Rügen

Es war ein stiller niedriger Wald, durch den wir nach Bergen wanderten. Hinter ihm öffnete sich ein hügliges Land, in welchem hie und da wie Ruheplätze einzelne Gehöfte, mit Bäumen umgeben, lagen. Dies ist der vorherrschende Charakter des Ländchens: Kleine Städte, wenig größere Dörfer, aber viel solche einzelne Höfe.

Gegen Sonnenuntergang sehen wir vor uns auf einer mäßigen Höhe das Städtchen Bergen. Ein Landstädtchen ohne besondern Charakter, Mittel- und Hauptpunkt des Landes; dicht bei ihr liegt der Rugard, die gepriesenste Höhe der Insel. Die Sonne neigte sich zur Rüste, wir eilten also hinaus. Wenn von Bergen und Höhen die Rede ist, so erhebe man hier ja nicht etwa seine Illusion besonders, die Unterschiede sind hier sehr gering, und nur im Verhältnis unter sich von Bedeutung — mäßige Erhöhungen, das ist Alles, was man von Rügen erwarten darf. Da nun Bergen schon der höchste Punkt ist, so darf man kein besonderes Aufsteigen nach dem Rugard gewärtigen. Es ist der Erdrest einer alten Wallburg auf einer kleinen Anhöhe. Um Wälle und einzelne Teile der Befestigung auszufinden, muss man sehr speziell zu Werke gehen und mancherlei spezielle Phantasie mitbringen. Das ist um so nötiger, da das Ganze durch kleine moderne Zusätze bereichert und zu einem Spaziergange gemacht ist. Das alte Residenzschloss der Rügenschen Fürsten soll hier gestanden sein — wir ließen das auf sich beruhen, und vertieften uns in die Aussicht. Es ist dies der Punkt des Rügerschen Panoramas, und Herr v. Schönholz wird sehr schelten, dass wir damit angefangen haben, statt damit zu schließen.


Er hat auch vollkommen Recht: man muss sich diese Totalübersicht Rügens bis zuletzt aufsparen. Das ganze Ländchen, geteilt und durchwässert durch die Binnenwasser, die Bodden, liegt vor uns, ein Edelstein, gefasst in eine Silbersee, wie Shakespeare im König Richard II. von England sagt, nur die nahe Pommersche Küste mit den Türmen von Stralsund stört den Vergleich mit England.

Nach Nord und Ost jenseits des offnen Wittow, des bebuschten Jasmund und der dunklen Granitz die uferlose, ins All verschwimmende See, mit dem Hauch des Abendrotes, das über Pommern herüber glimmt, auf der andern Seite Küsten und Inseln, Einschnitte und Buchten, Türme und Kirchen, zunächst Stralsund mit hohen Kirchen, weiter hinab Greifswald, noch weiter Wolgast, die blaue Spitze von Usedom, da zwischen die Stationen unsrer Fahrt: die Oie, Ruden, der Vilm. —

Hierbei kann dem Leser ein geographisches Bild der Insel gegeben werden: sie ist in vier Teile geordnet, und man geht weiter südlich von Bergen an einem Wegweiser vorüber, wo alle vier Namen zusammentreffen. Der Teil, in welchem wir uns jetzt befinden, und welcher sich südwestlich zunächst nach Pommern drängt, wohin man über den Pommerschen Sund in zehn Minuten vom Segelboot getragen wird, heißt Bergen, der nördliche Teil dieser Inselhälfte, der bis in das Nordkap Arcona ausläuft, heißt Wittow — der nach Südost hinüber liegende Teil tritt etwas zurück, und ist bis unterhalb Bergen durch einen großen Bodden von diesem geschieden; seine nördliche Hälfte heißt Jasmund, seine südliche Mönchgut, zwischen beiden liegt die schon erwähnte waldige Granitz, welche keinen offiziellen Teil ausmacht, wie im nördlichen Jasmund die Stubnitz, welche auch nicht besonders gezählt wird.

