Die Anfänge des russischen Theaters und des russischen Dramas

§ 161 Das russische Drama begann, wie in Westeuropa, mit den Mysterien, die dann in die Moralitäten 29) übergingen. Jedoch fallen sie 400 bis 500 Jahre später, treten also erst im i6. Jahrhundert auf. Diese ersten Dramen, „die Handlungen vom feurigen Ofen“ (die Legende der drei Jünglinge im feurigen Ofen) und „vom Einzug des Heilands in Jerusalem“ sind verloren gegangen.

Das 17. Jahrhundert brachte mehr, und zwar knüpft nun das russische Drama an das deutsche an, wie. denn die Deutschen dem ganzen russischen Theater das Leben eingehaucht haben.


Unter Alexej Michailowitsch spielten die Deutschen, wie gesagt, in Moskau eine große Rolle, und diese hatten in ihrer Heimat Geschmack an Hans Sachs, Jakob Ayrer, auch an Molière gefunden. Davon hörte Alexej, und seine Neugier wurde rege; sie wurde noch gesteigert durch den bei ihm im höchsten Ansehen stehenden Simeon Polozkij (s. S. 13), der ihn leicht überzeugte, dass „nichts Sündhaftes noch Gesetzwidriges an der Aufführung eines geistlichen Dramas sei“. Polozkij brachte von Kijev die Mysterien „Adam und Eva“, „Joseph“ (seine Begegnung mit Potiphars Weib), „den heiligen Alexius“ (es handelt sich um seine Keuschheit) mit. Er selber dichtete „die Komödie vom verlorenen Sohn in 6 Akten“ (Komödie = Bühnenaufführung) und „die Komödie vom Zaren Nebukadnezar mit einem Prolog“.

Alle diese Dramen — Schuldramen 30), weil sie vornehmlich in den Klosterschulen gespielt wurden — stammen aus Polen, und nach Polen waren sie von Deutschland gekommen, stand doch Polen eine ganze Zeit stark unter deutschem Einfluss; der Hass gegen König Siegmund III. wurzelte ja hauptsächlich darin, dass er bei Hofe schonungslos deutsche Sitten einführte.

Zar Alexej war von allem dem so begeistert, dass er gern aus Deutschland die sehr bekannte Walthersche Truppe gehabt hätte. Als diese aber trotz ihrer Zusage nicht kam, beauftragte er „drei Tage nach der Geburt seines Sohnes Peter" (1672) den deutschen Pastor an der Moskauer Luthergemeinde Joachim Gottfried Gregori eine Truppe zu werben und ein Komödienhaus im Dorfe Prjeobrashenskoje bei Moskau zu bauen. Gregori führte beides aus. Die Truppe bestand aus 64 Personen, lauter Deutschen, und man spielte nun die dem Zaren schon bekannten „Komödien" von „Adam und Eva", von „Joseph", brachte aber auch neue heraus wie „die Wanderschaft und die Ehe des jungen Tobias", „Judith" (wie sie Holofernes das Haupt abhieb) und auch rein weltliche Stücke: „Bajazet und Tamerlan", ein „Artaxerxes-Drama", also Hans Sachs' und Jakob Ayrers beliebteste Stücke. In „Bajazet und Tamerlan" liegt schon eine Komödie in unserm Sinne vor, sie bringt den holländischen Pickelhering und den deutschen Tölpel.

Als der Schöpfer des russischen Originaldramas wird der (heilige) Dmitrij Rosstowskij angesehen. Seine Stücke „die Geburt Christi", „die Auferstehung Christi", „Esther und Ahasver" sind Moralitäten mit den allegorischen Personen der Liebe, des Hasses, der Hoffnung usw. Sie haben Interludia oder Intermedia, d. h. Einschiebsel zwischen den einzelnen Akten, durch welche die Haupthandlung unterbrochen wird und welche zum Teil komische Szenen aus dem täglichen Leben, Volksgesänge und derlei bringen. Ist Rosstowskij wirklich Original? Seine „Esther" hat viele Anklänge an Hans Sachs. Und in seinem verlorenen Stück „Der reuige Sünder" oder „Wie der Mensch seinen Fall büßt" ist nicht nur der zweite Titel direkt von Leonhard Culman von Crailsheims Hauptwerk „Ein Christenlich Teutsch Spiel, wie ein Sünder zur Buß betört wird“, sondern auch manche Einzelheit entnommen.

Alexejs Nachfolger, Feodor Alexejewitsch, hatte wenig Wohlwollen für die Deutschen, folglich auch keines für ihr Theater. Für das Theater interessierte sich dagegen seine Schwester Sophie, sogar für Molières „Médecin malgré lui". Aber die politischen Wirren ließen ihr wenig Zeit dazu. Ihr Stiefbruder Peter, der Westling, der Deutschenfreund, folgte.

