Auf Rügen

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Die Ranen waren denn also unverschämte Seeräuber, die mit Mecklenburgern, Pommern und Dänen in steten Kriegen lagen, und eine Zeit lang auch vom Christentum und Dänemark, besonders von Kanut dem Großen unterjocht wurden. Bekanntlich war die Nordküste Deutschlands am widerspenstigsten und feindseligsten gegen das Christentum, da gab's viel Schlachten und Blutvergießen, das in uninteressanter Weise durch einander geht, die Kraft der Insel bricht, deutsche Einwanderungen nötig macht, und so am Ende den wendischen Schlag vermischt. Man erzählt sogar detailliert romantisch, dass die letzte Wendin auf Rügen, die noch wendisch gesprochen habe, Madame oder Mamsell Gülzin, im Jahr 1804 verstorben sei.


Item, Rügen war eine pommersche Provinz geworden.

Die alten rügenschen Wenden genießen einen schlechten Ruf, sie gelten für grausam und räuberisch, dem Fraß und Suff ergeben; ihre Sprache soll sich noch ziemlich rein bei den Cassuben in Hinterpommern erhalten haben. Eine Gattung derselben findet man noch in einzelnen Strichen der Lausitz, wo sanftgebildete Reisende noch heute vor diesen heidnischen Lauten erschrecken. Gegen den eingelernten blondblauen Begriff der Germanen werden uns auch diese Wenden blond mit blauen Augen geschildert. Man möchte sagen, die nordische Luft erzeuge in ihrer Schärfe und Herbe solche blasse Farben, lasse satter Gefärbtes nicht zu, denn der lichte Charakter geht noch heute durch, die preußische Armee aus den alten nördlichen Provinzen ist beinahe ganz blond, und erinnert in Deutschland damit zum stärksten an die alten Germanen. Freilich sind unterdessen die Haarschneider erfunden worden, die Todfeinde geschichtlicher Sitte; ferner Holstein, Dänemark, England sprechen im Ganzen noch heut für den lichten Charakter; aber Schweden mit seinen dunklen Köpfen, mit seinem durch Schönheit berühmten brünetten Menschenschlage macht alle Regel zu Schanden, wenn man selbst für die dunklen Irländer zugäbe, dass sie ein ursprünglich südlicher Schlag seien.

Die alten blendend weißen, wie alle nordischen Völker hoch gewachsenen Wenden auf Rügen sollen lange Bärte, und kurze Röcke von Tuch oder Lein, kurze Mäntel, kleine Mützen mit einer Feder getragen haben. Daneben sind die Frauen schlecht bedacht gewesen mit einem langen, grauen Kleide aus Flachs, ohne Ärmel — die Weiber haben überhaupt durch die moderne Geschichtsentwicklung das meiste gewonnen; die Weiber und die Kaufleute; die Galanterie des Mittelalters war doch nur Zuckerwerk, und wenn es kein Zuckerwerk gab, da gab's viel Langeweile.

Interessant scheint mir es, dass die alten Ranen echt nordisch, wo es mehr Nacht als Tag ist, die Zeit nach Nächten und nicht nach Tagen gezählt haben; auch haben sie von dem erfrornen Frühlinge und dem rheumatischen Herbste keine Notiz genommen, sondern nur Sommer und Winter unterschieden. Wenn Einem warm ist, da gibt's Sommer, wenn man friert, Winter. Ihre zwölf Monate haben sie auch viel eigentümlicher benannt als wir mit unsern romantischen Namen, die uns nichts bedeuten, sie hatten folgende Monate: Winter, Krähen, Tauben, Kukkuks, Birken, Saat, Linden, Getreide, Brunst, Blätterfall, Erdfrost, dürrer Mond. Damit weiß man doch gleich, was in der Natur vorgeht, und mit ein Paar kleinen Geschmacksänderungen wäre die echteste Poesie in den Kalender eingeführt.

Gegen die Frauen waren, diese Wenden keineswegs blöde, sie durften deren drei heiraten, und der Pantoffel war auf Rügen unbekannt: die erkaufte Frau war dem Manne leibeigen, eine Magd, sie durfte nicht mit am Tische essen und musste dem Manne und seinen Gästen die niedrigsten Dienste verrichten. Nun an den zweiten Frauen entschädigte sich die erste und knechtete sie. Jede Braut sang ein Klagelied, wenn sie das Elternhaus verließ, angeblich, weil sie das heimische Feuer auf dem Herde unbehütet verlassen müsse, dann stieg sie auf den Wagen, welchen der Bräutigam sandte. Er bewillkommte sie an der Grenze seines Eigentums mit einem Feuerbrande und einem Trinkgefäß. Jener war Symbol, dass sie nun den neuen Herd hüten solle, aus diesem durfte sie trinken. Dies geschah, wenn sie die Wohnung betrat, noch einmal, und darauf wurde ihr das Haar abgeschnitten und der Brautkranz aufgesetzt. Kinder gehörten dem Vater, er machte mit ihnen, was er wollte, nur Söhne erbten gesetzmäßig, missgestaltete Kinder durfte der Vater töten, auch Töchter, wenn sich deren zu viel einfanden. Die Erbschaft der Söhne ging nach dem Verdienste im Wettlauf, Laufen war also die erste Tugend und das einträglichste Geschäft.