Dieser jenseitige Teil, Jasmund und Mönchgut mit der Stubnitz und Granitz, mit den Stubbenkammern, dem Herthasee, den schönen Wäldern, dem Jagdschlosse der Granitz, der charakteristischen Eigentümlichkeit der Mönchguter, dieser Teil drüben, von welchem uns hier auf Rugard der Bodden schiede wie vom gelobten Lande, ist der bei Weitem sehenswertere und interessantere. Außer Putbus und dem Rugard enthält die westliche Hälfte nur den Leuchtturm in Arcona und ist offnes, uninteressantes Land. Es müsste sich denn jemand besonders für den verstorbenen Dichter Kosegarten interessieren, der in Wittow, im Dorfe Altenkirchen begraben liegt. Dort war er Prediger — der Ort hat, nebenher gesagt, die älteste christliche Kirche auf Rügen, und davon seinen Namen, auch lebt Swantewit der Heidengott als Sanct Veit hier christlich weiter — von dort aus hat er — nicht Swantewit, sondern Kosegarten — so fleißig Reisende für Rügen geworben, er hat Rügen zuerst als ein unerlässliches Reiseziel angepriesen. Von dort aus sind seine „Inselfahrt,“ sein „Eusebio“ etc. Rügen empfehlend zum Druck gewandert, und auf Subskription in Leipzig herausgekommen. Süße naive Zeit unsrer Literatur! Wir fanden in einem ganz leidlichen Wirtshause einen trefflichen Tee gerüstet, mit gutem Fleisch, Seefisch und vielerlei Sonstigem garniert. Überhaupt wird der Leib hier im Norden viel kräftiger und tüchtiger versehen als in Mitteldeutschland, und es ist mir jetzt erklärlich, wie die Pommern und Mecklenburger die Halle'sche Küche so ungemessen plattdeutsch schmähen konnten. Halle zeichnet sich auch allerdings darin aufs schlechteste aus. Dies Statistikum darf auf die Länge nicht mehr verschwiegen werden, dass man in Sachsen und besonders in Schlesien am geschmacklosesten und dürftigsten gespeist wird.

Hier in Bergen fanden wir denn auch Kosegartens Gedichte, die so geeignet sind, in jene literarische Epoche zurück zu versetzen, wo neben Schiller und Goethe die Poesien des Pfarrers von Altenkirchen und Ähnliches noch mit großer Teilnahme aufgenommen wurden, wo er die harten Verse, in denen er Arcona propagandistisch besingt, dreimal verbessert, oder wenigstens verändert herausgeben konnte, wo er seines Töchterchens Alwina Bildnis vorstechen ließ, in sichrer Gewissheit, das Vaterland nehme auch an der Physiognomie seiner Familienglieder das größte Interesse.

Da finden sich denn auch drei Lieder auf den Rugard. Das erste beginnt:

b„Auf Deinem schroffen Felsenscheitel
Empfange mich alter Rugard.
Empfange mich, Hehrer!
Mich lüstert, zu schauen.
Mich lüstert, zu fassen etc. [/b]

Der Rugard ist aber alles Mögliche, nur kein schroffer Felsenscheitel — das ist nun auf der einen Seite für Rügen stolz gesteigert, und vielleicht die Grundlage zu den irrigen Vorstellungen, die man jetzt noch vielfach von der Insel hat, als sei dies sanfte, anspruchslose Eiland eine wilde, pittoreske Felseninsel; auf der andern Seite vergegenwärtigt es ganz und gar das Antlitz einer aus Worten zusammenaddierten Poesie. Hohe Felsen, tiefe Schluchten, immer Sturm und dergleichen Extreme waren stets erforderlich, um eine Gegend poetisch zu finden, und das gefiel noch zu einer Zeit, wo Goethe schon so viel für den einfachen Geschmack am Wahren und Echten geschrieben hatte. Diese Kosegartenschen Poesien mit seinem und Alwinas Bildnisse und vielen andern Bildern sind 1798 erschienen.

Den andern Morgen schritten wir durch sanfte Hügelschluchten, an Berglehnen hin, über kleine stille Plateaus; die Sonne schien freundlich, der Tau blitzte, ein Schäfer grüßte freundlich neben seiner Herde. So kamen wir an die Abdachung, welche nach dem Jasmunder Bodden abfällt, und sahen mit Freuden den matteren herbstlichen Sonnenstrahl auf der breiten ruhigen Wasserfläche tanzen, einen gemessenen Adagiotanz. Die Luft war still und Alles ladete zur Beschaulichkeit.
Das Meer ausgenommen, ist aller Eindruck und alles Verhältnis auf Rügen in dieser kleinen, gefälligen Weise, die Berglehnen sind niedrige, sanfte Hügel, das Gestein ist weich, bröcklig, kaum zum Kreideartigen gedichtet, die Wälder, denen man weiter drüben im Osten und Südosten begegnet, sind freundlich und in mäßiger, halbjunger Stammesstärke, meist aus Buchen bestehend. Wir haben uns gewundert, keinen eigentlich tiefen, alten Wald, keinen bejahrten Hain der alten Wenden und Germanen zu finden, er muss mit der alten Vorzeit geschieden sein. Alle die Redensarten von erhabener, wilder Natur, von pittoresker Gestalt der Insel, wie sie gang und gäbe, sind übertrieben, und stammen vom täuschenden Idealismus, der nach dem Schema alter Poeten beschreibt, sind Kosegartensch.

