Österreich - Ungarn

Wenige Wochen vor dem Gasteiner Abkommen hatten sich in Österreich Dinge verbreitet, die auf das Verhalten dieses Staates in den deutschen Fragen zwar nur mittelbar von Einfluss waren, die aber schon um der Rolle willen, die sie in der Geschichte des Konstitutionalismus spielen werden, ein Interesse in Anspruch nehmen, das beinahe alle übrigen zeitgenössischen Ereignisse weit hinter sich lässt. Die Macht der realen Verhältnisse und eines geschichtlich gewordenen Zustandes erfocht einzig durch ihre innere Kraft und ohne jede Anwendung äußerer Mittel einen Sieg über die Doktrin, der um so denkwürdiger war, als er sich nicht gegen überlebte Formen, sondern gegen die durch die Zeitströmung unterstützte konstitutionelle Schablone richtete und die Suspension einer Verfassung nach sich zog, mit deren Durchführung es den Regierenden wirklich Ernst gewesen war.

Schon beim Beginn des Jahres 1865 war die Lage des Ministeriums Schmerling, das als Schöpferin der Verfassung vom Februar 1862 einst so hoffnungsvoll begrüßt worden war, eine außerordentlich schwierige geworden. Während die Herren v. Schmerling und Plener schon mit der liberalen deutschen Opposition im Abgeordnetenhause des Reichsrats einen außerordentlich schwierigen Stand hatten und die Kluft zwischen dem Ministerium und der Partei, aus welcher dasselbe hervorgegangen war, immer drohender wurde, verloren die bis dazu so zuversichtlich ausgesprochenen Hoffnungen des Staatsministers auf einen Ausgleich mit Ungarn von Tag zu Tag an Aussicht auf Verwirklichung. Der Eintritt sieben-bürgischer Abgeordneter in den Reichsrat blieb ohne alle Nachfolge und das Pochen auf die Rechtsfiktion, nach welcher der engere Reichsrat durch das Erscheinen jener Vertreter eines transleithanischen Kronlandes zum erweiterten geworden war, stand in einem nahezu drastischen Gegensatz zu der Art, mit welcher die Versuche. Ungarn zu einer wirklichen Beschickung der Wiener Versammlung zu vermögen, einander jagten. Schon im Februar (nach dem Scheitern des zweiten seit dem Beginn des neuen Jahres unternommenen Verständigungsversuchs) war es ein öffentliches Geheimnis, dass Herr von Schmerling keinen Anstand genommen hätte, sich an den geringsten Scheinkonzessionen der Magnatenpartei oder der gemäßigteren Deakisten genügen zu lassen und dieselben zum Ausgangspunkt für eine Verfassungsrevision im ungarischen Sinne zu machen; im Vorgefühl ihres nahen Sieges verschmähten die Ungarn aber selbst den Schein einer Abweichung von den 61-er Beschlüssen, wussten sie doch genau, dass die Verlegenheit der Zentralisten und ihres ministeriellen Führers von Monat zu Monat zunehmen mussten. Im Februar wurde die periodisch-wieder-kehrende Anleihe zur Deckung der fälligen Renten der Staatsschuld (dieses Mal im Betrage von 11 Millionen) abgeschlossen; im März entwarf Revoltellas Denkschrift über die schreienden Missstände in Handel und Verkehr ein wenig schmeichelhaftes Bild der wirtschaftlichen Resultate, die das Ministerium erzielt hatte; wenige Wochen später erfocht die parlamentarische Opposition bei Gelegenheit der Wahlen zum Prüfungsausschuss des Budgets für 1866 einen entschiedenen Sieg über das Ministerium.


Das im März kaum zum Schweigen gebrachte Gerücht von einem bevorstehenden Systemwechsel, tauchte von neuem auf, als der Kaiser in den ersten Junitagen die Ausstellung in Osen besuchte und die Eljenrufe (Hochlebenlassen) der Magyaren dankbar in Empfang nahm. Nachdem von dem Reichsrat um dieselbe Zeit der Vertrag mit dem Zollverein den Wünschen Preußens gemäß angenommen worden war, ging Anfangs Juni die englisch-österreichische Enquete-Kommission, die es aus die Vorbereitungen zu einem Handelsvertrage abgesehen hatte, zur Bestürzung der Handelswelt auseinander, und kaum hatte man sich durch die Versprechungen eines bevorstehenden Zusammentritts der bloß „vertagten“ Kommission über die Befürchtungen eines fortgesetzten Schwankens in den wirtschaftlichen Lebensfragen trösten lassen, als die Ernennung Majlaths zum ungarischen Hofkanzler (er trat an Zichy's Stelle) den ersten Schritt zu dem langgefürchteten, verhängnisvollen Bruch mit dem Februarpatent und dem System seines Schöpfers tat. Georg v. Majlath gehörte der den Deakisten am nächsten stehenden konservativen Fraktion an, er hatte schon im Jahre 1861 die Verständigung mit Österreich aus dem ungarischen Landtag dringend empfohlen, als diese nicht zu Stande kam, und Schmerlig zu einer provisorischen Wiederherstellung des verfassungslosen Zustandes in Ungarn seine Zustimmung gab, das Amt des Tavernikus niedergelegt und sich der oppositionellen Stellung des ungarischen Adels, wenn auch nicht rückhaltlos, angeschlossen. Seiner Ernennung war die Aufhebung der Militärgerichte und das Versprechen der Anstellung von 12 Obergespannen vorhergegangen, der Kaiser hatte endlich seine Krönung und damit die vorhergängige Einberufung des Landtags verheißen. Unter so bewandten Umständen war der Rücktritt Schmerlings selbstverständlich; nachdem der Reichstag geschlossen und zur Beendigung der Budgetangelegenheiten eine besondere Kommission geschaffen worden war, erfolgte im Juli die Ernennung des Grafen Belcredi zum Staatsminister und wurde die Suspension der Februarverfassung zu einer bloßen Frage der Zeit. Das bekannte Septemberdekret hat dieselbe zu einer Wahrheit, die Wiederherstellung des konstitutionellen Österreich von der Lösung der ungarischen Frage abhängig gemacht.

