Der russische Roman. — Die Karamsinisten

§ 28. Karamsins „Lisa" war der erste russische Roman, in dem Sinne wie wir in Deutschland in Wieland den ersten Romanschriftsteller haben. Abenteuererzählungen, Märchengeschichten und derlei gibt es natürlich viel früher. Man wird aber auch ihnen etwas Aufmerksamkeit entgegenbringen müssen, bieten sie uns doch oft ein Bild der Zustände wie der Denkweise jener Zeiten. Darin liegt eben die große Bedeutung des Romans, die er besser erfüllen kann als die übrigen Zweige der Literatur, und deshalb verdient er in unseren Literaturgeschichten eigentlich mehr Raum und Pflege als ihm gewöhnlich zugestanden wird.

Spuren von Romanen 51) hat schon das 16. Jahrhundert. Die Legendenerzählungen reichen noch weiter zurück, wie sie andrerseits sich auch noch lange über das 16. Jahrhundert hinaus nicht bloß erhalten haben, sondern herrschend geblieben sind. Neben den geistlichen Stoffen finden sich Sagen- und Märchengeschichten, gern mit erotischem Einschlag: „Das Buch von der Melusine", „Die schöne Magelone und ihr treuer Ritter"; dann aus den chansons de geste Iweins Abenteuer, aber den Weg über Deutschland verratend, mit dem Titel: „Der braunschweigische Königssohn mit seinem Löwen". Alle diese Romane kommen durch Vermittlung Polens, bezog doch Russland damals seine ganze Wissenschaft aus Polen.


Mit derlei Lektüre begnügte sich das selbstverständlich kleine Lesepublikum während des 16. und des 17. Jahrhunderts bis zu Peters Zeit. Jetzt erweiterte sich der Lese- und Leserkreis. Wir kennen die Namen von 100 Romanen, die, immer handschriftlich, ein größeres Publikum anzogen. Mit dem Druck wird die Zahl noch größer: „Die Geschichte von der Eroberung Trojas", „Die Eroberung Jerusalems", Geschichten von Alexander dem Großen, Reisebeschreibungen, Übersetzungen von Äsops Fabeln, von Ovids Metamorphosen, von Fénelon, Lesage, Voltaire.

Nach diesen die Deutschen: Gellerts „Schwedische Gräfin" (1766) und die beißenden Satiren des damals neben Gellert populärsten Schriftstellers Deutschlands, des Humoristen Rabener: „Lebenslauf eines Wahrheitsmärtyrers", „Lobschrift auf Amouretten, ein Schoßhündchen", „Auszug aus der Chronik des Dörfleins Querlequitsch". Ferner werden übersetzt die bis in Goethes Jugendzeit hinein vom Publikum verschlungene „Banise" von Anshelm von Ziegler, und aus der „Bibliothek deutscher Romane" (1780) die alten Stoffe vom Schwarzkünstler Faust, von den lustigen und drolligen Lalenburgern, von Eulenspiegel, von Robinson, von Tausend und eine Nacht usw.

In den siebziger und achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts kommt dann Gehaltvolleres, von Geßner, Haller, Wieland. Des letzteren „Glicerion" („Menander und Glycerion"), sein „Oberon", sein „Agathon", die von ihm herausgegebene „Geschichte des Fräuleins von Sternheim" von Sophie von Laroche wurden verschlungen. Natürlich wird auch Voltaire gelesen. Es ist mittlerweile eine Flut von fremden Romanen über Russland hereingebrochen.

Dass da auch die Russen erwachten und ihr Können zeigen wollten, kann nicht wundernehmen. Komarov schrieb 1775 seine „Umständliche und wahrhaftige Geschichte von dem berühmten Dieb und Gauner Wanka Kain", einem Cartouche, und das Publikum war hypnotisiert von so viel Grausigschönem. Er schürfte weiter in recht realistischer Weise in den Tiefen der Menschheit mit seinem „Unglücklichen Nikanor". Auf ähnlichem Boden bewegte sich Emins „Abenteuer Miramonds". Auch Chjerasskovs politische Erziehungsromane müssen wohl erwähnt werden, sein „Numa" (1768) tritt für die Monarchie ein und sein „Polidor" (1794) eifert gegen die Revolutionsfranzosen.