Wir schifften über den seichten Bodden, schritten über die Hügel, welche Jasmund schützen, und gelangten durch breite Hügelbecken gegen Mittag in das Städtchen Sagard.

Dieses krummstraßige Örtchen hat zwei tote Merkwürdigkeiten, und eine lebendige. Diese ist der Wirt des Gasthofes, dessen Namen ich leider vergessen habe, der aber in seinem grünen Rocke, in seiner ganzen rüstigen Wohlgenährtheit und taktfesten Geschäftigkeit, mit seiner schwedischen Physiognomie noch lebendig vor mir steht. Der Mann gewährt mir die beste Erinnerung: er betreibt nämlich einen kleinen Gasthof aufs rührigste, ausbeutendste, und befriedigend für alle Gäste, liebt und pflegt seine hübschen Kinder, und ist über alle historische und Naturmerkwürdigkeit Rügens auf das beste unterrichtet. Ganz mit eigner Hand hat er sich im Wirtszimmer eine Sammlung aller rügenschen Merkwürdigkeiten angelegt, gibt Auskunft und die kundigsten, besonnensten Hypothesen über alle Steine, Muscheln, Opfermesser, Streitäxte von Stein, Urnen, die sich auf, bei und unter Rügen irgend vorfinden. Das Meiste hat er selbst zusammen gesucht, und besonders seine naturhistorische Kenntnis ist von solcher Bedeutung, dass er mit den berühmten Forschern unsers Vaterlandes in dem freundlichsten Verkehre steht. Das flicht sich Alles so anspruchslos und doch bewusst mit der ordinärsten und beflissendsten Gastwirtssorge für ein Beefsteak, für ein Glas Bier durch einander, dass es wirklich an ein Ideal erinnert, wie wissenschaftliche Kenntnis und Forschung mit alltäglicher praktischer Wirksamkeit verbunden sein könne.

Ein sehr schmerzhaftes Gegenbild, wie der Mensch nicht wohltuend gebildet sein könne, bildet der Barbier von Sagard, den Gott und die Kunst bessern mögen. Eigentlich ist er kein Barbier, sondern ein weibliches Wesen, des Barbiers Frau, das mit Seife und Barbiermesser schmerzhaft hantiert. Diese Manier erinnert auch an Schweden, wo eine Amazonen-Domestikenschaft herrscht, wo die Weiber nicht nur Weiber, sondern auch Hausknechte, Postillone und Barbiere sind. Ich war der erste, welcher unter ihren Händen weinte, aber ich verbarg meine Rührung, um die Genossen keines Reiseeindrucks verlustig zu machen. Das nächste Schlachtopfer, der Sachse, wollte zwar nach den ersten Annäherungen dieser Damenhand sprunghafte Beweise einer ungewöhnlichen Beteiligung dokumentieren, aber ein Wink von mir auf den bärtigen Siebenbürgner ließ ihn ausharren, er ruckte und zuckte nur einige Male wie ein Karpfen, der geschuppt wird, trug es aber für die Aussicht des nächsten Anblicks.

Man konnte nicht sagen, dass die grausame Dame schön sei, sie hatte im Gegenteil zum wahrscheinlichen Leidwesen des wirklichen Barbiers von Sagard die Zeit des Paradieses, die Zeit der „zarten Sehnsucht und des süßen Hoffens“ hinter sich, und deshalb nahm der Siebenbürgner keinen Anstand, mit ihr in ein Verhältnis zu treten, ein Verhältnis, das seiner Tugend gewiss auf viele Jahre förderlich sein wird. Ich schweige von dieser unchristlichen Szene, von den Schlangenwindungen und dem Gestöhn, unter welchen er für die Erbsünde der Männer, für den Bart, zu leiden hatte. Verklärt, geläutert durch Weh ging er hervor, kein erklärendes Wort entweihte die Szene, die Dame von Sagard hat nie erfahren, was sie angerichtet.

Die erste tote Merkwürdigkeit des Städtchens ist ein Gesundbrunnen, der vor dreißig Jahren gesund gemacht haben soll, jetzt aber wie ein entlarvter Wundertäter ignoriert wird; möge die wackere Barbiersfrau sein Schicksal teilen, Sagard wird glücklicher sein.