Die Griewen, oberste Priester, waren Hauptpersonen, sie machten auch die Gesetze, vor denen nichts rettete. Ehebrecher wurden von Hunden zerrissen, Jungfrauenverführer starben in den Flammen, Weiber, die nach dem Manne schlugen, büßten ihre Nase ein, auf Verleumdung stand Stäupung oder Tod, auf Diebstahl, Prügel oder Tod durch wilde Hunde, wer den Gastfreund beleidigte, musste sterben, gegen Mord stand die Blutrache offen.

Man sieht, die Gesetze waren nicht viel weniger als die Drakonischen mit Blut geschrieben, und man konnte leicht zu einem Schaden kommen, der keinen zweiten zulässt.

Ihre Religion war heidnische Vielgötterei, und hier spielen die Bog's, Bog als Hauptgott, Bialbog als weißer und Gott des Guten, Czernebog als schwarzer und Gott des Bösen ihre Rollen. Dreieinigkeit und persischer Dualismus beisammen. Nun gab's aber noch viel apanagierte Gottheiten, die Vit's, Swantevit, Rugevit, Borevit und Poromur, von denen Swantevit mit sehr gesuchten Eigenschaften der bei Weitem beliebteste und auf Arcona, an der Nordspitze, zu Hause war. Er hatte ein weißes Pferd, welches mit den Priestern die einflussreichste, prophetische Rolle spielte.

Wie sie ihre Toten begruben, interessiert uns indessen am meisten, da hiervon allein noch die Spuren in den verschiedenen Grabmälern übrig sind.

Die Leichname wurden verbrannt, oft in Gesellschaft mit Gesinde und sonstigem Zubehör des Herrn, da die naive Ansicht, wie bei den alten Germanen vorherrschend war, im neuen Leben finge man Geschäfte und Interessen just wieder da an, wo man sie hier gelassen habe. Die Asche ward in eine Urne getan, und diese auf verschiedene Weise bedeckt, entweder mit Steinblöcken oder mit Erdhaufen. Davon finden sich nun viele Variationen, und dieser Reste sind noch so viele übrig, dass man wie durch einen großen Begräbnisplatz durch diese Insel reist. Frei liegen die alten Recken in Gottes Welt, das Meer kann oft zu ihnen aufsehen, die Vögel des Himmels umkreisen sie in weiten Bogen, der Wind trägt ihnen ungehindert von allen Seiten Nachrichten und Grüße zu, kein Dorfschulmeister hat mit dem Tischler seine Lamentationen auf ein schwarzes Täfelchen geschrieben, und den Tod eingeengt in alltägliche Beziehungen, die alten Rügener schlafen frei und groß wie die Elemente.

Dass sich auch bei den Lebenden noch deutliche Zeichen einer uns fremdartigen Nationalität vorfinden sollen, mag ich nicht ohne Weiteres zugeben, noch auch in Abrede stellen, da ich die eigentlichen offiziellen Striche der alten Rügener, wo sie sich am deutlichsten erhalten haben sollen, nicht gesehen habe. Dies ist der südliche Teil Rügens, das sogenannte Mönchgut, und es sind einige Inseln, besonders Hiddensö und Ummanz.

Was übrigens dem aus Mittel- und Süddeutschland Kommenden Fremdartiges hier entgegentritt, scheint sich nicht allein auf Rügen zu beschränken: es ist entweder ein derbes, biederes, halb seemännisches Wesen, das dem Norddeutschen im Allgemeinen eigen sein mag, oder es ist jener Anstrich von Dänemark und Schweden, der sich wie eine Lufttinte bis hierher erstreckt. Besonders von Schweden. Das frühere Schwedisch-Pommern mit Greifswald, Stralsund und dem anliegenden Striche bietet heut noch mancherlei Sitte und Äußerung, welche aus der früheren Herrschverbindung übrig geblieben ist.

Rührend ist die aristokratische Absonderung solche kleinen Inseln, wie Hiddensö und Ummanz: so wie der Neapolitaner und der Pariser stolz auf die übrigen Italiener und Franzosen sieht, so nennen die Ummanzer ihr Inselchen vorzugsweise „das Land,“ verkehren ungern mit den Rügenern, und sehen es sehr ungern, wenn einer von ihnen eine Rüg'nerin „friet“ (freit). Die Hiddensöer nennen ihre kleine Insel das süße Ländchen, „söte Länneken,“ und manche von ihnen kommen ihr Lebtag nicht nach Rügen. Auch die Sprache sondert sich ab als rein seemännisch-plattdeutsch, sie fertigen sich, ganz unabhängig von aller Nachbarwelt, auch ihre Kleidung selber, und sind ein hoch und schlank gewachsener Stamm mit blauen Augen und blonden Haaren. Ganz verschieden von ihnen sind die groß und starkknochigen Mönchguter mit vorherrschend dunklem Haare. Ihr verdorbenes Plattdeutsch wird selbst von den andern Rügenern schwer verstanden, sie recken die Worte aus wie die Meereswelle, welche sich breitet: Milch nennen sie Mellek, Kalb — Kalles, der Seehund heißt bei ihnen Sahl, die Gerste — Gaß, die Semmel — Peit, Worte, die nur bei ihnen gekannt sind. Nur schwedische Anklänge finden sich auch hier: Königin heißt bei ihnen auch de Dronnina, König — de Köning; ihr eigen Land nennen sie Mönnichgaud.

