

12) Mit den Kirchenvätern beschäftigt sich auch der „Paterik" des Kijewer Höhlenklosters; er erzählt von ihrem Leben und Treiben im Kloster.

14) Karamsin weist in seiner „Geschichte des russischen Reiches" schon auf ihn hin. (I, 284.) — Zum ersten mal hg. von Gorskij in „Prib. v tvor. svjatych otec." Bd. 2. 1844. —

15) Die Handschrift veröffentlichte zuerst Miklo sich, „Chronica Nestoris", Wien 1860. —

16) Zum ersten mal hg. u. ins Deutsche übersetzt von Schlözer, 1767.

17) Golabinaja Kniga — wie zu übersetzen? Man hat es auf ,,Taube" zurückgeführt , weil das Buch vom heiligen Geist ausgegangen ist, dessen Symbol die Taube ist Man hat auch an „tief" gedacht, weil es alle tiefen Geheimnisse der Welt erschließt. —
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Literaturgeschichte