Das polnische Leben und das russische System. Öffentliche Festlichkeiten und Maskeraden, Gesellschaftsleben in verschiedenen Kreisen. Überall schwüle Atmosphäre

Dem polnischen, leichtbeweglichen, bald schwächer, bald stärker pulsierenden Leben gegenüber, steht das russische System, das schwere, maschinenmäßig wirkende russische Zwangssystem, der Ausrodungs- und Ausrottungsmechanismus.

Er strebt nicht nur darnach, jeden freien Spross der Nationalität und der Sprachpflege abzumähen, sondern ihr Wachstum in der Wurzel zu treffen, die Keime zu untergraben, den Samen aufzureißen.


Und nicht genug damit. Das System fürchtet alle die Keime, die in der Luft liegen, mit dem Winde kommen, in den Flüssen fließen. Es fürchtet alles was die Luft als Gesang, Lachen oder Weinen erfüllt, alles, was der Lippe als Wort entspringt, alles, was das Auge wie liebe Farben fesselt.

Gegen alles, selbst das Luftigste und Geistigste, hat das System ein Verbot. Für die Nationaltracht hat es die Uniform gegeben, für den Gesang Schweigen, für das Lachen Schweigen, für die Klage Schweigen, für das Wort Schweigen, und für alles, was im Auslande und im Inlande erzeugt wird, Zensur. Es hat eine Mauer um dieses Land gezogen, und versucht sie so hoch zu machen, dass kein Vogel darüber hinfliegen und so dicht, dass kein Luftzug durchdringen kann.

Die Nationaltracht ist selbst als Karnevalskostüm verboten, sogar in historischen Schauspielen auf der Bühne.

Polens Farben, Polens Wappen sind unbedingt verboten, dürfen nicht einmal auf der Fassade eines alten Hauses, oder am Rahmen eines alten Bildes angebracht bleiben. Die Nationallieder sind so streng verboten, dass man sie nicht einmal gern in einem Privathause spielt, wenn dort größere Gesellschaft ist.

Das Lachen ist zwar nicht verboten, aber es verbietet sich von selbst. Man hört es so selten, dass, wenn ein Fremder des Nachts in Gesellschaft von Bekannten laut über einen Einfall lacht, man Polizisten und Gendarmen sich in der Nähe der Gesellschaft mit Zeichen der Verwunderung versammeln sieht. Ich habe nie ein anderes Lachen als mein eigenes in den Straßen von Warschau gehört.

Schweigen und Ernst sind zwei Züge, die vor allem für Polen bezeichnend sind. Es ist ein Land, wo sich niemand öffentlich lustig zeigt.

Man trete in ein großes Studentencafé, das gegenüber der Universität liegt. Niemand spricht ein lautes Wort. Man gehe auf die Straße. Nie ein Ruf. Niemand will die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Oder man nehme als Beispiel einen großen öffentlichen Ball, der von der vornehmen Gesellschaft veranstaltet ist. Das Orchester braust, die Mazurka wird durch alle Touren dreiviertel Stunde lang ununterbrochen getanzt. Aber in einer Ecke des Saales steht in einem Kranz von jungen Offizieren der alte starke General Krüdener, der bei Plewna geschlagen wurde, nachdem er ganz gegen seinen Wunsch einen hoffnungslosen Angriff hatte vornehmen müssen; in der andern Ecke steht Oberst Brock, der, nur einige dreißig Jahre alt, sich zum Chef der Gendarmerie, der politischen Polizei aufgeschwungen hat, die bei den übrigen Armeekorps im schlechten Ansehen steht, und mit deren Offizieren die von der Armee nicht gerne etwas zu tun haben wollen, aber deren Befehlshaber gleichwohl der mächtigste Mann in der Stadt ist, selbst mächtiger als der Generalgouverneur; denn sein Befehl ist höchste Instanz, von der es keinen Appell gibt. Unwillkürlich gedenkt man der Eigenschaften, die er bewiesen haben muss, um in diesem Alter einen solchen Posten zu erlangen. Sein Blick läuft unausgesetzt im Saale herum und legt einen gewissen Dämpfer auf die Lustigkeit. Wo er ruht herrscht Schweigen. Und doch ist er einer der humansten und in Warschau beliebtesten russischen Offiziere.