§ 29. 1781 erschienen „Die Leiden des jungen Werther". Karamsin war noch ein Knabe. Auch später, als er in Weimar war und mehrfach Herder und Wieland besuchte und mit ihnen lange Gespräche führte, hören wir von seinem Interesse für Goethe kaum ein Wörtchen. Er wollte ihm allerdings auch einen Besuch abstatten; als er aber erfährt, dass Goethe eben nach Jena abgefahren ist, kein Wort des Bedauerns. Woher das kommt? Er hatte von Goethe fast nichts gehört. Und woher das kommt? Wahrscheinlich hatte sich sein Freund Lenz, der ihm wohl viel über die anderen deutschen Geistesgrößen berichtet und ihn für sie begeistert hatte, in Erinnerung an die Sesenheimer und Weimarer Blamagen über ihn ausgeschwiegen. Dies Versäumnis hat nun Karamsin gründlich nachgeholt.

Goethes „Werther" hat in Russland sehr großes Aufsehen erregt. Es haben auch Rousseaus „Héloise" und Richardsons „Pamela" ähnlich gewirkt; aber beide Werke haben nur zwei Auflagen, „Werther“ dagegen von 1781 — 1798 vier gehabt.

Nachdem Karamsin den „Werther“ gelesen, wurde er Feuer und Flamme für den Dichter — er ist wohl einer der ersten gewesen, die das literarische Band zwischen ihm und Rousseaus „Neuer Héoise" erkannten — und zollte ihm nun seinen Tribut durch zwei ganz in diesem Geleise laufende Romane.

Karamsins „Arme Lisa" (1793) ist auf „Werther" aufgebaut Die ganze Stimmung des Romans und die Lösung des Konflikts sind Wertherisch. Die Lösung, dass Lisa sich ertränkt , also Selbstmord übt wie Werther, war vollkommen neu im russischen Roman; bis dahin hatten alle mit versöhnlichem Ausgang geschlossen. Die „Arme Lisa" ist als Spiegel und als Gradmesser der russischen Seelen- und Gedankenstimmung jener Zeit außerordentlich wertvoll. Sie hat volle 25 Jahre, bis Shukowskijs „Ljudmila" erschien, die literarische Welt beherrscht. Sie ist der erste russische „Seelenroman"; mit ihr beginnt überhaupt die Zeitrechnung eines selbständigen Romans für Russland. Goethes „Werther" ist ja der empfindsamste aller empfindsamen Romane — hübsch sagt Frau von Stael, er habe mehr Selbstmorde hervorgerufen als die schönste Frau der Welt — , aber er hat zugleich etwas, das ihn über die Empfindsamkeit hinaushebt: er ist voll von gesundem, kraftstrotzendem Leben, und das fehlt der „Armen Lisa"; sie ist nur empfindsam.

Ebenso sind in Karamsins Roman „Natalie, die Bojarentochter" und in dem unvollendeten „Liodor" die Helden Wertherische Gestalten durch ihre Sentimentalität, ihre Neigung zur Melancholie, durch ihre Liebe zur Natur. Auch Ossian spielt hier hinein wie in „Werther".

Karamsin hat sich auch im historischen Roman versucht. Seine „Marfa Possadniza" 52) feiert die kühne Verteidigerin von Nowgorods republikanischer Freiheit gegen einen Wojewoden Iwans. Hierin steht er unter dem Einfluss Scotts.

„Werther" hat eine Flut von Nacharbeitungen in Russland hervorgerufen. An Wert steht den Karamsinschen am nächsten die schon vor „Lisa" geschriebene „Rosa, eine halbwahre und originelle Geschichte" von Nikolaus Emin. Nicht allein die tragische Lösung — der Held zerreißt die Binden, die ihm, dem im Duell schwer Verwundeten, umgelegt sind, und verblutet — sondern der ganze Seelenzustand nach dem Duell, das Erwarten des Todes, selbst der Stil seiner Briefe vom Sterbelager aus erinnern an Werther.

Erwähnenswert sind andere Wertherromane: desselben Emins „Spiel des Schicksals" (1789), Kluschins an Karamsins „Liodor" erinnernde ,,Der unglückliche M." (1793), Paul Lwovs an Karamsin und an Emin sich anlehnende „Sofie" (1794), und von unbekannten Verfassern „Die arma Mascha", „Die unglückliche Margarethe“, „Die verführte Henriette" usw. Die Wertherischen „schönen Seelen" leben noch bei Shukowskij, Odojewskij, Akssakov.

Das ist die eine Seite des „Sturms", wie sie also durch Karamsin in Russland eingeführt wurde, die empfindsame; die andere, die revolutionäre, konnte sich schon wegen der politischen Verhältnisse nicht entwickeln. Die diese Seite charakterisierenden deutschen Werke sind denn auch erst später unter das Publikum gekommen: Schillers „Fiesko" 1803, „Kabale und Liebe" 1806, „Die Räuber" 1809.