Graf Belcredi, der mit Larisch gleichzeitig das Ministerium übernahm, hatte bis dazu für einen Anhänger des Feudalismus gegolten, für einen Vorkämpfer jener Partei, von der man nicht genau sagen kann, ob in ihr die national-slawischen oder die feudalen Elemente prävalieren. Ihr Hauptmerkmal war von jeher die Feindschaft gegen den liberalen Konstitutionalismus, der hauptsächlich in den deutschen Erblanden des Hauses Habsburg wurzelte, gewesen: schon im Jahre 1848 hatten die tschechischen Vorfechter des Slawentums mit der durch klerikale Elemente verstärkten Partei des hohen Adels gemeinschaftliche Sache gegen die zentralistischen Bestrebungen der deutschen Liberalen gemacht und dieses Bündnis war in das neue Parlament mit hinüber genommen worden. Hinter der gemeinsamen Abneigung gegen die Bureaukraten versteckte sich bei den Einen der Hass gegen das deutsche Element, das in derselben das überwiegende war, bei den Andern das feudalistische Bestreben, die Machtstellung des Adels gegenüber der Staatsgewalt nach Kräften zu behaupten. Man war einig, so lange es galt, die alten Provinzialstände wiederzubeleben, in diese den Schwerpunkt des politischen Gewichts hineinzuverlegen, die provinziellen und ständischen Prärogative dem bureaukratischen Staate gegenüber zu vertreten, den Ultramontanismus in seinem Kampfe gegen die Toleranz und die konfessionslose Aufklärung zu unterstützen: zu Auseinandersetzungen über die Grenzen, an denen die gegenseitigen Konzessionen der Verbündeten aufhörten, war es nicht gekommen. Das gesamte föderalistische Programm trug überhaupt einen so ausgesprochenen negativen Charakter, dass von klar verfolgten politischen Zielen nicht wohl die Rede sein konnte. Die eigentliche Zusammensetzung der Partei hatte es u. A. mit sich gebracht, dass innerhalb derselben die verschiedensten Anschauungen in der ungarischen Frage vorkamen, die Mehrzahl der Föderalisten nahm zu Ungarn aber eine nichts weniger als freundliche Stellung ein. Die Slaven waren von 1848 her die entschiedenen Gegner und Rivalen Ungarns, dessen Exklusivität die Gleichstellung mit Tschechen, Slowaken und Kroaten beinahe verächtlich von sich gewiesen hatte; die Geschlossenheit der ungarischen Verfassung, um deren Rechtskontinuität es sich gegenwärtig handelt, steht zu der Zerfahrenheit und Organisationslosigkeit der slavischen Stämme in einem so entschiedenen Gegensatz, dass die deutschen Zentralisten des Reichsrats mehr Verständnis und mehr Entgegenkommen für die ungarischen Ansprüche gezeigt hatten als ihre slawisch-föderalen Kollegen und die Gegensätze zwischen Föderalismus und Dualismus viel entschiedener waren als die zwischen Dualismus und Zentralismus.

Graf Belcredi scheint zwischen dem Dualismus und seinen föderalen Freunden vermitteln zu wollen, seine prinzipielle Stellung zur ungarischen Frage ist durch die Amtsgenossenschaft mit Majlath und die Zustimmung zu einem Ausgleichsversuch aus dem ungarischen Verfassungsboden (der Bedingung seiner Ausnahme ins Ministerium) bezeichnet; dem cisleithanischen Österreich gegenüber hat er noch keine feste Position gewonnen. Während auf der einen Seite der Zusammentritt des engern Reichsrats nach geschehenem Ausgleich mit Ungarn in Aussicht genommen und das Festhalten an konstitutionellen Grundsätzen wiederholt beteuert worden ist, haben auf der andern Seite das kaiserliche Versprechen einer Krönung mit der böhmischen, sogenannten Wenzelkrone und die pfaffenfreundliche Praxis gegenüber den Tiroler Protestanten, die Hoffnung aus die Rekonstruktion eines konstitutionellen Österreich heftig genug erschüttert, um die deutsch-österreichischen Provinziallandtage (an deren Spitze beinahe allenthalben liberale Zentralisten stehen) in eine schroff ablehnende Stellung zu den neuen Räten der Krone zu setzen.