Oder man denke an einen großen Rout in einem öffentlichen Lokale. Es ist ein schöner Anblick, aber ein stilles Fest. Er ist erlaubt, weil der Zweck ein wohltätiger ist; ein Asyl oder ein Findelhaus erhält die Einnahme.

An den Pfeilern des Saales sitzen die vornehmen oder reichen Damen, die dem Feste vorstehen, und verteilen die Gewinne, die durch Losziehen fallen. Der Saal ist voll junger Mädchen in den schönsten Toiletten, die zum Sehen und Gesehenwerden kommen. Sie können hier frei mit den Männern sprechen, die sie gerne treffen wollen, während Mütter und Tanten ihre Sitzplätze einhalten. Aber alle Unterhaltungen sind gedämpft. Man musste den Generalgouverneur von Polen einladen, den sehr strengen und sehr gefürchteten General Gurko, und seine Frau, eine Dame, deren Äußeres und Wesen weniger distinguiert als ihre Stellung ist. Von der Generalin Gurko, die sicherlich die unpopulärste Persönlichkeit in Polen ist und die sich in weiblichem Fanatismus mit der Aufgabe befasst, der russischen Sache auf alle Weise zu dienen, nimmt die Bevölkerung an, dass von ihr alle die Veranstaltungen ausgegangen sind, die in den letzten Jahren die polnischen Hoffnungen und Interessen betroffen haben.

Der alte Aristokrat Louis Górski, der polnische Papst genannt, der willenskräftigste Vertreter der katholischen Partei, ist der Gastgeber und muss als solcher der Generalin Gurko den Arm bieten um sie herumzuführen. Niemand grüßt, alle sprechen halblaut oder drehen den Rücken. Diesem Paare folgt der Generalgouverneur mit Frau Górska. Beide Paare wechseln nur zeremonielle Repliken in französischer Sprache. Gurko, der eine recht schöne Haltung hat, ist ein Mann von mittelhohem, kräftigem Wuchse, mit dünnem Haare, großem, wallendem, grau meliertem Bart, etwas geröteter Nase, und sein Gesichtsausdruck verrät nicht die Kühnheit und Gewandtheit, die ihn als General besonders kennzeichneten. Er scheint gleichwohl eher geeignet Offizieren die Parole zu geben, als ein Volk zu regieren.

Oder man besuche eine Soirée im Hause eines Führers der aristokratischen Partei. In einigen Sälen findet man hier fast alle Namen der berühmtesten polnischen Familien vereinigt. Dort sitzt eine Gräfin Plater, die Nichte der berühmten Emilia, hier eine Gräfin Krasinska, die mit einem Verwandten des Dichters verheiratet, gleichzeitig freisinnig und patriotisch bis zur Exaltation ist; dort ist eine Gräfin Ostrowska, die für die schönste Dame von Polen gehalten wird. Man sollte glauben, dass die Polen sich hier innerhalb verschlossener Türen so frei als möglich fühlten; aber wenn ein Fremder ein kühneres Wort spricht, klopft einer der jungen Männer aus der Familie ihm auf die Schulter und flüstert: „Nicht so laut! Auf dem Stuhle, der dem Ihren den Bücken kehrt, sitzt der Polizeipräsident Graf Tolstoj, den mein Onkel einladen musste.“

Oder man gehe auf eine öffentliche Maskerade. Die größte, die während des Karnevals abgehalten wird, hat den Raum des ganzen Theaters zu ihrer Verfügung. Sie ist mit einer Tombola verbunden, deren Ertrag der Pensionskasse des Theaters zufällt und trägt danach den Namen Tombola. Sie beginnt um Mitternacht und findet in der Weise statt, dass alle Damen dicht in Dominos gehüllt und undurchdringbar maskiert sind, mit Masken, die nicht abgelegt werden, während die Herren weder Kostüme noch Masken tragen dürfen, sondern im Gesellschaftsanzuge umhergehen.

Diese Form der Maskerade ist an diesem Orte sehr alt. E. T. A. Hoffmann hat sie vor mehr als 80 Jahren als ein ausgelassenes und glänzendes Fest in dem damaligen vergnügungssüchtigen Warschau beschrieben.