§ 30. Karamsin hat viele Nachahmer gefunden, auch im Stil und in der Gedankenrichtung. Man kann beinahe sagen, alle mehr oder weniger hervorragenden Schriftsteller zur Zeit Alexanders I. waren „Karamsinisten". Dahin gehört vor allem der schon genannte (S 25) Fabeldichter J. J. Dmitrijev (1760 — 1837). Sein Verdienst fasste die Kritik dahin zusammen: „Karamsin ist ein Muster, wie man in Prosa schreibt, Dmitrijev, wie in Versen". Er verfügt über einen leichten, ungezwungenen, gefälligen Vers. Und innerlich schließt er sich an Karamsin an, indem er seinen Fabeln, Märchen, trotzdem sie sich an Lafontaine, Voltaire anlehnen, einen sentimentalen Zug beimischt. Einige seiner Fabeln wie „der Hahn", „die Katze und das Mäuschen", „der Blinde und der Lahme" werden noch heute von den Kindern gelernt.

§ 31. Natürlich hatte Karamsin auch Gegner. Vor allem lag der Pseudoklassizismus noch nicht am Boden, siehe Osjerov. Dann wollten andere wieder einen Mittelweg zwischen Lomonossov und Karamsin, siehe Gnjeditsch, und andern ging er wieder nicht weit genug, indem sie das rein Volkstümliche vermissten, siehe Krylov.

Der Pseudoklassizismus lebte noch, besonders im Drama, worin ja Karamsin nichts geschaffen hatte. Es hatten sich in die Zeit Alexanders I. Knjashnins, selbst Ssumarokovs Stücke hineingerettet. Dass sich bei ihnen nicht jeder mehr wohl fühlte, hatte schon ein Stück wie Ablessimovs komische Oper „Der Müller und der Zauberer" (1779) gezeigt, die mit ihren wirklich nationalen Anklängen in den Herzen der Zuhörer so wiederhallte, dass sie — man denke an die damalige Zeit ! — siebenundzwanzigmal hintereinander bei ausverkauftem Hause gegeben wurde.

Sehr scharfe Konkurrenz machte dem alten Drama eine ganz neue Gattung, das sogenannte „bürgerliche Drama". Worin bestand nun das russische „bürgerliche" Drama? Aus den Übersetzungen von Kotzebues Stücken. Sie waren so in Mode, dass man von einer Kotzebuemanie sprach. Selbst Männer wie Djershawin und Karamsin trugen dem Rechnung. Djershawin hat seid Drama „Atabolibo oder die Zerstörung des Peruanischen Reiches" (1808) nach den ,,Spaniern in Peru" geschrieben, und eine der ersten Nummern des „Moskauer Journals" hatte Karamsins dramatische Skizze „Sophie" gebracht, nach Kotzebues und Reue" gearbeitet. Kotzebues „Falsche Scham" und andere Stücke sind auch noch später viel aufgeführt worden 49). So treten denn Knjashnin und Ssumarokov immer mehr zurück, bis sie durch Osjerov ganz beiseite geschoben werden.

Osjerov (1770 — 1816) ist aber, wenn auch der letzte und nicht mehr so starre, Vertreter des Pseudoklassizismus. Er geht in französischen Spuren, selbst da, wo der Stoff ihn nach entgegengesetzter Richtung führen will. Drei seiner Tragödien sind oft über die Bühne gegangen. Sein „Ödipus in Athen" ist ganz nach dem „Ödipus" des Franzosen Ducis gearbeitet; ganze Szenen sind einfach aus ihm entnommen. Und doch hat er ein Verdienst: seine Verse sind klang- und kraftvoll, und das Ganze schmeckt etwas nach Karamsinscher Empfindsamkeit. Ganz auf Karamsin weisen Titel und Stoff seiner Tragödie „Fingal". Sie führt uns nach Schottland, zu Ossian, zum Kampfe Fingals, und Grund des Kampfes ist „empfindsame" Liebe; aber trotzdem ist sie pseudo klassisch, genau wie sein „Dmitrij Donskoj" (1807), obwohl er ein Stück russischer Geschichte bringt — den Kampf Dmitrijs am Don auf dem Felde von Kulikowo über die Horde im Jahre 1380 — , weil beide Stücke nichts von dem Geist jener Zeiten und jener Situationen ahnen lassen, weil sie diesen so fern stehen, wie Corneilles und Racines Stücke dem griechischen und dem römischen Altertum. Der sehr große Erfolg des letzten, eigentlich schlechtesten Stückes, beruht auf den von patriotischer Begeisterung getragenen Versen. Es wurde zur Zeit der Napoleonischen Kriege gespielt, und das Publikum sah in dem Sieger Dmitrij seinen Kaiser Alexander und in dem Besiegten Mamaj den Franzosenkaiser.