Vor Allem charakteristisch ist ihre Tracht, die noch vom Fürst Ratze herzustammen scheint: Schwarz ist vorherrschend Alles, eine selbstgewebte weite Jacke, zwei Paar Beinkleider über einander, und darüber noch weite Fischerhosen. Die Frauen tragen eine hohe, kegelförmige Mütze, in welcher so viel Zeug steckt, als eine Grisette zur ganzen Bekleidung ihres muntern Körpers braucht; darüber wird noch ein Strohhut gestülpt. „Ehefrauen und Jungfrauen unterscheiden sich durch das Band an der Mütze.“ Der Busenlatz ist bei Festkleidern rot und mit Silber oder Goldspitzen besetzt, dieser und die weiße, steif gestärkte Schürze stechen allein vom schwarzen Grundton ab. Wie die Männer ihre Beine, verwahren die Frauen den Busen mit doppelten Tüchern.

In ihren sehr niedrigen Wohnstuben leben sie höchst einfach, meist von Fischen, — wir Binnenleute könnten bezweifeln, dass diese Nahrung für so weitläufige Gestalten ausreiche. Ihre Antipathien sind das Kalbfleisch und der Putbusser. Jenes essen sie nie, und mit diesem verkehren sie höchst ungern. Sie unterschreiben fast nie ihren Namen, sondern malen statt dessen ein Hauszeichen hin, was ihnen heiliger ist denn Alles.

Fr. v. Schönholz erzählt, dass die Frauenzimmer das Recht haben, den Mann, welcher ihnen gefällt, selbst anzusprechen, „na ehn' utstellen“ (nach Einem ausstellen), wie sie's ausdrücken. Dies will mir zu einer originellen Landessitte nur halb passen, welche unsern jungen Dichtern zu einem Gedicht empfohlen werden kann: Wenn ein Mädchen nämlich heiratsfähig ist, so hängt sie ihre Schürze ans Fenster, und darf nur unter den Männern wählen, welche vorübergehen. Sind nun Eltern und Verwandte gegen eine Liebschaft, so wählen sie den Zeitpunkt, wo der Liebste zur See ist, und den Schürzengang nicht mitmachen kann. Da steht nun das arme Mädchen weinend hinter der Schürze und schilt das Meer und hofft, es werde hereintreten ins Land und das Boot des Geliebten im Bereich der Schürze stranden. Weinend kuckt sie aber doch durch die Lücke, ob nicht wenigstens ein leidlicher Stellvertreter gewählt werden könne. Diesen abscheulich modernen Zusatz werden die Dichter weglassen mögen.

Der Hauptfeind Mönchguts ist der Seehund, der zahlreich an der Küste streift. Ist einer in die Netze gebrochen, so gibt's ein Landesaufgebot, ihn zu fangen, Weiber und Männer tanzen am Strande, und singen einen uralten Reigen, ehe sie an den Feind gehen:

Hahl mi den Sahlhund ut'n Stranne
To Lanne!
He hett mi all de Fisch ux fräten.
Hett mit ganze Nett terräten,
Hahl mi den Sahlhund ut'n Stranne
To Lanne!

Man sieht, es ist wenig Idealistik in dieser Poesie.

Ich habe oft gedankenvoll auf diese Küste hinübergesehen, und den Reiz eines solchen Lebens ohne Kalbfleisch und mit der einzigen Feindschaft gegen den Seehund mir vorzustellen gesucht — es kommt Alles auf die Frage hinaus: Viel oder wenig Bedürfnisse? Mein Glaube hält es durchweg mit den Bedürfnissen, je mehr, je besser; Herz, Geist und Leib, je mehr sie wollen, desto reicher sind sie mir, denn desto mehr haben sie. Wer viel braucht, entbehrt mehr, aber er hat auch mehr.

Doch will ich Euer Glück nicht antasten, schwarze Mönchguter! Das Essen schmeckt Euch, Eure niedrigen Stuben wärmen Euch zum Behagen, die stille Gewohnheit macht Euch einander lieb und wert, Ihr hofft fürs nächste Jahr auf reichen Heringsstrich, und lebt mit drei Interessen des Jahres siebzig Jahre hin und sterbt auch nicht gern.

Aber Alles kommt sicher nicht in gleiche Verhältnisse auf einer andern Welt — des Mönchguters Seele hat ja doch eine ganz andere Geschichte und ist deshalb eine ganz andere als die des Parisers.

Und so wird der Unterschied fort gehen in andre Welten, und das von der Erde gleich Zusammenkommende wird sich wieder in neue Unterschiede sondern. Das ist die Welt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise Novellen von Heinrich Laube, Teil 7