Erziehung und Unterricht. Demokraten, Sozialisten, Freidenker. Die Zwangswahl der Gebildeten

In Russisch-Polen hat der Druck seit der Teilung des Reiches nun die größte Höhe erreicht. Die Knebelung der Presse ist so vollständig, dass Widerlegung der Beweisführung in Bismarcks Reden oder ein Angreifen derselben streng verboten war. Man durfte nicht einmal dartun, dass die polnische Agitation, die es nach des Fürsten Behauptung zu bekämpfen galt, aus guten Gründen nur in dem ungebrochenen Willen besteht, die Nationalität und Sprache gegen den fremden Eroberer zu behaupten, der seinerseits die ganze Staatsmaschine in Bewegung setzt und alle Machtmittel anwendet.

Das Bestreben der Regierung ist, wie schon erwähnt, in Russisch-Polen besonders auf zwei Ziele gerichtet: Russifizierung des Grundbesitzes und Ausrottung der polnischen Sprache.


Der Ukas von 1865, der oben berührt ist, verbot den Polen in den alten polnischen Provinzen anderen als ihren Kindern Grundbesitz zu hinterlassen. Im März 1886 trafen jedoch die russischen Gerichtshöfe eine Entscheidung von noch weitreichenderer Bedeutung, indem ein Testament, worin ein litauischer Gutsbesitzer sein Gut seinem Sohne hinterlassen hatte, ungültig erklärt und das Eigentum verauktioniert wurde.

Im Königreiche Polen ist es noch erlaubt auf offener Straße polnisch zu sprechen und eine Bekanntmachung auf polnisch zu schreiben, vorausgesetzt, dass sie darüber auf russisch zu lesen steht, aber überall außerhalb des sogenannten Königreiches — in ganz Litauen nordwärts, und im Süden hinunter bis Odessa — überall, wo in den gebildeten Klassen Kultur und Sprache noch polnisch sind, findet man in und an allen öffentlichen Gebäuden ein Plakat mit den Worten angeschlagen: Polnisch zu sprechen ist verboten. Übertretungen werden hart bestraft, und jeder Funktionär, bis zum niedrigst gestellten, der angegeben wird, einige polnische Worte gesprochen zu haben, selbst als Antwort auf eine polnische Frage, selbst zu Personen, die keine andere Sprache verstehen, wird mit hoher Geldstrafe oder Abschied bestraft. Ein Pferdebahnkondukteur erhielt kürzlich eine Geldbuße von 25 Rubel, größer als sein Monatsgehalt, weil er eine polnische Frage in derselben Sprache beantwortet hatte.

Man stelle sich nur eine Gerichtsscene in Russisch-Polen vor: Der Untersuchungsrichter, der meist von polnischer Geburt ist und mühsam mit schlechter Betonung russisch spricht, fragt in seinem Russisch den Angeklagten aus, einen polnischen Bauer, der kein Wort von der Rede des Richters versteht. Die Fragen werden ihn daher von einen Dolmetscher übersetzt. Er antwortet polnisch. Erneutes Übersetzen durch den Dolmetscher, so unnötig es auch ist. Und so fährt man unausgesetzt mit Fragen und Antworten fort, weil weder der Untersuchungsrichter noch der Verklagte ihre Muttersprache reden dürfen. Und bei der öffentlichen Verhandlung spricht der Kläger gegen den Angeklagten in einer Sprache, die dieser nicht versteht, ebensowenig wie er ahnt, was der Verteidiger antwortet.

Das Königreich Polen, wo noch erlaubt ist, unter sich die Sprache zu reden und wo von alter Zeit her noch der Code Napoleon gilt, erscheint den Bewohnern der andern Provinzen vergleichsweise als ein Paradies der Freiheit. Man reist von Wilna nach Warschau um einmal im Jahre einige Wochen aufzuatmen.

Wer beobachtet hat, wie die Zustände in diesem Freiheitsparadiese sind, kann auf die der umliegenden Provinzen schließen.

