Das Zensurkomitee. Schwierigkeiten, Erlaubnis zum Halten einiger Vorträge zu erlangen

Wenn man in Warschau vom Theaterplatze die Miodowastraße hinabgeht, hat man zur Linken No. 7 ein Haus, über dessen Pforte mit russischen Buchstaben diese Worte stehen: Das Zensurkomitee. Man geht über den Hof zur Rechten in eine schmale Straßentür hinein und man sieht wie in einem Posthause ungeheure Stapeln von Zeitungen und Büchern in Kreuzband ausgebreitet und aufgehäuft liegen. Es ist die Tagespost.

Jede einzelne Zeitung, die ankommt, wird aus dem Kreuzbande genommen und untersucht; was missfällt, wird geschwärzt. Jedes Buch wird geöffnet und durchblättert. Es gibt folglich keine regelmäßige Ankunftszeit für diese Art von Sendungen. Man erhält mitunter drei, vier Zeitungen auf einmal und wiederum in vier, fünf Tagen keine Zeitung.


In einem andern Baume werden die inländischen Zeitungen geprüft. Sie sind wegen der Zensurverhältnisse fast alle Abendzeitungen. Nichtsdestoweniger sind sie außer Stande, von der auswärtigen Tagespost Gebrauch zu machen, die zur Nachmittagszeit über Berlin ankommt. Sie sind im allgemeinen arm. Mit Einer Ausnahme sind sie alle von Privaten subventioniert. Ihre Abonnentenzahl erhebt sich selten über 1.500. Die Journalisten von Fach sind genötigt in vier oder fünf verschiedenen Blättern über die gleiche Frage zu schreiben, um von ihrer Feder leben zu können.

Um 11 Uhr gehen von den Zeitungsredaktionen alle Korrekturen nach der Zensur ab. Man streicht nach Lust und Laune, je nachdem man mehr oder weniger persönliche Animosität gegen den Verfasser hat, je nachdem man Zugeständnisse von ihm zu erreichen hofft und je nachdem man mehr oder weniger bestochen ist.

Fast alle Artikel, worin wirklich etwas gesagt wird, sind daher darauf berechnet, beim ersten Durchlesen nicht verstanden zu werden. Die Sprache ist abstrakt, unbestimmt, zweideutig. Das ganze Publikum ist herangebildet, zwischen den Zeilen zu lesen. Fast alle Feuilletons sind Allegorien; sie sagen das eine und drücken das andere aus. Da Worte wie Freiheit oder Vaterland immer verboten sind, ist es begreiflich, dass man der Umschreibungen bedarf.

Um 4 Uhr kommen die Korrekturen nach den Redaktionen zurück. Das Gestrichene muss durch Reserveartikel ersetzt werden, die man bei Zeiten hat zensorieren lassen und als Füllsel parat liegen hat.

An einer andern Stelle werden alle fremden Bücher geprüft, wieweit man sie zum Verkauf in den Buchhandlungen zulassen darf oder nicht. Man erlaubt verschiedenes Naturwissenschaftliches — Darwin, Häckel — sogar übersetzt, dagegen wenig Historisches. Der äußerst konservative polnische Historiker Szujski ist ganz verboten, selbst in deutscher Sprache, weil er über polnische Stoffe schreibt.

Es ist selbstverständlich, dass die Bücher, die im Lande selbst erscheinen, mit äußerster Strenge geprüft werden. Sogar die Klassiker des Altertums werden untersucht. Man hat den Fall gehabt, dass der römische Vers: nec timeo censores futuros gestrichen wurde, weil man ihn übersetzte: Ich furchte nicht die Zensoren der Zukunft (der Sinn ist: der Zukunft Urteil). In einem Drama über Polens Vergangenheit strich man vor Jagiello das Wort König von Polen und ersetzte es durch Herzog, obgleich es nie Herzöge von Polen gegeben hat. Ja selbst die Kochbücher werden aufmerksam und so kleinlich zensoriert, dass kürzlich in einem die Worte: über einem gelinden Feuer gekocht werden (auf polnisch: über einem freien Feuer) gestrichen wurden, weil das Wort frei vorkam.

Wieder anderwärts prüft man die Manuskripte zu öffentlichen Vorträgen, die Texte zu Deklamationsnummern, die Lieder zu Konzerten. Selbst wenn ein Lied einer Gedichtsammlung angehört, die zehnmal in verschiedenen Auflagen die Zensur passiert hat, darf es nicht bei einer Abendunterhaltung gesungen werden, ohne aufs Neue geprüft worden zu sein.

Es geschah im Winter, dass eine Schauspielerin, die, bei einer solchen Gelegenheit hervorgerufen, als Zugabe ein kleines, unschuldiges Gedicht von einer Mutter und ihrem Kinde deklamierte, das nicht auf dem Programm stand, eine Geldstrafe von nicht weniger als hundert Rubel erhielt.