Für Peter war die Bühne kein Vergnügungsort, nur Volkserziehungsanstalt. Er schuf daher ein großes öffentliches Volkstheater; die beste Stelle im Mittelpunkt Moskaus, den „Roten Platz", wählte er dazu. Er sandte den Leutnant (nach andern den Schauspieler) Iwan Ssplawskij nach Danzig — von allem, was Gregori vor 35 Jahren geschaffen hatte, war keine Spur geblieben — und dieser brachte den Leiter einer gut bekannten Wandertruppe Johann Kunst mit. Kunst kam 1702 mit der für die Beurteilung russischer Verhältnisse bezeichnenden Vertragsklausel, dass „er mit seinen Leuten allemal wieder frei, sicher und ungehindert zurückreisen könne". Charakteristisch für den Leutnant Ssplawskij ist, dass er vergessen hatte Kunst zu sagen, die Stücke müssten in russischer Sprache aufgeführt werden. Nun kam die erste Vorstellung, die meisten Mitglieder konnten nur Deutsch, und Peter verlangte unbedingt russisch. Was jetzt? Sie sagten ihre Rollen in der ihnen unverständlichen Sprache her. Was Kunst nun brachte? Was in der Heimat Mode war. In Deutschland galten noch Hans Sachs und Ayrer, aber auch Gryphius und Lohenstein; daneben die Franzosen, die Italiener, die Spanier. So spielte Kunst Gryphius' „Papinian der große Gelehrte", Lohensteins „Sophonisbe", auch „Alexander von Mazedonien", „Genoveva, die Gräfin von Trier", „Julius Cäsar", von den Franzosen Molières, „Le médecin malgré lui", Thomas Corneilles „Jodelet ou le geôlier de soi-même", von den Italienern „Il tradimento per l’honore". Kunst musste auch eine Theaterschule einrichten, sie setzte sich aus russischen Kleinbeamten zusammen. Peter scheute keine Kosten.

Peter wollte seine Russen erziehen. Das geschah offenbar durch die angeführten Vorstellungen; es genügte ihm nicht. Er hatte Höheres im Auge: er wollte das Interesse des Volks für sich und für den Staat, was diesmal gleichbedeutend war, wecken und stärken. Deshalb gab er Kunst „den Befehl, eine Komödie über den Sieg und die Übergabe der Festung Oreschk an den mächtigen Herrscher (das heißt an ihn) zu schreiben". Ein anderes Stück zum Ruhme Peters war „Der herrliche Triumph des Befreiers von Livland und die Vereinigung Ingermannlands mit Russland"; ferner „Die göttliche Vernichtung der stolzen Vernichter", worin der Sieg über die Schweden und der Verrat und die Flucht Maseppas behandelt wurden. In diese historischen Stücke zu seinem und des Vaterlands Ruhm ließ der kluge Praktiker Interludia bringen, welche Alltäglichkeiten des Lebens, aber sehr wichtige, behandelten, die Bestechlichkeit, die Trunksucht und andere Volkslaster.

Kunst besorgte das alles, starb jedoch schon nach einem Jahr. Sein Nachfolger war ein früherer Goldarbeiter Fürst, ein guter Leiter. Er hielt sich vollkommen in dem Repertoire von Kunst. Fürsts Tätigkeit lässt sich bis 1715 verfolgen — dann verschwinden auf einige Zeit alle Notizen.

Wir hören erst wieder 1725 von einer deutschen Truppe. Da kommen nun aber die mit Peters Tode einsetzenden Wirren, und für Theater scheint man wenig Interesse zu haben. Es spielt Johann Hinrich Mann mit seiner Truppe; Staatsaktionen und Hanswurstiaden waren ihr Feld. Mann hat mit letzteren offenbar beim Publikum Anklang gefunden, auch beim Hofe; als er an einem 1. April zu einer besonders glänzenden Vorstellung eingeladen hatte und nun der Vorhang aufgezogen wurde, prangte da in mächtigen Lettern „der 1. April", und Hof und Publikum gingen vergnügt nach Hause. Auf die Dauer war es jedoch mit solchen Scherzen wohl nicht getan. Jedenfalls wir hören nicht wieder von ihm.

Unter Anna Iwanowna wurde das Theater wieder lebendig. Italienische Sänger treten in den Vordergrund. Anna liebte Musik und vor allem die derben Zoten. Freilich konnte sie nicht italienisch, und so mussten ihr denn die italienischen Intermezzi von ihren Akademieprofessoren ins Russische übertragen werden, eine würdige Arbeit der würdigen Herren. Trotz ihrer Vorliebe für die Italiener waren die Deutschen aber keineswegs geächtet; sie ließ sogar 1740 die Neuber kommen.

Dass mit der Neuberin eine Wandlung auch im russischen Theaterleben vor sich ging, ist klar. Gottsched trat in die Erscheinung. Ob er in den Vordergrund trat, ist etwas anderes, und ob Anna selber davon viel gemerkt hat, ist kaum anzunehmen. Sie wollte, wenn es nun einmal die kitzelnden italienischen Zoten nicht waren, auf jeden Fall Lustiges. So pflegte denn die Neuber die Komödie. Aber wir erfahren von Gottsched selber — die russischen Quellen versagen — , dass sein „Donato" in „Danzig, Königsberg, Riga, Petersburg viel Beifall gegeben worden ist".