Was erstens die Erziehung betrifft, halten die Eltern so lange als möglich die kleinen Knaben und Mädchen von der Schule fern, unterrichten sie selbst oder lassen sie unterrichten, um diese ersten Kenntnisse auf polnisch und in polnischem Geiste beizubringen. Das Kind saugt mit der Muttermilch die Geringschätzung und den leidenschaftlichen Hass gegen die Russen ein. Alles, was es in den ersten Lebensjahren hört, stärkt diesen Hass und diese Geringschätzung. Es erfahrt so viel Großes und Gutes von der hohen Kultur und dem hohen Mute seiner Landsleute, dass es Polen und den Polen alles Große zutraut. „Ist es möglich, dass Kolumbus kein Pole war?“ frag ein kleiner Knabe in meiner Gegenwart seine Mutter. Dagegen ist in der Regel alles, was das Kind hinsichtlich der Russen erfährt und erlebt, ungünstiger Art, oder es erhält eine ungünstige Auslegung. Die russischen Offiziere treten an öffentlichen Orten bescheiden auf; man sieht sie meist allein, selten zu zweien. Es ist nicht Sitte, dass sie, wie es bei andern Heeren geschieht, grüßen, wenn sie sich begegnen. Ihr Auftreten verrät nichts junkerhaftes, sie scheinen sich eher als missliebige Vertreter des herrschenden Stammes von der Situation bedrückt zu fühlen. Aber die Uniform ist unpopulär; man rechnet den Offizieren ihre schlichte Haltung nicht als Vorzug an, fasst sie eher als Beweis eines Gefühls geistiger Unterlegenheit auf. Und ein vereinzelter kleiner Zug wie der, dass der Wagen des russischen Generals beim Fortfahren von einem öffentlichen Balle die aufgestellte Wagenreihe unterbricht und voranfährt, erweckt das volle Gefühl, dass man in einem vom Feinde eroberten Lande wohnt.

Selbstverständlich ist in Warschau eine russische Kolonie, aber es gibt keine eigentlich russische Gesellschaft, weil unter den dort wohnenden Russen allzu große Standesunterschiede herrschen. Sie wollen sich gegenseitig nicht als ihresgleichen ansehen. Und die russischen Beamten haben dort, wie überall, keinen besonders guten Ruf. In Polen kommt noch der Umstand hinzu, dass die besseren Russen sich für zu gut halten als Beamte dorthin zu gehen. Sie wollen nicht einen so verhassten Auftrag übernehmen.

Vor einigen Jahren wurde ein russischer Gelehrter zum Professor der Zoologie an der Universität in Warschau ernannt. Er kam an und man zeigte ihm das Museum mit ausgestopften Tieren. Er bemerkte, dass die Namen, die daran angeschlagen, nur auf Lateinisch und Russisch geschrieben waren. „Und auf polnisch?" frag er. Der Rektor der Universität bedeutete ihm, dass er nach Warschau berufen war, nicht um in erster Linie den Studenten Zoologie zu lehren — ob sie etwas mehr oder weniger davon lernten, sei verhältnismäßig unwichtig — sondern um in erster Linie russische Propaganda zu betreiben. Der neue Professor frug dann nur, wann der Zug nach Petersburg gehe, und reiste spornstreichs zurück. So geschah es auch, dass die beste russische Schauspielerin sich weigerte mit der kaiserlichen Truppe nach Warschau zu reisen, und erklärte nicht dort auftreten zu wollen, ehe sie polnisch spielen könne.

Solche Züge sind seltene, sehr seltene Ausnahmen.

Es sind Züge ganz entgegengesetzter Natur, deren das polnische Kind täglich Zeuge ist und worüber es zu Hause erzählen hört. Der Hass wider die Moskowiten (Moshd) wird ein Teil seiner Natur.

Nun kommt es mit einem Male zur Schule, d. h. es wird dem russischen Staate, russischen Lehrern übergeben; zu Hause hat die Mutter es in die auf der Straße verbotene polnische Nationaltracht gekleidet; zu Hause hat es mit Bilderbüchern und Bildern gelebt, die ihm Szenen aus der alten polnischen Geschichte, aus den Revolutionen dieses Jahrhunderts, aus dem Zuge der Verbannten nach Sibirien zeigten; es kennt Polens Lebenslauf ganz genau — in der Schule wird der Knabe in russische Uniform gesteckt, nur russisch angeredet, darf nie ein Wort, das nicht russisch ist, reden, hört nie von Polen oder von polnischer Literatur, oder wenn Polnisches erwähnt wird, als vom Verbotenen, Schlechten. Er lernt hier, dass er Russe ist, und nichts anderes als Russe. Welche Verwirrung in der Seele des Kindes! Der Knabe wird zum heucheln, zum schweigen gezwungen. Die Keime zum Trotz und zur Selbstbeherrschung, oder zur Falschheit und Kriecherei werden in sein Gemüt gelegt. Verzweifelte Fragen, ob Widerstand nütze, ob Gerechtigkeit existiere, entstehen notwendigerweise.