Ich habe in diesem Winter Gelegenheit gehabt, die Zensur ganz in der Nähe zu studieren. Zum Dank für die Freundlichkeit, die man mir im vorigen Jahre in Warschau erwies, hatte ich das Versprechen gegeben wiederzukommen und dieses Mal über die polnische Literatur dieses Jahrhunderts zu sprechen, die von den inländischen Kritikern fast nur philologisch behandelt ist.

Die Aufgabe war aus vielen Gründen äußerst schwierig. Sie bot fürs erste die innere Schwierigkeit, dem polnischen Publikum etwas neues über eine Literatur zu sagen, die es besser als ich selbst kannte. Dazu kamen die äußeren Schwierigkeiten. Es ist an der Warschauer Universität unbedingt verboten, über die Geschichte und Literatur Polens nach dem Jahre 1500 zu sprechen. Nicht einmal auf russisch, nicht einmal in russischem Geiste darf der Stoff durchgenommen werden. Und hierzu kommt, dass die gute Literatur dieses ganzen Jahrhunderts bis zum äußersten patriotisch, durchgehend feindlich gegen die russische Herrschaft und deshalb verboten ist.

Wie sollte ich bei der Besprechung von Mickiewiczs Dziady verfahren, worin politisches Gefängnis leben in Wilna geschildert wird, oder bei Slowackis Kordjan, der einen Mordversuch gegen Kaiser Nikolaj behandelt, oder bei Krasinskis gesamter Produktion, gar nicht von den Kriegs- und Aufruhrlyrikern zu reden, und wie sollte ich es möglich machen, über all dieses nicht zu sprechen?

Zuvörderst galt es überhaupt Erlaubnis zum Sprechen und über diesen Stoff zu sprechen, zu erhalten. Man konnte nur auf eins bauen, auf die Unlust der entscheidenden Persönlichkeiten, vor Europa als Barbaren zu stehen. Mitte Januar ließ ich den Grafen Tolstoj, den Polizeipräsidenten, um Erlaubnis ersuchen, Vorträge zu wohltätigem Zwecke halten zu dürfen. Mitte Februar kam die Antwort; es war mir erlaubt, dreimal im russischen Februar (dessen erster unserem dreizehnten entspricht) zu sprechen. Ich fuhr nun schnell, der Zensur wegen, zum Präsidenten der Zensur, Herr Ryzow, und begründete mein Ersuchen mit der Aufforderung, die man im Jahre vorher in Warschau an mich gerichtet hatte: „Kommen Sie wieder und sprechen Sie einmal über unsere eigene Literatur!" — „Ah! Sie wollen die russische Literatur behandeln." — „Dieses Mal nicht, Exzellenz! Sie wissen, dass man hier in der Regel polnisch spricht und sich am meisten für das interessiert, was in dieser Sprache geschrieben ist." — „In welcher Sprache wollen Sie sprechen?" — „Auf Französisch." — „Das ist gut; dann können Sie viel sagen. Sie wenden sich dann an die gute Gesellschaft. Anders stünde es, falls Sie deutsch sprechen würden; es gibt so viele Ungebildete, unruhige Köpfe, die deutsch verstehen."

Seine Exzellenz versprach mir schnelle Erledigung und hielt Wort.

Erst jetzt konnte ich jedoch die Ausarbeitung beginnen, und damit ging es äusserst langsam vorwärts.

Es gab Tage, wo ich trotz allen angewandten Fleißes fast nichts schreiben konnte, Tage, wo ich mich vergebens nach Ausdrücken mit doppelter Bedeutung abmühte, nach Bildern, die an und für sich weniger deutlich, doch von dem Auditorium verstanden werden konnten, Umschreibungen, die durchsichtig und doch unangreifbar waren. Glücklicherweise liebt dieses polnische, halb morgenländische Volk mehr den bilderreichen als den rein rationellen Stil, und ist in diesem Punkte wie in mehreren dem französischen gerade entgegengesetzt.

Nach und nach erhielt ich Übung in dem Rebusstil, schrieb derart, dass ich bei einer Betonung oder einer Pause dem Satze einen neuen und lebhafteren Charakter verleihen konnte, bewegte mich in Andeutungen und Hintergedanken.

Endlich hatte ich von meiner ersten Vorlesung zwei französische Exemplare und ein russisches für den Kurator der Universität fertig. Ich versah sie mit den notwendigen Stempeln, fuhr mit der ersten Vorlesung zum Zensurpräsidenten und bat, dass die Zensur beginnen möge. Ich hatte einen Priester mitgenommen — es ist immer gut einen Priester mit zu haben, er hat überall Freunde, in Polen besonders unter den höheren polnischen Beamten der Bureaux. Es lag auch nichts im Wege. Aber zu allem Unglück verweigerte Apuchtin, die Zensur des russischen Textes zu beginnen, ehe er alle Vorträge hatte.