Die Pikanterie liegt darin, dass die Damen den Herren sagen können, was sie wollen, sie angreifen, sich mit ihren Geheimnissen à jour zeigen, ohne leicht erkannt werden zu können. Das Vergnügen liegt darin, dass Verliebte sich treffen und miteinander verschwinden können. Wenn ein Mann sehr bekannt ist, wird er angesprochen und in Beichte genommen von einigen Dutzend Damen im Saale, ohne es erwidern zu können. Eine Dame kommt, nimmt seinen Arm und geht mit ihm, bis ein anderer sie ihm entführt.

Es sind ein paar Tausend Menschen anwesend und das Gedränge ist stark; aber von Lustigkeit findet man nicht die geringste Spur. Man hört weder Musik noch Singen, weder Lachen noch lautes Reden. Wenn das Liebesmummerei ist, so gleicht sie überraschend einem Leichenbegängnis oder genauer mehreren Leichenbegängnissen; verschiedene Leichengefolge bewegen sich still in den breiten Sälen aneinander vorbei.

Wo man sich auch befindet, bemerkt man den Druck.

Ich erinnere mich eines großen Frühstücks bei einem anerkannten Führer der demokratischen Jugend. Es waren nur Freidenker und Demokraten anwesend, Männer, die die Traditionen von 1863 weit, weit hinter sich haben. Das Bezeichnende für sie ist, dass sie Männer sind, die kaum irgend ein Ideal haben, das sie vor vielen hundert Jahren verwirklicht erwarten. Sie sind übrigens verschieden genug geartet, Polemiker, Missvergnügte, selbständig Denkende oder bloße Bewunderer und Nachplapperer, doch sind sie fast alle insofern guten Mutes, als sie überzeugt sind, dass die Welt sich umschaffen lässt; man muss es nur richtig anfassen. Darunter ist irgend ein erst verschuldeter, dann reich verheirateter Aristokrat, der im Stillen ganz so radikal wie die andern ist, und irgend eine Giboyer-Figur mit wirrem Barte und langen, in die Augen fallendem Haaren, der in der vorigen Woche zum fünften Male von einer russischen Festung in den Uralbergen zurückgekommen ist, wo er öfters mehrere Monate hindurch seine sozialistischen Sympathien abgebüßt hat.

Hier, wie überall in diesem stillen Lande, ist ein allgemeines Gespräch eine unbekannte Sache; man unterhält sich mit gedämpfter Stimme in kleinen Gruppen. Und um was sich auch das Gespräch dreht, immer stößt man, wie auf eine Mauer, auf die unzähligen Schranken und Hindernisse, gegen die jedes Streben nach einem menschlichen Zwecke unaufhörlich in diesem Lande anstößt. „Sie haben natürlich recht”, sagt der Wirt dem Fremden, „wir haben im Grunde hierzulande weder eine demokratische noch sonst irgend eine Politik, aber wir haben Spiegelungen dessen, was in Europa so genannt wird“ — ein gerade so zutreffendes als trostloses Wort.

Dieselbe Grundstimmung trifft man in anderen Schattierungen, wenn man mit der eigentlich intelligenten Bohême verkehrt, die sich nicht mit Politik beschäftigt, sondern ganz den Studien und der Kunst lebt. Wir sind hier (geistig verstanden) im Lande der äußersten Linken. Ich habe in Polen kaum einen interessanteren Kreis getroffen als den, welchen ich bei dem Kunstkritiker Antoni Sygietinski versammelt fand, der zusammen mit dem leider sehr kranken, hochbegabten Maler Witkiewicz den künstlerischen Radikalismus in Polen bezeichnet.