Er verstarb noch im selben Jahr 7740, und 1741 kam die Deutschen- und Preußenhasserin Elisabeth Petrowna auf den Thron. Die meisten Deutschen fliehen. Die Italiener und die Franzosen triumphierten. Das Theater vegetierte nur noch in Moskau.

Trotz allem tauchte aber schon 1745 in Petersburg wieder der Wunsch nach einem deutschen Theater auf. Es wurde jedoch eine höchst unglückliche Wahl getroffen; man holte sich Peter Hilferding, oder wie er sich in seiner Bude auf dem Dönhoffsplatz in Berlin genannt hatte, Pantalon de Bisognosi, und er machte sich bald durch seine Harlekinaden genau so unmöglich wie er in Berlin unmöglich geworden war, als die Schönemannsche Truppe auftauchte. Nach Hilferdings Verschwinden kamen Ackermann und Sophie Schröder, beide aus der Schönemannschen Truppe hervorgegangen, aber weiter entwickelt. Während die Schönemannsche Truppe noch den Übergang vom Alten zum Neuen bildete, d. h. sowohl die alte Burleske wie das neue Gottscheddrama kultivierte, war die Ackermannsche die reine Verkünderin und Verfechterin von Gottscheds Theorien. Sie brachte nach Petersburg Corneille, Racine, Molière, auch Voltaire, dann Holberg, Sheridan und von ihren Landsleuten Gottsched, Gellert und den jungen Lessing, der ja zunächst noch Gottschedianer war. Die Truppe erwarb sich sehr großes Ansehen, so dass Elisabeth in Bezug auf die Bühne ihren Deutschenhass ließ; sie war so begeistert, dass sie Ackermann und Frau Schröder in der lutherischen Kirche zu Moskau trauen ließ. Und an Lessing erging der Ruf, eine Professur für deutsche Sprache und Beredsamkeit an der Moskauer Universität anzunehmen; er führte das erst Gewollte nicht aus.

Die fünf Jahre, welche die Ackermannsche Truppe in Russland war, sind für das russische Theater von weittragendster Bedeutung gewesen. Sie haben die Russen zur Reife geführt. Von nun an gibt es ein russisches Theater mit russischen Dichtern; das deutsche Theater verschwindet, aber aus seinem Schoße ist das russische geboren.

Wolkov (1729 — 1763) und Ssumarokov (1718 — 1777) sind die Väter des russischen Theaters, beide in der deutschen Truppe herangebildet, Wolkov der Freund Ackermanns. Wolkov führte den Gedanken Peters durch: er gründete sein Theater für das Volk, während bis jetzt eigentlich nur der Hof daran teilgenommen hatte; zugleich war er ein ausgezeichneter Schauspieler. Ssumarokov wurde sein Dichter. Was Wolkov gab und spielte, was Ssumarokov schrieb, war natürlich französischer Pseudoklassizismus , wie er sie durch die Deutschen gelehrt war. Ssumarokovs Tragödien — die erste „Chorjev", 1747 verfasst und 1749 zum ersten mal in Gegenwart der Kaiserin Elisabeth im Kadettenkorps, dessen Zögling er war, aufgeführt; andere sind „Semira“, „Der Pseudodemetrius" — und Komödien, die ersteren streng nach Gottsched im gereimten Alexandriner, die letzteren in Prosa, werden heute nicht einmal mehr gelesen, sie begeisterten aber seine Zeitgenossen. Man hat, so wenig Gefallen man an seinem aufgeblasenen Wesen fand, seine dichterische Fähigkeit hochgeschätzt, so dass man ihn den „russischen Racine“ nannte. Ssumarokovs Dramen wollen russisch sein, sie wollen uns die ältesten Phasen der russischen Geschichte vorführen; aber alles ist französische Aufmachung, russisch ist eigentlich nur der Titel. Seine Tendenz , die Tendenz des französischen Pseudoklassizismus , ist für lange Zeit maßgebend für Russland geblieben; ehe Shakespeare in Wirklichkeit eindrang, vergingen noch mehrere Jahrzehnte; der von Ssumarokov bearbeitete „Hamlet“ (1748) 81) hat von Shakespeare nur sehr wenig, er ist ganz nach französischem Vorbild aufgebaut.

Ssumarokov ist der erste Russe gewesen, der russische Geschichte dramatisiert hat — Peters dramatisierte Geschichte war ja deutsches Produkt — , und doch nicht ganz der erste. Schon 1705 hatte Theofan Prokopowitsch ein Stück „Wladimir" geschrieben; sein „Wladimir" ist der richtige Wladimir der Große. Aber dies Drama ist ganz im Stil des alten Schuldramas mit Interludia usw.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Literaturgeschichte