Wir glauben nicht zu irren, wenn wir den Hauptgrund dafür, dass die kaiserliche Wahl auf einen Föderalisten fiel, in der Verschwommenheit und Dehnbarkeit des Programms dieser Partei sehen, die bei all' ihrer Starrheit gefügiger, weil grundsatzloser als jede andere ist. Die liberalen deutschen Zentralisten hatten Ungarn mindestens ebenso freundliche Absichten entgegengetragen, wie die Grafen Belcredi und Larisch; ein Arrangement mit dem Landtag jenseits der Leitha war ihren Grundsätzen gemäß, aber nur unter Mitwirkung der Vertretung der Gesamtmonarchie denkbar. Der ungarischen Verfassung zu Liebe hätten sie die österreichische auch nicht für einen Augenblick suspendiert. Mit dem Kaiser und seinen Ministern zu verhandeln war aber für die ungarischen Patrioten ungleich bequemer und praktischer als auf einen Ausgleich zwischen zwei Parlamenten hinzuarbeiten und auswiesen! Grunde waren die Regierung und der ungarische Landtag in gleicher Weise dabei interessiert, Männer an die Spitze des österreichischen Kabinetts zu stellen, die sich über die Zustimmung des Reichsrats zu dem angestrebten Versöhnungswerk hinwegsetzten.

In Deutsch-Österreich hat diese Wendung der Dinge eine tiefgehende Verstimmung gegen die Regierung wie gegen Ungarn zu Wege gebracht und die liberal-zentralistische Partei zu einer Schroffheit gegen Ungarn getrieben, deren Folgen um so empfindlicher sind, als sie die Kraft und das Ansehen der Regierung den ungarischen Ansprüchen gegenüber schwächen und herabsetzen. Die außerungarischen Elemente, auf welche Graf Belcredi sich stützt, werden ihn über die inneren Schwierigkeiten, die auch für den Fall einer Verständigung mit Ungarn übrig bleiben, sicher nicht hinwegzutragen vermögen und ob das Ziel, um dessen willen das Opfer des Schmerlingschen Systems gebracht wurde, erreicht werden wird, erscheint noch immer höchst zweifelhaft. Die Beschlusspartei ist den Deakisten gegenüber allerdings in der Minorität; wird aber die Einigkeit der Letzteren gestört, so scheint die Präponderanz der Ultras und damit das Scheitern des Ausgleichs unausbleiblich zu sein. Die Reihe der Siege, welche Ungarn seit den letzten sechs Monaten erfochten, die Wiederherstellung der Comitate, die Unterordnung Siebenbürgens unter die Stephanskrone, die Ernennung des ungarnfreundlichen Kuavic zum kroatischen Hofkanzler, haben die Ansprüche der magyarischen Patrioten mächtig in die Höhe getrieben und das weise Maßhalten, durch welches die Partei Eötvös-Deak sich sonst auszeichnete, in eine gefährliche Versuchung geführt.

Nach außen hin steht Österreich seit dem vorigen Sommer isolierter denn je; die Schwierigkeiten der inneren Lage und der finanziellen Bedrängnis führten zu jenen Gasteiner Konzessionen an Preußen, die auf Österreichs Stellung zu den deutschen Mittelstaaten wahrhaft vernichtend wirkten und dem Grafen Mensdorf von den Beust und Pfordten schwerlich jemals vergeben werden möchten. Die Nichtbeschickung des deutschen Handelstages, der eigentümliche undeutsche Charakter, den die Feier des Wiener Universitätsjubiläums, trotz der Schmerlingschen Trinksprüche auf das „Wiedersehen in Frankfurt,“ an sich trug, die trüben Aussichten für die Wiederausrichtung der von den Deutsch-Österreichern so hoch gehaltenen Februarverfassung — sie alle zusammen haben den österreichischen Einfluss in Deutschland nahezu untergraben, die Kluft zwischen dem Kaiserstaat und dem „Reich“ vertieft und erweitert: was von österreichischer Sympathien in Deutschland übrig ist, lebt nur noch von den Antipathien gegen Preußen.

Mit der vielbesprochenen Annäherung an Frankreich scheint es gleichfalls nicht weit her zu sein; die Dienste, welche Napoleon dem Wiener Kabinett beim Abschluss der letzten Herbstanleihe geleistet und die er für ein kommerzielles Arrangement mit Italien in Aussicht gestellt hat, sind von nur untergeordneter Bedeutung; ob auch in wichtigeren Fragen auf den neuen Freund zu rechnen sein wird, muss der Erfolg erst lehren. Im Augenblick steht Österreich noch isoliert da und die Meinungsverschiedenheit über die venetianische Frage, in der die Interessen des Hauses Habsburg denen Frankreichs direkt gegenüber stehen, wiegt zur Zeit sehr viel schwerer als die Aussicht auf ein dereinstiges Zusammengehen der beiden katholischen Großmächte in der orientalischen Frage, für welche eine neue Krisis zur Zeit noch nicht abzusehen ist.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rückblick auf 1865