Peter der Große (1689 — 1725)

§ 15. Es beginnt nicht, wie so häufig gesagt wird, erst mit Peter der Drang nach dem Westen, der Drang nach Bildung und Kultur. Man hatte, wie wir gesehen, schon vor ihm auf dem weiten Feld hier und da gepflügt und geackert. Aber wie viel Gestrüpp und wie viel Unkraut war selbst auf den bestellten Teilen geblieben! Welche Wüsten von Aberglauben, welche Berge von Unwissenheit mussten noch bei Seite geräumt werden, beim Volke wie bei den Regierenden! Die Regierenden waren die Geistlichen; an ihnen und an dem von ihnen aufgehetzten Pöbel war ein gut Teil der bisherigen Reformen gescheitert. Mit wenigen Ausnahmen wussten und wollten sie nichts anderes wissen als den byzantinischen Formelkram. Der letzte Moskauer Patriarch Adrian — also nächst Peter die höchste Person im Reich — verfluchte noch feierlich alle, die sich den Vollbart scheren und nur den Schnurrbart stehen ließen, denn „so hat Gott nicht die Menschen, sondern die Katzen und die Ungläubigen erschaffen“, und zeigte als Beweis dafür auf die russischen Bilder vom jüngsten Gericht. „Seht nur, zu des Heilands Rechten stehen alle Bärtigen, aber links die Mohammedaner, Ketzer, Lutheraner, Polen und andere ihnen ähnliche Geschorene." Sein Vorgänger Joakim hatte sich aus religiösen Gründen mit Ausländern nicht an denselben Tisch setzen wollen. Diese unwissende, abergläubische, unduldsame, fanatische Kirche war die sehr starke Mauer, die Russland vom Westen trennte. Der Protopope Awakum 25), ein Gegner der Reformen des Patriarchen Nikon, erlitt Hunger, Gefängnis, Auspeitschung, Marter, er sah mit an, dass seinetwegen Frau und Kinder lebendig verscharrt wurden, er wurde dann selber an den Feuerpfahl gebunden und lebendig verbrannt — und wofür? Weil er dabei beharrte, den Eid mit zwei Fingern und nicht mit drei zu beschwören. Und das waren die Häupter; wie sah es mit den Gliedern aus? Da herrschte neben der Unwissenheit der Branntwein. Über die Trunkenheit und den Schmutz der vornehmsten Kreise klagen deutsche, englische, französische Gesandtschaftsberichte, über ihre Rohheit, Dummheit, über ihre Filzigkeit trotz des Reichtums. Den Frauen war eine vollkommen orientalische Rolle zugefallen: sie durften sich nur in den hinteren Räumen aufhalten, zu denen der Hausherr immer den Schlüssel in der Tasche hatte. Das galt auch für die Prinzessinnen, selbst für die Zarin, die niemand sehen durfte.

Damit wollte Peter aufräumen. Die Kraft dazu besaß er. Ob er in der Wahl der Mittel immer das Richtige getroffen hat, ist etwas anderes — dazu haftete ihm selber noch allzu viel Russisches an. Er war nur ein äußerst kluger Kopf, aber kein Muster von moralischen Eigenschaften, von vornehmem Fühlen und Handeln, sondern roh, herzlos, grausam, gewalttätig. Bester Beweis sein eigener Sohn Alexej, dem nur ein zeitiger Tod die Hinrichtung durch den eigenen Vater ersparte. Peter unterschied sich in vielem nicht von Iwan dem Schrecklichen: Knuten, Spießen, Rädern, Abschneiden der Ohren, Ausreißen der Zunge, Abhauen der rechten Hand blieben noch immer an der Tagesordnung.


Peter reformierte. Es reizt zum Lächeln, wenn er für seinen Hof einen „Ehrsamen Tugendspiegel oder eine Vorschrift zum Umgang mit Menschen" (1717) 26) herausgeben ließ, worin dieser belehrt wurde, dass man sich nicht zu laut schneuzen dürfe, dass man den abgenagten Knochen nicht ins Zimmer oder wieder in die Schüssel zurückwerfen dürfe, und wenn man ihn dann selber bei jeder Gelegenheit tolltrunken sieht.

Peter war von unendlichem Wissensdurst erfüllt, und wie er davon erfüllt war, so sollte es auch sein Volk sein. Aber er dachte nur an Wissen, an praktische Wissenschaft. Die schönen Künste sah er als Spielerei an; für sie hatte er nur Zeit, sofern sie für seine Politik, für seine Machtstellung von Nutzen waren.