Sygietinski ist ein schlanker, schöner junger Mann mit einem langen roten Barte und einem Paar glänzender, begeisterter Augen. Gemeinsame künstlerische Sympathien haben ihn und seine Gesinnungsgenossen (polnische und fremde) zusammengeführt. In dem Kreise Swientochowskis stand eines Tages ein Fremder allein mit seinem ungünstigen Urteil über gegenwärtige polnische Malkunst. Die Worte lauteten ungefähr: „Eure Kunst ist auf ganz falschem Wege. Sie beachtet nicht das Leben. Ihr malt Allegorien oder Bitterschauspiele. Auf euren Ausstellungen ist jedes zweite Bild der Schluss eines fünften Aktes vor dem Fallen des Vorhangs. Euer großer verstorbener Idealist Grottger war ein Dichter, kein Maler. Euer großer lebender Meister Matejko ist ein kurzsichtiger Psychologe, kein Maler. Das Bild, das in diesem Jahre die Ausstellungsprämie erhalten hat, eine katholische Allegorie mit Engeln an einem Krankenbette, ist zum Entsetzen." — Jemand frag: „Gibt es nach Ihrer Ansicht wirklich gar nichts, was taugt?" Der Fremde antwortete: „Die Porträts von Horowitz und die Gemälde von Witkiewicz; aber das Beste, was ich gesehen habe, ist unzweifelhaft ein Album mit Zeichnungen der Brüder Gierymski. Die besten unter denselben sprudeln von Talent; darin liegt Naturstudium und malerischer Blick. Sie sind gesehen und empfunden, ein Lob, das man der modernen polnischen Kunst selten geben kann.“ — Ein hoher Mann hinter ihm klatschte in die Hände, es war der Mann, der das Album herausgegeben und seinen Text geschrieben hatte, Sygietinski.

So wenig ist die Kunst der Brüder Gierymski in ihrem Vaterlande verstanden worden, dass der Verleger, ein Enthusiast für moderne Kunst, 8.000 Rubel an diesem Album verloren hat. Zuletzt bot er öffentlich an, es den Abonnenten des Wochenblattes Wedrowiec gratis zu geben, aber die meisten mochten es nicht einmal umsonst holen.

Der Kreis, der sich um das genannte Blatt schließt, das leider kaum einem langen Leben entgegensieht, fasst als erste Kraft den energischen Maler Witkiewicz, der das Charakteristische wie wenige auffasst. Dann bildet er sich aus jungen Ärzten, Mechanikern, Literarhistorikern, Novellisten wie Frus, hochbegabten Handwerkern (einem Schmied, vielleicht dem feinsinnigsten Literaturkenner in Polen), Malern, Musikern, Kunstfreunden Vertretern des verfeinerten Radikalismus.

Die Gruppe Swientochowskis ist trotz ihrer hohen Bildung in anderer Hinsicht, in der Kunstanschauung veraltet. Die Männer, die dazu gehören, haben vorzügliche Büchersammlungen, aber Bilder an ihren Wänden, die ein französischer Concierge verschmähen würde. Swientochowski schreibt selbst altmodisch geformte Tendenzdramen wie Elvia oder Antea. Die jüngeren Männer, die in Wedrowiec schreiben oder dafür zeichnen, leben in Stuben ohne Möbel, haben aber herrliche Zeichnungen und Gemälde an den Wänden. Nicht nur ihr Gedankengang sondern ihre Sinne, ihre Augen sind modern. Sie gleichen wilden Vögeln, und da gleich und gleich sich gern gesellt, hat sich, bezeichnend genug, derjenige unter ihnen, der die lebhafteste Feder führt, mit einer außergewöhnlich schönen, wilden Indianerin aus Südamerika verheiratet. Sie eignet sich insofern für Polen, als es sich unmöglich erwiesen hat, ihr einen Begriff von Geld und Geldeswert beizubringen.

In diesem Kreise herrscht die Freiheit der Bohême, ein Hauch der wirklichen Geistesfreiheit, die die Lungen füllt — aber sie füllt sie in aller Stille, so wenig lärmend als möglich. Auch hier wirkt ein unsichtbarer Druck von oben herab. Auch hier liegt eine ewige Sordine auf der Stimmung, eine Sordine des Ernstes, der Wehmut, der stillen Verzweiflung, ob man jemals etwas Gutes erleben werde. Man genießt Kunst und Ideen als Mittel der Betäubung oder des Vergessens. Und alle diese jungen Männer, was sie auch seien, Schriftsteller, Journalisten, Zeichner, Ärzte, Mechaniker u. s. w. müssen, ganz zu geschweigen von dem Kampfe ums Brot, täglich einen doppelten Kampf kämpfen, sie müssen die Ideen der europäischen Umgebung aufnehmen und müssen der heimischen Umgebung ihre Ideen mitteilen.