Die vorpetrinische Zeit

§ 11. Iwan III. (1462 — 1505) hat den Beinamen „der Große“ erhalten, natürlich wegen seines Tatarensieges. Mit ihm beginnt aber auch sonst ein Auftakt: die Russen fangen an sich nach Westen zu orientieren. Seine Frau, die griechische Prinzessin Sophie, kam aus Italien und zog von dort geschickte Baumeister und Künstler heran, die Moskau durch steinerne Häuser verschönerten und großartige Gebäude im Kreml — der Kreml (Festung auf tatarisch) war schon um 1330 angelegt worden — u. a. die Usspjenskij-Kathedrale aufführten.

In der Kirche beginnt eine starke Reform. Der denkende Teil des Volks erkannte die furchtbare Unwissenheit der Geistlichkeit — der Bischof von Wologda wusste nicht die Evangelisten — , ihren bösen Lebenswandel, man erkannte die Ausbreitung des Aberglaubens, man erkannte die schlechte Gerichtsbarkeit, die Verwilderung der Sitten. Wo konnte die Ursache für diese Verderbnis sein? Man sah sie im Verlassen der alten Überlieferungen. Man wollte die Bibel in ihrer ursprünglichen .Gestalt wieder haben, frei von den vielen Fehlern, die sich im Laufe der Jahrhunderte eingeschlichen hatten. Zu einer solchen Reform war die russische Geistlichkeit nicht imstande, und so rief denn Iwans' III. Sohn und Nachfolger Wassilij III. 1518 den Athosmönch Maxim, einen sehr gelehrten Mann, zum Übersetzen griechischer Handschriften seiner Bibliothek nach Moskau. Maxim Grek 19) , (der Grieche) reformierte im besten Sinne des Worts; er brachte die Fehler aus dem Text, gab Erläuterungen, kämpfte gegen den Aberglauben, verwarf den Zeremonienglauben und suchte in jeder Hinsicht aufklärend und moralisch zu wirken. Der russischen Geistlichkeit hatte er jedoch den Text zu gründlich revidiert, und als er gar ihren Klosterbesitz einschränken wollte, wurde er von ihr dermaßen verdächtigt, dass sein Lohn die grausamste Kerkerhaft, 30 Jahre lang, wurde. Einen Triumph hat Maxim Grek aber doch gehabt — er hat davon allerdings wohl kaum etwas gehört — , als Wassilijs Sohn, Iwan IV. (1533 — 1584), der erste russische „Zar“, 1551 einen Ssobor (Konzil), zur Beilegung kirchlicher und weltlicher Differenzen zusammenberief. Die Beratungen sind im „Stoglaw" niedergelegt, und der Stoglaw brachte gewissermaßen nur in Paragraphen, was Maxim gefordert hatte.


Bald nach diesem Konzil bekam Russland auch seine erste Buchdruckerei, 1553, und 1564 erschien das erste russisch gedruckte Bach „Die Apostel". Iwans IV. große Berater waren der Erzbischof (spätere Moskauer Metropolit) Makarius 20), von dem eine ,,Legende der heiligen Märtyrer“ hinterlassen, und der Nowgoroder Geistliche Silvester, auf dessen Rechnung ein gut Teil des „Domosstroj“ zu setzen ist.

Während sich Maxim Grek und der Stoglaw mit den allgemeinen Fragen der Kirche, auch der Volkserziehung befassen, ist der „Domosstroj" 21) („Ökonom") eine Art Laienbrevier, in dem sich freilich von seinen 63 Kapiteln 15 auch mit Gott und der Kirche beschäftigen, die übrigen aber mit den häuslichen Pflichten, vor allem mit den Pflichten der Frau und der Kinder zum Hausherrn. Allerdings nicht so recht in unserm Sinn; denn der Domostroj empfiehlt dem Hausherrn für alles, was ihm an der Gattin nicht gefällt, die Peitsche. Wir dürfen mit unseren moralischen Anschauungen von heute aber auch nicht in die eigene Vergangenheit zurücksteigen, geschweige denn in die russische.

§ 12. Unter Iwan IV. macht sich deutscher Einfluss bedeutend bemerkbar. Wenn auch sein Spottname „der englische Zar“ auf seine Vorzugsliebe deutlich hinweist, so holte er doch gern Ärzte, Apotheker, Rechtsgelehrte, Kaufleute, Handwerker, vor allen Tucharbeiter und Uhrmacher aus Deutschland. Seinen Bibliothekar, seinen Hofdolmetsch, seine Diplomaten waren aus Riga und Dorpat.