Lernen sollte sein Volk, Geschichte, Geographie, Mathematik, dann Rechtskunde und soziale Wissenschaften. Das musste er aber selber erst lernen, und deshalb unternahm er Reisen nach Holland, nach England, nach Deutschland — nicht nach Polen. Von jetzt ab ist Polen ausgeschaltet. An seine Stelle tritt eine Zeitlang Deutschland. Er hätte gern den größten Gelehrten jener Zeit Leibniz mit in die neugegründete Hauptstadt Petersburg genommen; er konferierte mit ihm in Karlsbad, Dresden, Pyrmont. Leibniz wollte nicht. Er wandte sich an den zweitgrößten Mann, den Philosophen Christian Wolf, auch vergeblich. Nach dem Plan dieser beiden ist jedoch später die Akademie der Wissenschaften in Petersburg angelegt worden. Es kamen aber andere, wie der später um die Erforschung der Mineralquellen des Kaukasus so verdiente Dresdner Arzt Schober, auch Juristen, Künstler, Offiziere, und wo nicht das lebende Wort wirken konnte, da halfen die Bücher. Es wurden mehrere Buchdruckereien eingerichtet: die bedeutendsten Werke von Leibniz, Grotius, Pufendorf, Lipsius, Vauban, Huygens wurden in Übersetzungen gedruckt, und zwar mit der ausdrücklichen Anweisung an die Übersetzer, nicht wort-, sondern sinngemäß zu übersetzen, auch alles Unwesentliche fortzulassen. Diese Bücher erschienen in der neuen „bürgerlichen“ Schrift, d. h. der verbesserten Kyrillischen Schrift, mehr dem Lateinischen angepasst. Daneben schuf Peter für die Kriegswissenschaft Schulen: in Moskau die Navigations-, Artillerie-, Ingenieurschulen, in Petersburg die Seeakademie. Eine Akademie der Wissenschaften in Petersburg führte er nicht mehr durch; sie wurde erst ein Jahr nach seinem Tode 1726 von Katharina I. errichtet. Schulen für das Volk, die „Zifferschulen“, wo man neben Lesen und Schreiben Ziffern, d. h. Arithmetik und Geometrie lehrte, wurden gegründet. Peter schuf die erste russische Zeitung, „die Russischen Nachrichten", im Jahre 1703 27).

Peter, der Mann der Praxis, wollte auch das materielle Wohl seines Volkes. Er holte Seeleute, Schlosser, Bergleute aus Schweden, England, Deutschland; aus Holland und Deutschland mussten Frauen kommen, um seinen Russinnen das Butterschlagen beizubringen. Eine so wichtige Einrichtung wie die Post, wo es sich um Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit handelte, übertrug er fasst ganz deutschen Händen; der westfälische Theologiestudent Ostermann, der nachher bis zum Reichskanzlerposten aufstieg, um desto tiefer zu fallen — Elisabet Petrowna ließ ihn vom Bett aus und im Schlafrock direkt aufs Schaffott schleppen und verwandelte dann gnädigst seine Strafe in ewige Verbannung nach Sibirien; Peter III. holte ihn erst zurück — verdiente sich hier die ersten Sporen.

Die Deutschen wurden durch Peter eine Macht. Die „deutsche Vorstadt" in Moskau, ihr Ghetto, wurde gesprengt; in dem neu gegründeten Petersburg legte er ihnen zu Ehren in der schönsten und vornehmsten Gegend, da wo heute das Winterpalais steht, die „deutsche Straße" an. Natürlich gefiel das den eingefleischten Russen nicht, besonders da unter den Deutschen auch viele Abenteurer und Betrüger waren, und ihr Hass richtete sich gegen die Deutschen und gegen Peter. Man murrte über manches, auch darüber, dass er in „deutschem Habit", d. h. in Hosen ging — die Kleidung der Altrussen ähnelt stark der Frauenkleidung — , dass seine Geliebte Anna Mons aus der „deutschen Ssloboda" stammte, dass Katharina, das Mädchen des Probstes von Marienburg, gar seine Gemahlin wurde. Sein Sohn und Thronfolger Alexej wollte, obwohl oder vielleicht weil er von einem Deutschen erzogen war, alle Ausländer ermorden lassen.

Leicht war also die Stellung Peters nicht, aber dank seiner Klugheit und dank seiner Rohheit erreichte er sein Ziel. Er fand zum Glück auch ein paar Russen, die imstande waren, ihn in seinem Kampf zu unterstützen. Das war der äußerst gelehrte und geistreiche, aber ränkevolle und grausame Erzbischof von Nowgorod, Theofan Prokopowitsch. Er hat für die Übersetzung der oben erwähnten Bücher Außerordentliches geleistet; ebenso verdienstvoll ist sein „Reglement für die Geistlichkeit“ (1720), in dem er in Peters Sinn der Geistlichkeit eine höhere, gebildete Auffassung von ihrem Beruf geben wollte. Ein anderer bedeutender Geistlicher, der Rjäsaner Metropolit Jaworskij, wurde leider aus einem Freunde ein Feind Peters, weil er sich nicht ganz vom Alten lossagen wollte. Die Grafen Scheremetjev und Tolstoj mussten große Reisen unternehmen und ihre Erfahrungen zum Nutzen des Staates niederlegen. Peter schätzte die realen, nicht die „schönen“ Künste, wie schon hervorgehoben wurde. Wenn er sich trotzdem für das Theater interessierte, so hatte das einen realen Hintergrund (s. S. 16).

Natürlich haben Peters Reformen 28) manches Missliche, manche Schattenseite im Gefolge gehabt. Es trat durch sie eine größere Entfremdung zwischen vornehm und gering ein, die bis dahin alle gleich (stumpfsinnig) gelebt und gedacht. Das Volk war in der Landesversammlung mit an der Regierung beteiligt gewesen; durch die von Peter geschaffenen „Kollegien“ (Ministerien) war es ausgeschaltet. Die Kirche hatte ein Haupt gehabt; jetzt hatte es im „Synod“ ein vielköpfiges, und noch schlimmer, da dieser vom Zaren allein eingesetzt wurde, ein diesem ganz und gar gefügiges Werkzeug. Dass sich dagegen Stimmen erhoben, sogar von Leuten, die es ehrlich meinten und die, wenn auch untergeordneten Standes und untergeordneter Bildung, doch klar und scharf die ganze Sachlage überschauten, zeigen u. a. die vor nicht langer Zeit gefundenen Schriften des Bauern Possoschkov, der natürlich sofort unschädlich gemacht wurde.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Literaturgeschichte
Zar Peter der Grosse

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Das heutige Russland

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