Dass sich Gnjeditsch (1784 — 1833) nicht ganz für die Wirklichkeitssprache Karamsins entschied, erklärt sich durch sein Lebenswerk, die Übersetzung der „Ilias". Er war, wie die jetzt erwachende russische Gelehrtenwelt, ein Gegner des Pseudoklassizismus; man sah hier, wie vordem in Deutschland, ein, welche Fehler die Franzosen mit der Lehre des Aristoteles über die drei Einheiten begangen hatten. Um diese Mängel gründlich zu beseitigen, wollte man genau die Quellen kennen lernen, und so ergibt sich jetzt ein wahrer Drang, eine wahre Begeisterung für Homer, Vergil, Äschylus, Sophokles, Aristophanes, Pindar, Horaz. Von dieser Begeisterung wurde Gnjeditsch erfasst. Er übersetzte zuerst einen Teil der Ilias in den Alexandriner, warf ihn aber beiseite und nahm . . . Hexameter. Die 20jährige Arbeit ist ihm im großen und ganzen gelungen; er hat den Charakter, den Ton der Vorlage gut wieder gegeben; die russische Sprache dem griechischen Geiste und zugleich der Würde des Originals anzupassen wurde ihm sehr schwer — . . . sich deshalb für eine Zwischenstufe zwischen Karamsin und . . . .

Diese Sprache hat er jedoch nur für diesen einen Fall gebraucht. Seine Sprache in der Übersetzung von Schillers „Fiesko" ist die Karamsins.

Krylov (1768 — 1844) ging die Reform nicht weit genug. Obwohl seine Fabeln 58) zum Teil auf Lafontaine aufgebaut sind, will er fort von den Franzosen, fort von aller Nachahmung, will er zum rein Volkstümlichen. Sein Feld ist die Satire, die er in verschiedene Formen gießt, zuerst in Zeitungsartikel, dann in Komödien, schließlich in die Fabeln, die seinen Ruf durch die Welt getragen haben. Er hat drei Zeitschriften herausgegeben: „die Geisterpost" (1789), „den Beobachter“ (1792), den „St. Petersburger Merkur" (1793). Die Tendenz aller drei satirischen Zeitschriften ist erzieherisch; er will mehr Charakterbildung und damit eine höhere moralische Entwicklung. Dasselbe wollen seine Komödien „Der Modeladen", „Die Lektion für Töchter", die sich gegen die Sucht des Französelns, besonders gegen diese Untugend der weiblichen Jugend richten. Dieselbe Charaktererziehung üben nun auch seine „Fabeln" (1808), die noch heute ein sehr beliebtes Volksbuch sind. Was seine Fabeln über alle vorhergehenden hebt, ist das Neue, dass unter der allegorischen Hülle nicht ein Allgemeinwesen auftritt, sondern ein spezifischer Russe, mit seinem russischen Charakter, seiner russischen Denk- und Gefühlsweise, seinen russischen Sitten und Gebräuchen, ja, mit einer andern Sprache als man sie vorher gekannt hatte, mit der urwüchsigen Sprache des Volks, in seinem Jargon. Daher sind Krylovs Fabeln, wenn ihr Thema noch so sehr Lafontaine oder Gellert ähnelt (,,der Esel und die Nachtigall", „der Lügner", „der Wolf und die Schafe", ,,der Wanderer und die Hunde"), doch die seinigen, weil so nicht Deutsche oder Franzosen auftreten, urteilen, reden, sondern nur Russen. Bedeutend sind seine historischen Fabeln, die auf die böse Napoleonische Zeit Bezug haben, sein „Wolf im Zwinger" (Napoleon nach der Niederlage bei Borodino), ,,die Krähe und das Huhn" (die Krähe frohlockt über das Huhn, weil sie keine Angst vor dem Suppentopf zu haben brauche; sie fällt aber beim Moskauer Brand doch in diesen).

Krylovs Fabeln sind wegen dieser ihrer Betonung des Nationalrussischen schon die Vorboten einer andern Zeit; sie läuten die ,,neue Poesie" ein.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Literaturgeschichte