Die Schulen sind schlecht. Der Umstand, dass der ganze Unterricht in einer fremden Sprache erteilt, und dass eine unverhältnismäßige Kraft auf ihr Aneignen verwendet wird, die Unlust und der Zwang, die eine Folge davon sind, endlich die Gewohnheit, in dem Lehrer einen Fremden und einen Feind zu sehen, wirkt in hohem Grade vermindernd auf den Erfolg. Nur eine Minderzahl der Studenten versteht französisch und kann es ordentlich sprechen; es gibt wohl jetzt einige mehrere, welche die Grenzsprache deutsch verstehen und sprechen, aber die meisten können kaum fremde Bücher lesen, und viele verstehen nicht eine einfache französische oder deutsche Frage. Die Wohlhabenderen reisen alle ins Ausland um zu studieren; können sie hierzu keine Erlaubnis erhalten, so gehen sie lieber nach Petersburg, wo weniger Unfreiheit und bessere Professoren sind, als dass sie in Warschau bleiben, wo der Universitätsunterricht meist erbärmlich ist.

Da die Universität mit einem Schlage aus polnisch russisch gemacht wurde, forderten die Professoren, die nicht russisch konnten, ihren Abschied. Verschiedene blieben doch, meist aus patriotischen Gründen. Aber allmählich ist die Universität gereinigt worden, die polnischen Professoren wurden durch russische oder russisch gesinnte ersetzt. Man hat das Reglement gegeben, dass ein jeder Professor nach 20jährigem Professorat verabschiedet werden kann, wenn die Fakultät ihn nicht besonders festhält. Einen hervorragenden polnischen Professor hält sie nun nie. So bekam vor einem Jahre der erste Mediziner der Universität Baranowski seinen Abschied wegen Altersschwäche, obgleich er, der früh berufen worden, nur gerade 50 Jahre alt war und in seiner vollen Kraft stand. Zum Professor der Ästhetik und Literaturgeschichte hat man mit Übergehung des verdienten und gründlichen Literaturhistorikers, Piotr Chmidowski einen gewissen Struwe berufen, den einzigen, der zu haben war, der russisch sprechen wollte. Er schwingt sich zuweilen zu drei Hörern auf.

Die Räume sind so klein, dass keiner über hundert Personen fasst, und keiner derselben ist jemals voll.

Die Studenten müssen wie die Schüler Uniform tragen, und sie stehen unter strenger Aufsicht. Irgend welche Vereinigung zu bilden ist ihnen natürlich verboten. Sie dürfen nicht einmal in Gruppen auf der Straße stehen, und versammeln sie sich privat öfters in einer Anzahl von sechs oder sieben, so können sie gewiss sein, angegeben und bestraft zu werden; denn man weiß alles. Niemand geht ungesehen in ein Haus ein und aus. Man kennt nicht Türschlüssel — und keine nordische Einrichtung, die man erwähnt, wundert einen Bewohner von Russisch-Polen mehr als der Türschlüssel. „Duldet die Regierung solche Schlüssel?" heißt es mit Staunen. Jeder, selbst der Herr des Hauses muss an seiner Türe läuten und der Pförtner (Stróz), der dem russischen Dvornik entspricht und dessen Beruf ist, für die Sicherheit der Bewohner zu sorgen, leistet unter allen Umständen auch Dienste als Polizeiorgan.

Die Studenten sind meist darauf hingewiesen, allein zu studieren — aber auch dieses ist erschwert. Eine Menge der berühmtesten fremden Werke sind, ebenso wie die wichtigsten aus der eigenen Literatur des Landes, verboten und müssen als Schmuggelgut über die Grenze geschafft werden, was teils verteuernd wirkt, teils Gefahr mit sich fuhrt Es ist demnach nicht zu verwundern, dass man unter den aufgewecktesten dieser jungen Männer viele mit weitgehenden oppositionellen Anschauungen findet.