Dies war schlimm; denn ich wollte aus dem in dem ersten Vortrag Gestrichenen ersehen, was ich in den andern wagen konnte.

Da es nun klar war, dass der russische Februar zu Ende gehen würde, ehe ich die Vorträge von der Zensur zurückbekam, und da ich außerdem sah, dass drei Vorträge mir zur Beherrschung des Stoffes nicht genügen würden, selbst wenn ich jedesmal gegen zwei Stunden sprach, ersuchte ich den Polizeipräsidenten um Erlaubnis, anstatt drei, vier Vorträge halten zu dürfen, und bat um eine Fristverlängerung über den russischen Februar hinaus.

Die Zahl vier ließ sich nicht bewilligen. — „Warum nicht?" frag man. — Die Antwort lautete: „Weil drei Vorträge eine Unterhaltung sind, vier sind schon ein Unterricht." — Man fürchtete, wie sich zeigte, dass man unter der Form von Wohltätigkeitsvorlesungen auf dem Rathause eine Art polnische Universität einrichten könne, worin ein Zyklus von Vorträgen auf irgend eine Weise den andern fortsetze.

Nun stand noch das Ersuchen um Verlängerung der Frist aus. — „ Warum sprechen Sie nicht im Februar? das liegt an Ihnen, wenn Sie es nicht tun.“ — Ich berief mich auf die Schwierigkeiten mit der Zensur. — Ja, ja, da war folgendes zu tun: ein schriftliches Ersuchen an den Polizeimeister richten; dieser würde es dann Apuchtin zuschicken, jener es zu General Gurko expedieren; dieser würde dann möglicherweise in Petersburg anfragen, ob es bewilligt werden könne, und es würde durch dieselben Instanzen in umgekehrter Ordnung zurückkommen. — Wann die Antwort erwartet werden konnte? — Nun, in ungefähr fünf Wochen. — Aber dann wäre ja der März zu Ende, und zum ersten April (russischen Stils) musste ich in Kopenhagen sein. — Ja, das sei meine Sache, und ginge die Behörden nichts an.

Man war ersichtlich nicht sehr begierig, Vorlesungen über polnische Nationalliteratur in Warschau gehalten zu bekommen.

Um diese Zeit erhielt ich meine erste Vorlesung von der Zensur zurück. Man war ihr nahe gegangen. Der ganze Schluss, mehrere Seiten, war gestrichen, und überall waren die Ausmerzungen zahlreich. Selbst ein bekanntes Zitat von Schiller: Der Lebende hat Recht war gestrichen, Worte wie Resignation, oder Tristesse, zur Charakteristik der polnischen Literatur gebraucht, waren entfernt. An einer Stelle wo über die katholische Religiosität der Dichter gesprochen wurde, waren diese Worte überstrichen. An einer andern Stelle, wo über das Leben gesprochen wird, das Mickiewicz in seinem berühmtesten Werk schildert, war der rote Tintenstrich über diese Worte gegangen: die litauischen Wälder, der natürliche Rahmen dieses Lebens. Wo da stand: Zum ersten Male seit der Teilung des Reiches, waren die fünf letzten Worte entfernt.

Das wirkte insofern niederschlagend, als ich einsah, dass von der zweiten Vorlesung die am kühnsten war, fast nichts übrig bleiben würde. Ich schrieb nun die dritte fast farblos in politischer, religiöser und sozialer Hinsicht und suchte nach Kräften der Schwäche durch stärkeres Kolorit des Vortrages und Stiles abzuhelfen.

Da geschah aber, dass mein Zensor, der einzige verhasste unter Warschaus Zensoren, ein gewisser Funkenstein, plötzlich starb. Man fand meine zwei letzten Vorträge unverbessert unter seinem Kopfkissen. Man war mir in Warschau so dankbar, als hätte ein Kausalzusammenhang zwischen dieser eben genannten Tatsache und seinem Abtreten von seinem irdischen Richteramte bestanden.

Nun sah alles lichter aus; man konnte Hoffnung auf eine glimpflichere Behandlung hegen. Um den Prozess zu verkürzen, beschloss ich mich direkt an den Generalgouverneur zu wenden. Es ließ sich vermuten, dass der Held von Tirnowa und dem Schipkapasse nicht so kleinlich wie untergeordnete Polizeibeamte und untergeordnete Zensoren sein würde. Ich fuhr an Gurkos Audienztag zum Schloss. Es ist das alte Königsschloss an der Weichsel, unverändert im Äußern, aber all seiner Kunstschätze beraubt.