Iwan IV. „der Schreckliche". Im Anfang war seine Regierung für das Land gesegnet. Nach dem livländischen Kriege änderte sich mit einem Schlage sein Charakter — er wurde der Schreckliche für seine Umgebung, für das ganze Volk, das den letzten Rest jeder Selbstachtung verlor. Aus dieser schlimmen Zeit stammt ein für ihn wie für die damaligen Sittenzustände charakteristisches Zeugnis, sein „Briefwechsel" mit dem Fürsten Kurbskij (von 1563 bis 1579). Der geschlagene Feldherr war, den Zorn seines Herrn fürchtend, nach Litauen geflohen, und nun entspann sich zwischen beiden jener Briefwechsel — 2 Briefe von Iwan, 4 von Kurbskij — , in dem dieser dem Zaren seine Selbstherrlichkeit, sein alles besser Können und Wissen, sein Hören auf Schmeichler vorhält, während der Zar immer betont, dass er herrschen wolle und nicht die andern. Bismarck und Wilhelm II. ! Iwan ist dabei ein besserer Dialektiker als Kurbskij, er verfügt über eine großartige Ironie; Kurbskij dagegen ist logischer, reifer.

Von beiden Männern haben wir noch zwei interessante Schriften: Iwans „Sendschreiben" (1578) an den Abt Kyrill vom Bjelosjerskij-Kloster (im Gouv. Nowgorod), in dem er, wieder mit beißender Ironie, das Leben der gegen ihn revoltierenden Mönche geißelt und ihnen ein strenges Gericht in Aussicht stellt — und weit wichtiger Kurbskijs „Geschichte des Reiches", wichtig weil sie zuverlässige, selbst erlebte Fakta aus dem Leben und der Regierung Iwans bringt, und dann weil sie schon so etwas von pragmatischer Geschichtsschreibung ist. Kurbskij, ein großer Verehrer Maxim Greks, war durch ihn ein sehr gebildeter und belesener Mann geworden; seine Sprache ist allerdings durch die vielen Latinismen und Polonismen verdorben 22).

§ 13. Das Interesse für den Westen steigert sich unter den folgenden Herrschern, für Frankreich, England, Schweden, Deutschland. Der Nachfolger Iwans IV., sein Sohn Feodor Joannowitsch (1584 — 1598), und dessen Nachfolger, der nach der Ermordung des wirklichen Zaren Dmitry auf den Thron gekommene Tatarenabkömmling Boriss Godunov (1598 — 1605), riefen aus Hamburg, Lübeck, Bremen Kaufleute herbei. Boriss, trotz seiner Abstammung und trotz der skrupellosen Hinmordung des Dmitrij ein ausgezeichneter Kopf und der geborene Herrscher, war eben im Begriff, in Moskau eine Universität zu gründen, und hatte schon nach Deutschland geschickt, um Professoren für sie zu gewinnen, als er vor den Truppen des falschen Demetrius flüchten musste und dabei sein Leben verlor.

Nun kommen die Romanovs und mit ihnen ein richtiger Einzug der Deutschen. Unter dem ersten Romanov, Michael (1613 — 164s), spielen besonders die Nürnberger Erzgießer und Bildbauer eine Rolle; sein Prachtthron, der die ungeheure Summe von 25.000 Talern kostete und an dem drei Jahre gearbeitet wurde, ist unter der Leitung von Jesaias Zinkgräft entstanden. Neben Künstlern kamen Handwerker, Kaufleute, Gärtner — ein österreichischer Mönch legte bei Astrachan den ersten Weinberg an — , so viele, dass Adam Ölschläger (Olearius) auf seiner Gesandtschaftsreise im Jahre 1634 in Moskau 1.000 Deutsche vorfand. Michael ließ auch deutsche Zeitungen ins Land: „die Ordentliche Postzeitung", „die neue wöchentliche Zeitung aus Breslau" usw. Noch mehr Deutsche strömen unter Michaels Sohn, Aleuej Michailowitsch (1645 — 1676), herein, so dass der Neid und die Missgunst der Russen wach werden, und die Untertanen den Herrscher, mit Hinweis auf die Religion, zwingen, die Deutschen In einem besonderen Teil Moskaus, der „Deutschen Ssloboda" wohnen zu lassen, also in einer Art Ghetto.

Mit den Handwerker-Künstlern ziehen in das Moskowiterreich nach und nach auch Wissenschaft, Literatur ein, freilich noch nicht direkt aus Deutschland, England, Frankreich, sondern auf dem Umweg über Polen.