Es gibt unter ihnen keine Nihilisten; man kennt weder den Namen noch die Sache in Polen. Die vorgeschrittenen unter ihnen fallen in zwei Gruppen. Sie nennen sich teils Demokraten, teils Sozialisten. Die Demokraten huldigen annähernd den Anschauungen, die in Prawda verfochten werden. Ihr Hauptinteresse ist jedoch nicht ein soziales oder politisches, sondern ein rein geistiges. Sie bilden die erste freidenkende Gruppe dieses Jahrhunderts in Polen. Aber da der Katholizismus und die Priestermacht von Alters her ihre Stütze in der die nationale Überlieferung vertretenden polnischen Aristokratie hat, und da die Presse der Aristokratie, besonders das Blatt Slowo das Organ des Katholizismus ist, so verschmilzt die Freidenkerei mit demokratischen Neigungen und Zielen.

Die jungen Männer, die der demokratischen Richtung huldigen, würden gerne moderne Gedanken, Anschauungen, Theorien und Bücher in Polen einführen. Selbst die trivialen Proteste Max Nordaus würden sie gerne übersetzen, falls die Zensur es zuließe. Ihr wichtigster Wortführer, Swientochowski, ist ein Mann von ungefähr 40 Jahren, schön, klaräugig, hartnäckig, mit dem Kopf eines Provinzchristus, Poet und Stilist, vor allem ein Charakter. Er hat große Fähigkeiten als Polemiker und Tendenzschriftsteller, aber gerät durch seine Rechthaberei leicht in kleine Plänkeleien; es gebricht ihm an Grazie und Takt. Seine Hauptaufgabe ist der Kampf gegen die katholische Geistlichkeit. Aber der Angriff auf die Geistlichkeit ist in Polen, noch mehr als anderwärts, eine unpopuläre Sache, weil die Nationalität des Landes während so langer Zeit mit der römischen Religion verknüpft war und weil der Religionsunterschied noch heutigen Tages — da die Volksaufklärung so gering ist — das stärkste Bollwerk der Nation ausmacht.

Es zeigt sich denn auch — obwohl es geleugnet wird und die Anhänger Prawdas es ungern hören, — dass die Zensur auf dieses Blatt mehr Rücksicht als auf irgend ein anderes nimmt. Es darf Dinge sagen, die andern Blättern verboten würden. Denn alles, was kosmopolitisch wirkt und was die katholische Kirche untergräbt, erscheint Russland weit weniger gefährlich, als die national-religiöse Tendenz. Für Russland ist der Einfluss der römischen Kirche noch immer Hauptfeind und Hauptgefahr.

Es gibt nur Eine Macht, die Russland in Polen in gleichem Grade, vielleicht noch mehr verfolgt und furchtet; das ist — sonderbar genug — der Sozialismus.

Ich sagte, dass eine Gruppe der studierenden Jugend sich Sozialisten nennt; ein großer Teil der Arbeiterbevölkerung ist außerdem durch Beeinflussung aus Deutschland sozialistisch gesinnt. Ich glaube, dass diese sogenannten Sozialisten unter den Studenten die besten unter ihnen sind, die kenntnisreichsten, die begeisterten und aufopferndsten; es sind meist junge Mediziner, die sich die moderne Naturwissenschaft angeeignet haben, und die durch Eindrücke von erster oder zweiter Hand Anhänger von Karl Marx geworden sind. Sie empfinden lebhaft die Ungerechtigkeit des bestehenden Gesellschaftszustandes. Es dünkt ihnen, dass selbst wenn Polen per impossibile frei würde, wenig oder nichts gewonnen wäre, wenn Aristokratie und Klerisei den herrschenden Einfluss bewahren und das Kapital fortgesetzt die Vermögenslosen ausnützen würde. Sie haben nichts gegen die Russen als Russen und träumen unbestimmt von einer Allianz mit den revolutionären Elementen Russlands, die sie übrigens nicht kennen. Sie büßen hart für diese jugendlichen und ganz platonischen Sympathien mit dem Sozialismus. Denn jeder Student, den man wegen sozialistischer Propaganda angibt oder verdächtigt, wird schonungslos ins Kastell gesperrt, selbst wenn er nicht den geringsten ungesetzlichen Schritt unternommen hat.