Im Vorzimmer, einem länglichen Saal, saßen in Reihen mehrere hundert Bittsteller mit Gesuchen. In dem inneren Saale, geräumig und leer mit großen Spiegeln und roten Möbeln, gingen die Notabilitäten der Stadt, alte Senatoren, alte Generäle, der Zensurpräsident, der Theaterpräsident, auf ihren Eintritt wartend, in ihren Uniformen hin und her. In der Mitte des Saales stand ein junger russischer Kavallerieoffizier, Gurkos Adjutant, schlank und schön, der mit den andern Süßen fließendes französisch mit stark russischer Betonung sprach, und die Fersen zusammenschlug, dass die Sporen klirrten, sich in Tanzschritten übte, von den Hofbällen in Petersburg zu träumen schien. Ihm trug ich mein Ersuchen um Audienz vor. Er schlug es mir unbedingt ab. Die Audienzzeit begann um ein Uhr und es war jetzt vier Minuten nach eins. Auf meine Einwendung, dass ich keineswegs erwartete, zuerst vorgelassen zu werden, erhielt ich die Antwort, dass die Liste der Audienzsuchenden gleich nach ein, Uhr geschlossen und zum Generalgouverneur hineingeschickt werde. Da ich dennoch erklärte, nicht gehen zu wollen, sondern fest entschlossen, wie ich war, mir den Weg zu General Gurko zu bahnen, ruhig auf einem Sofa Platz nahm und wartete, kam ein Pole mit einem großen Stern zu mir und frag mich, ob ich vielleicht auf der Liste der Petitionäre stehe; er meinte: auf der Liste der ärmlichen Bittsteller im Vorsaal. Als ich nein antwortete, versprach er, mich auf diese zu oberst zu setzen. Dann würde der General, sobald er mit den privaten Audienzen fertig sei und aus seinen Gemächern trete, sich zuerst zu mir wenden.

Mehr als drei Stunden musste ich warten. Dann kam der General mit seinem Gefolge: „Sie wollen mich sprechen? Ihr Anliegen?" — Ich trug mein Gesuch vor, im März reden zu dürfen, da Februar fast verlaufen war. — „Mais c'est tout simple." — Ich erklärte, dass ich auf Hindernisse gestoßen sei, die für mich unüberwindlich seien. — „Wer verbietet es Ihnen denn?" — „Exzellenz! es bedarf keines Verbotes. Aber ich bedarf einer Erlaubnis, und man gibt sie mir nicht." — „Gut! ich erlaube es Ihnen." — „Man wird mir nicht glauben, wenn ich nicht wenigstens ein geschriebenes Wort von Eurer Exzellenz mitbringe. Ich habe ein schriftliches Gesuch, das ich an Sie gerichtet habe, hier." — Er nahm den Brief und meinen Bleistift und schrieb quer über das Papier: Befohlen. Gurko.

Die Hauptschwierigkeit war somit glücklich aus dem Wege geräumt. Aber noch war es unmöglich, die Vorlesungen anzuzeigen, weil der russische Text nicht von Apuchtin zurückgekommen war.

Zweimal ersuchte ich um persönliche Audienz bei ihm; beide Male erhielt ich durch seinen ersten Beamten die Antwort, dass Herr Apuchtin mich nicht empfangen könne, aber dass er selbst meine Vorträge mit dem höchsten Interesse lese — ein Interesse, dass ich gerne entbehrt hätte und das mir von schlechter Vorbedeutung schien.

Endlich erhielt ich sie zurück. Nichts war ausgestrichen; meine Aufmerksamkeit wurde nur durch einige Tintenstriche am Rande auf einzelne Stellen hingeleitet, wo die Ausdrucksweise für ein kitzliges russisches Nationalgefühl anstößig war, z. B. wo stand, dass Mickiewicz von ausländischen Schriftstellern Lamennais und Puschkin beeinflusst habe. Diese Striche verrieten einen gebildeten und scharfsinnigen Leser, und ich musste anerkennen, dass man sich mit einem Fingerzeig begnügt hatte, wo man ausstreichen -und verbieten konnte.

Nun fehlte nur die Erlaubnis des Polizeipräsidenten, des Grafen Tolstoj zum Anschlagen von Plakaten. Man zeigt nämlich Vorlesungen gerade wie Theateraufführungen durch Plakate, nicht durch Zeitungsannoncen an.

Aber es wurde unnötig die Plakate anschlagen zu lassen. Denn mit so viel Spannung und Interesse hatte die Stadt die Bestrebungen verfolgt für die Berechtigung, Vorträge über polnische Literatur halten zu dürfen, dass, sobald sich das Gerücht von Apuchtins Erlaubnis verbreitete, alle Billette, 3.600 an Zahl (zu den drei Vorlesungen) in einigen Stunden ausverkauft waren. Als die Bewilligung zum Anschlagen der Plakate an demselben Vormittag kam, war sie somit schon überflüssig.