In Polen stand die römisch-katholische Kirche in Blüte; die Jesuiten hatten dazu ihr Bestes gegeben. Sie hatten geradezu vorzügliche Schulen eingerichtet, ihr Einfluss auf die Aristokratie war bedeutend. Das wirkte stark auf das anstoßende Südrussland. Andrerseits erzeugte es Undank: man wollte nicht den römischen Katholizismus. Unter
Römisch-griechischen Kirche taten sich Gilden der Kaufleute und Handwerker, in „Brüderschaften", zusammen und gründeten Schulen, in denen Griechisch, Lateinisch, Slawisch, Polnisch, Mathematik, Poetik, Rhetorik gelehrt wurden, in Ostrog, Lwov, Wilna, dann in Kijev, Mogilev. Die Kijewer, die 1589 von der „Brüderschaft“ gegründet war, erweiterte sich später zur Akademie. So hatten Druck und Gegendruck ein und dasselbe Ziel: Bildung, und noch einmal übernimmt die führende Rolle Kijev. Die Kijewer Gelehrten werden das Ferment nicht allein für den Süden Russlands, sondern, nach der Einverleibung Kleinrusslands in das Moskauer Reich unter Alexej Michailewitsch, für das ganze Russland.

Unter der Regierung Alexej Michailowitschs 28) geht ein tiefer Drang nach Bildung durch die Gesellschaft, hervorgerufen durch die steigende Not der Kirche. Die Rasskolniki — das sind die starren Anhänger am alten Glauben — hatten sich mit unheimlicher Schnelligkeit ausgebreitet, so dass sie der Kirche als Macht gegenüberstanden. Was konnte helfen? Der Metropolit Paissij Ligarid sagt es: „Alkibiades hat auf die Frage der Athener, was zum Führen eines Krieges nötig sei, geantwortet: Gold, Gold und nochmal Gold; so sage auch ich: zur Ausrottung geistiger Krankheiten sind nötig Schulen, Schulen und nochmal Schulen. So wurden denn in Moskau Schulen gegründet, ganz nach dem Muster der Kijewer, und als ihre Lehrer kamen die Kijewer. Eine von Fedor Alexejewitsch (1676—1682), dem Sohn Alexej Michailowitschs, gegründete Schule wuchs sich bald in die „slawisch-griechisch-lateinische Akademie" aus, deren bedeutendster Lehrer der Kijewer Priestermönch Simeon Polozkij wurde.

Simeon Polozkij war auch ein hervorragender Prediger; zwei Sammlungen Predigten zeugen davon. Von ihm stammen auch mehrere Bände Gedichte: er ist der Vater des russischen Verses, d. h. des syllabischen — dieser zählt einfach die Silben — , der bis zu Lomonossov existierte, obwohl er, der polnischen Akzentuation nachgebildet, für die russische Sprache gar nicht passte. Polozkij und ebenso ein anderer Kijewer Gelehrte, der (heüige) Dmitrij Rosstowskij, waren auch die Verfasser sogen. Schuldramen, welche die Geistlichkeit wie die Regierung als Volkserziehungsmittel ansahen ; der Lehrer der Poetik an der Moskauer Akademie war verpflichtet, jedes Jahr wenigstens eine „Komödie" (= Drama) zu schreiben. Das erste Theater war schon von Alexej Michailowitsch eingerichtet worden.

§ 14. Alle diese Kijewer Gelehrten waren, wenn sie auch der Religion Polens mehr oder weniger feindlich gegenüberstanden, von polnischer Bildung durchtränkt, und Polens Einfluss zeigte sich auch sonst: Demetrius war schon polnischer Katholik gewesen; jetzt war Fedors Frau die Tochter eines polnischen Edelmanns. Polnischer Einfluss zeigte sich auch in dem, was an Literatur ins Land zu kommen begann. Eine Art Belletristik haben wir seit dem 16. Jahrhundert in Russland, Übersetzungen aus dem Polnischen, von Polen entweder aus Byzanz oder auch aus dem Westen übernommen, meist christlich moralischen Inhalts: ein Gemisch von geschichtlich Aussehendem wie „die Erzählung von Alexander“, „vom trojanischen Krieg“ worin es aber viel mehr auf phantastische Wunder wie die Gorgo, die Zentauren, die Pygmäen ankam, oder von indischen Märchen oder von anekdotischen Erzählungen aus der römischen Geschichte wie die gesta Romanorum oder von lehrreichen Fabeln wie die vom schwanzlosen Fuchs, der, aus der Not eine Tugend machend, die Schwanzlosigkeit als die größte Schönheit allen übrigen Tieren empfiehlt, oder von Geschichten wie die vom Königssohn Bowa — eigentümlich, dass dieser italienische Stoff so ganz Lieblingsmärchenstoff der Russen geworden ist — , von der schönen Magelone usw. 24).

Die ersten Ansätze russischer Erzählungen, die Zeugnis ablegen vom russischen Leben, russischen Glauben, russischen Sitten, finden sich dann im 17. Jahrhundert, z. B. die „Erzählung von Ssawa Grudzyn, wie er sich dem Teufel verschrieb und wie er dann durch die Fürsprache der Gottesmutter erlöst wurde“, und noch russischer, sozusagen, „die Geschichte vom russischen Höfling Frol Sskobejev und seiner Annuschka“.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Literaturgeschichte