Die Gefahr, die von dem russischen Sozialismus droht, ängstigt die Regierung vor dem polnischen. Die fünf politischen Verbrecher, die in den letzten Tagen des Januars im Gefängnis in Warschau gehängt wurden, waren Russen. Die Rechtssache, die hier ihren Abschluss fand, drehte sich um eine von einem Unterrichter Namens Bardowski angestiftete Verschwörung, die auf ein ganz aussichtsloses politisches Komplott ausging. Man hatte sozialistische Proklamationen abgefasst, die an die Arbeiterbevölkerung Warschaus ausgeteilt werden sollten; man hatte mit einem Dolchstoß einen Zigarrenhändler gemordet, in dessen Laden einer der Verschwörer, ein Ingenieur, Namens Kunicki, töricht genug das Protokoll mit den Namen aller Verschwörer vergessen hatte, das von dem Händler in seiner Angst auf einer Polizeistation abgeliefert worden war.

Es lag sehr wenig gegen die Angeklagten vor, so wenig, dass der Generalgouverneur von Polen, der bekannte General Gurko (der polnischer Abstammung ist, und dessen Name deshalb richtig Hurko ausgesprochen wird), nachdem die Todesurteile gefällt waren, zweimal die Papiere mit der Erklärung nach Petersburg schickte, dass er nicht einsähe, wie man diese Menschen zum Tode verurteilen könne. Da die Todesurteile gleichwohl bestätigt wurden, benahm sich der Gouverneur, der human ist, ohne deshalb als weichherzig bekannt zu sein, folgendermaßen: Er ließ die zum Tode Verurteilten eines Morgens früh wecken, und es wurde ihnen nun gesagt, dass sie zur Verbannung verurteilt sein, deshalb von ihren Verwandten Abschied nehmen müssten, und falls sie es wünschten mit einem Priester sprechen könnten, um sich zu der langen Reise zu stärken. Sie erklärten alle, dass sie nach keinem Gespräch mit irgend einem Geistlichen verlangten. Einer wünschte, von seinem Vater, der geholt wurde, Abschied zu nehmen. Darauf wurden sie in einen geschlossenen Raum geführt, wo die Exekution vor sich gehen sollte. Dort wurde ihnen das Urteil mitgeteilt, und gleichzeitig warfen sich die Henker auf sie und hängten sie auf.

Am bezeichnendsten ist es, dass zwei russische Offiziere, die zum Tode verurteilt waren, jedoch im letzten Augenblicke zu lebenslänglicher unterirdischer Zwangsarbeit begnadigt wurden, — was auch Todesstrafe ist, da niemand sie länger als vier bis fünf Jahre aushalten kann — nicht weiter schuldig waren, als dass sie von Bardowski einige Broschüren und Proklamationen erhalten hatten, die sie beweisbar niemand gezeigt, viel weniger zu verbreiten gesucht hatten, die man aber bei ihnen fand. So gefährlich ist es, sozialistische Hefte in Verwahrung zu haben.

Kein Pole sollte jedoch Freiheit und Leben, um sozialistischer Bestrebungen willen aufs Spiel setzen. Denn im allgemeinen ist wahr, was offen ausgesprochen in Warschau merkwürdiger Weise bisweilen junge Männer mit sozialistischen Sympathien überrascht, dass es für einen Polen keinen Sinn hat, Sozialist zu sein. Denn was will am kürzesten ausgedrückt Sozialismus sagen? Was anders als direkte oder indirekte Expropriation privater Kapitalisten, reicher Leute und Grundbesitzer zu Grünsten des Staates! Man übertrage dies auf polnisch! und es wird, wie die Verhältnisse zur Zeit und für lange Zeiten liegen, unmöglich etwas anderes als Expropriation polnischer Kapitalisten zum Besten des russischen Staates. Aber wessen der russische Staat sich einmal bemächtigt hat, das, kann man sagen, hat man gesehen. Es gehört ein starker Glaube dazu, dass es wieder dem polnischen Volke zu gute kommen wird, wenn man in einer Stadt wie Warschau lebt, wo es keine Kommunalverwaltung gibt, sondern wo die Kommunalabgaben direkt nach Petersburg geschickt werden, und nur ein äußerst geringer Teil zum eigenen Besten der Stadt verwendet wird.

Das einzige, was der polnische Sozialist faktisch tun kann, ist, die Arbeiter gegen die Prinzipale aufhetzen, ihre Unzufriedenheit wecken, und sie zu Streiken verleiten, die fast immer mit Niederlagen enden. Da so zu sagen nie gewählt wird, und nie eine wirkliche Partei gegründet werden kann, ist jede sozialistische Aktion in größerem Stile unmöglich, ganz abgesehen von den zerstörenden Wirkungen einer solchen Aktion auf die Individualität des polnischen Volkes.