Die zweite ist der Dubbenworth, das größte Hünengrab der Insel: ein abgestumpfter Kegel mit Dorngebüsch bewachsen, der dicht bei Sagard liegt, und neben seiner Antiquität auch eine Aussicht gewährt. Die Landleute glauben, unter diesen Gräbern lägen Riesen, und wenn beim Unwetter die Erde bebt, da schnarchten sie, oder wendeten sich um. Das ist ganz gut, was machen aber wir, die wir keine Hünengräber haben? Auch mit einer Sage wartet der Dubbenworth auf: In Jasmund hat eine große Riesin gehaust, denn es gibt auch große und kleine Riesen, die hat über den Bodden hinüber zum Fürsten von Rügen geschickt mit dem Bemerken, sie wünsche ihn zu heiraten. Dies hat selbigem aber nicht wünschenswert geschienen, da er zufällig gar kein Riese und ohne Verlangen nach so großen Gliedmaßen gewesen ist. Er gibt ihr also einen Korb, und sie nimmt das natürlich sehr übel, und rüstet einen Krieg. Um schneller über den Bodden zu kommen, will sie ihn eiligst mit Sand ausfüllen. Sie trägt eigenhändig Sand in ihrer Schürze zu, und bei dieser Gelegenheit sehen wir, dass die Schürze ein sehr altes, ästimiertes und nicht bloß Grisetten, sondern auch großen Damen zukommendes Kleidungsstück ist — die Schürze aber platzt in der Nähe von Sagard, und der Haufe Sand, welcher herausfällt, liegt noch heute da, und heißt jetzt, wo's an Riesen fehlt, der Dubbenworth.

All dies erlebten und erfuhren wir in dem kleinen Städtchen, und es war noch nicht zu Ende — es fuhren zwei lange, unbedeckte Korbwagen vor, die Pferde waren ziemlich ordinär aufgeschirrt, aber prächtige Tiere, deren reines Blut auch in der unscheinbaren Tracht und Umgebung leicht erkannt wurde. Solche Korbwagen hat man in Mecklenburg, und die Heimat derselben ist Holstein; es fahren in jenen Gegenden ganz noble Leute darauf; solche Pferde hat man nur in Mecklenburg; die Gesellschaft, welche aus einem Zimmer trat, das wir noch nicht gesehen hatten, musste also notwendig aus Mecklenburg sein. Mecklenburg, welche solide, schrotige, viereckige Gedanken steigen Einem auf bei diesem Namen! ich denke stets dabei an Kutschenpferde, große Klöße, Fleischtöpfe und wasserdichte Stiefeln; ich bin immer satt, wenn mir das Land einfällt, es muss sich derb und gesund dort leben. Und so hatte ich mir die Mecklenburg'schen Damen gedacht, wie ich deren zwei hier vor mir sah: von großem, vollem Wuchse, mit weiten blauen Augen, mit festem, weißem, luftig geröteten Fleische, nicht fein, aber üppig, kräftig, mit tüchtiger Gutmütigkeit in den Zügen, mit großen, weißen Zähnen und dichtem, braunblondem Haar, mit starker, aber fleischesvoller, weißer Hand. Die eine trug ein weißes Kleid, die andre ein schwarzes, und sie gefielen uns sehr. Nach Unbefangenheit der nordischen Art gingen sie leicht samt ihren Begleitern in Anknüpfung und Gespräch ein; wir waren im Begriff nach Arconn zu fahren, sie stiegen eben auch auf den Wagen: von allen Herrlichkeiten der Welt hatten wir im Augenblicke nichts anders zu wünschen, als dass diese freundlichen, schönen Mecklenburgerinnen — klingt das nicht so gewiss handfest und zuversichtlich, und ganz gewiss kochverständig und treu und gut, das Wort Mecklenburgerin — als dass sie auch nach Arcona fahren würden. Und so lieb und zutraulich fragten sie auch: Sie fahren gewiss ebenfalls nach Stubbenkammer?

Herr Gott, nein, wir törichten Menschen haben einen Wagen bestellt — geschwind, lässt sich das nicht ändern?

Da rasselten sie fort, die im weißen Kleide, die wirklich prächtig drein sah mit dem gutmütig-innigen Ausdrucke sah sich so ermunterungsvoll um — meine Herrn, ändern wir den Plan — aber die Siebenbürgner waren ungerührt, der Sachse war nicht da, und hatte keinen Drang, da ihm der Eindruck entgangen war; ich musste mitpoltern auf dem harten Wagen über die Schabe nach Arcona, das tat weh!

Die Schabe ist zwar sehr merkwürdig, aber es gibt doch bessere Dinge als Merkwürdigkeiten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise Novellen von Heinrich Laube, Teil 7