Eine ähnliche Rücksicht wie diese, die einem denkenden und umsichtigen Polen verbieten sollte sich auf Seite der polnischen Sozialisten zu stellen, selbst wenn er sonst einer sozialistischen Theorie zuneigte, müsste ihn verhindern, seine volle Zustimmung der freidenkenden Gruppe in Polen zu schenken.

Man kann ein so guter Europäer wie irgend einer sein, all jene Vaterländerei verabscheuen, die als Nationaleinbildung allein verdummt, und doch die gewaltsame Verfügung einer reichen und wertvollen Volksindividualität als ein Unglück für ganz Europa betrachten.

Mir däucht, dass in Polen alle anderen Fragen dieser ersten und wichtigsten untergeordnet werden müssten: der Erhaltung der Nationalität. Aber zu einer Zeit, wie der jetzigen, wo es unbedingt verboten ist, polnische Schulen zu errichten, oder den Bauern und Kleinbürgern irgend einen nationalen Unterricht zu erteilen, würde eine umfassende, freidenkerische Agitation, die den katholischen Glauben durchsägte, gleichzeitig das polnische Nationalgefühl durchsägen. Freilich gibt es im Weichselland protestantische Polen, und ringsum im russischen Polen zahlreiche unierte Gemeinden, die (obgleich ihre Priester verheiratet sind und ihr Bündnis mit Born loser als das der römischen Katholiken ist), sich ganz als Polen fühlen; aber dieses ist so kraft einer Tradition; ein schon heutzutage in der großen Bevölkerung herbeigeführter Bruch mit der religiösen Überlieferung, würde, falls er erreicht werden könnte, immer ein Sieg für das russische Prinzip werden.

Sich Demokrat nennen, hat insofern auch keinen rechten Sinn, als das Wort die Anschauung ausdruckt, dass die Volksmasse herrschen solle. Es ist ziemlich unfruchtbar diese Anschauung zu nähren, so lange Adel und Volk in gleichem Grade unter der Geißel der Fremdherrschaft stehen. Die Demokraten vermögen einzig und allein, bei Gemeinderatswahlen auf dem Lande und bei Vorstandswahlen in privaten Gesellschaften den Einfluss der großen Gutsbesitzer zu bekämpfen, ein gutes und nützliches Werk, insofern es das Selbständigkeitsgefühl der Bevölkerung weckt, ein Werk von zweifelhafterem Nutzen, insoweit es den Russen die Arbeit erleichtert, die Widerstandskraft der höheren Klassen zu brechen.

Dies ist für die polnische Intelligenz die fürchterliche Zwangswahl: sie scheint verdammt, entweder den Fortschritt zu wählen mit dringender Gefahr, dem eignen und dem schlimmsten Feinde allen Fortschritts in die Hände zu arbeiten, oder den Stillstand zu wählen auf die Gefahr hin, dass die Nationalität, die hierdurch erhalten wird und worauf man so stolz war und ist, in der europäischen Kultur zurückbleibt, veraltet und überflügelt wird.

In dieser Stellung liegt etwas wirklich Tragisches. Mehr als ein Mann, der die polnische Intelligenz in ihrer höchsten Entwicklung vertritt, sieht sich — wie der stolze Graf Henrik in Krasinskis Trauerspiel — verurteilt, das Kastell der heiligen Dreieinigkeit zu verteidigen. Diese Männer sind moderne Menschen und sie schweigen darüber. Sie sind freisinnige Menschen und stimmen, falls sie als Gutsbesitzer in Posen einen Sitz in dem deutschen Reichstage und dem preußischen Herrenhause haben, unentwegt mit dem Centrum. Es gibt welche unter ihnen, die gerne mit einem Sozialistenführer zusammen Mittag essen möchten und doch offiziell der Fahne Windhorst's folgen. Sie können Heinrich Heine auswendig, und gehören zur katholischen Partei. Sie sind Freidenker und fühlen sich als Polen gezwungen, Rom zu stützen — eine geistige Qual die man anderwärts nicht kennt. Und man spürt auf allen Gebieten, wie vaterländische oder vermeintlich vaterländische Bestrebungen das moderne Geistesleben zurückdrängen: In der bildenden Kunst, wo patriotische Allegorien und Symbole allzulange das Aufblühen einer lebenswahren Kunst verhindert haben, und in der Literatur, wo der historische Roman noch blüht wie eine späte Nachlese von Walter Scott. Das größte Erzählertalent unter Polens lebenden Schriftstellern, Henryk Sienkiewicz, der mit vortrefflichen, modernen Novellen debütierte, hat, indem er sich gleichzeitig der katholischen Partei j genähert, große patriotisch-historische Romane im Stile der drei Musketiere mit Fortsetzungen ohne Ende geschrieben. Er hält es für seine Aufgabe, angesichts der entmutigenden Gegenwart dem Volke das Bild einer Vorzeit zu zeigen, wo es noch als Volk bestand, und er schildert mit Vorliebe den unglücklichsten Zeitraum der alten polnischen Geschichte, um durch die Darstellung der harten Krisen jener fernen Tage den Glauben des Volkes an die Besiegbarkeit des gegenwärtigen traurigen Zustandes zu stärken. Die Folge davon ist jedoch trotz all seines Talentes, dass wenn er so von Zeiten, die er kennt, zu Zeiten zurückgeht, die er nicht kennt, und eigentlich ganz andere Ziele als künstlerische vor Augen hat, er als Dichter überhaupt so stark zurückgeht, dass er seine besten Leser verliert und seine Romane nur als Unterhaltungslektüre und patriotische Reizmittel Erfolg haben.

Wie sozialistische und demokratische oder freigeistige Tendenzen in Polen etwas anderes bedeuten als anderwärts, ebenso tragen hier auch katholische und konservative Neigungen einen besonderen Charakter.

In der deutschen Literatur kämpfte z. B. in diesem Jahrhundert die katholische Tendenz der Romantik scharf gegen das protestantische Wesen der früheren und den rein heidnischen Hang der zeitgenössischen Literatur; aber in Polen war in diesem Jahrhundert der Katholizismus immer oppositionell, in stehendem, rastlosem Streit wider die Staatsmacht begriffen, häufig mit der Liebe zur Wahrheit, die frei macht, und mit der Begeisterung, die sich dem Martyrium aussetzt, verschmolzen. In den protestantischen Ländern ist die Geistlichkeit in der Regel servil, in Polen ist sie es nie, kann nie zu einem Werkzeug der weltlichen Macht herabgewürdigt werden.

Es gibt dort katholische Priester, denen die Vorgesetzten erlauben für Zeitungen zu schreiben, die Theater zu besuchen und am Gesellschaftsleben teilzunehmen, weil man weiß, dass sie ganz in dem doppelten Ziele aufgehen, Wohltätigkeit zu üben und die polnische Sprache in den fernsten Provinzen zu erhalten. Man sieht ihnen bei einer oder der andern Übertretung des katholischen Ritus durch die Finger, ja man übersieht sogar einen vermuteten Unglauben gegenüber gewissen Dogmen, weil man sie als eifrige Fürsprecher des Katholizismus, als polnisch-nationale Geistesmacht kennt. Das Gepräge verhältnismäßig unschuldiger Heuchelei, das ihnen unleugbar anhaftet, schadet ihnen nur bei ganz Wenigen. Die allgemeine Meinung ist ihnen wohl gesinnt.

Wie man sieht, ist nach meiner Auffassung der Gesichtspunkt, den der Fremde sich gezwungen fühlt, für den Wert und die Berechtigung der verschiedenen Parteien und geistigen Mächte anzulegen, der, inwiefern sie größere oder kleinere Widerstandskraft gegenüber dem Prinzip leisten, das darauf ausgeht, die Individualität des Volkes auf jede Weise zu zerstören, das rohe und fürchterliche Prinzip des asiatischen Absolutismus. Erst wenn die daher drohende Gefahr entfernt ist, kann Polen sich den Luxus gönnen, die verschiedenen Bestrebungen der Zeit mit einem neuen und wahreren Maßstab zu messen. Aber so lange jenes Prinzip triumphiert, so lange ist ihm gegenüber dieses zergliederte und zu Grunde gerichtete Polen der unzweifelhafte Vertreter der Menschlichkeit, der Vorposten der Zivilisation selbst auf Gebieten, wo sein Wesen nicht modern ist, und so lange ist jene zerschossene Fahne des ehemaligen Polens mit dem weißen Adler — die alte, einzig anbetungswürdige Freiheitsfahne.