- 03 - „Gellert, du bist ein großes Kind. Mit eurem Fechten hier war es nicht weit her, das hast ...

„Gellert, du bist ein großes Kind. Mit eurem Fechten hier war es nicht weit her, das hast du nun wohl mittlerweile gelernt.“
„Na, Mutter, ich denk doch -“ Das klang sehr gedehnt und fast wie heimliches Grollen.
„Der Rektor hat’s lange eingesehen, fürs Milletähr sind so alte Leute nicht zu gebrauchen, denn sie sind zu steif und auch zu obsternat.“
„Meinst du, daß wir beide nicht unsern Mann gestanden hätten?“
„Natürlich, euren Platz hättet ihr gehalten und euch darauf totschießen oder erstechen lassen, aber das tut es nicht, man muß auch wieder totschießen und stechen können. Wenn der Rektor ausfiel, dann wollte er durchaus immer nach oben, und du hast mal mit dem Säbel den eignen Hacken weggehauen und fielst dabei längelang hin.“ Alle lachten in Erinnerung an das Erlebte.
„Aber es war doch gut, daß wir dran gingen,“ sagte der Rektor und stand auf. „Die Leute lernten erkennen, daß sie noch andere Pflichten gegen ihr Volk hatten als nur Steuerzahlen, auch begannen sie, an ihre Rechte zu denken. Da ist etwas in Fluß gekommen, das kann mit der Zeit noch anschwellen zu mächtiger Bewegung, auch wohl zum Streit um Pflicht und Recht, und gerade das stählt den Mann und bringt ihm seine rechte Würde zum Bewußtsein. - Ich gehe von hier wieder einmal straffer fort, als ich gekommen bin. - Was für ein Lärm ist das auf der Straße? Geht da nicht die Trommel? es wird doch kein Feuer fein?“
„Hör mal, Vater, was rufen sie da?“
Gellert stand schon vor der Haustür und horchte, er hörte aber nur einzelne Wörter: Hurra - Blücher soll leben hoch - Eva Gellert - hurra - Napoleon – Paris - hoch - hurra - Frau Scholte! - Dazu die Trommel mit mächtigen Schlägen bum bum bum bum, und der Lärm wälzte sich auf sein Haus zu.
Ganz rot vor Aufregung fuhr er zurück. „Mutter - Herr Nachbar - das ist - ich glaube - nein, das kann nicht sein - wenn das wäre - mir wird so stramm über der Brust - da platzt was.“ Und plötzlich setzte er die Hände in die Seiten und schrie hurra und lachte unbändig; dann war er wieder hinaus, die beiden folgten ihm ganz verwirrt und kopfschüttelnd.
Ein kleiner fremder Planwagen war in das Tor gekommen, der alte Ollhöft hatte pflichtgemäß die Insassen nach ihrem Nationale fragen wollen, da war sein Iven aber freudeheulend immer an dem Plane in die Höhe gesprungen, und eine gewaltige Frau, die fast die ganze Wagenbreite mit ihrer eingemummten Gestalt verdeckt, hatte nach rückwärts gesagt: „Nun schütt nur gleich deinen Sack aus, Kleining, hier ist der rechte Mann dafür.“
Durch eine schmale Lücke neben ihr war eine behende Gestalt geglitten, die flog mit leichtem Sprunge herunter und sofort dem verdutzten Alten um den Hals und klopfte ihm die Backen und streichelte ihn ihm gingen die Augen über, denn er hörte zugleich: „Alter, lieber, guter, treuer Freund, was haben wir heute unterwegs von einem Kurier, der nach dem Schweriner Weg fragte, gehört? Blücher hat den letzten Hügel von Paris gestürmt, die Stadt hat kapituliert, der König von Preußen ist eingezogen an der Spitze seiner Soldaten, Napoleon muß abdanken! Du bist der erste, der das hier wissen soll, fortan ist Jena und alles andere vergessen.“
„Komm rasch wieder raus, Kleining, da passiert was.“
Ollhöft hatte sich noch nicht besinnen können, stand und hielt seine Hände gefaltet und sah still auf gen Himmel, da ging es schon los. Das Geheul des Hundes hatte einige aufmerksam gemacht, von den nächsten Fenstern aus erkannte man Eva und stürzte hinaus, hörte die Freudenbotschaft und gab sie weiter von Mund zu Mund, von Haus zu Haus, von Straße zu Straße. Hurra, Eva Gellert ist da! Hoch Eva Gellert! Blücher hat Paris genommen, hurra Blücher! Napoleon muß abdanken - hoch, hurra!
Im Nu erfaßte ein Freudentaumel die Stadt, einer stürzte auf das Rathaus und holte die alte Trommel, die sonst den Feuerlärm vermehren half, und schrie: „Eva Gellert hat Paris genommen!“ - Bum dum bum bum! - Die Jungen sprangen um den Wagen, und die Alten gingen nebenher, der Schmied mit dem Schurzfell, wie er vom Amboß gekommen war, der Tischler noch den Hobel zur Hand, der Weber auf Socken, Lehrlinge und Meister und Gesellen, sie alle umringten den Wagen und gaben ihm das Geleit, als ob eine Prinzessin eingezogen wäre; einige wollten das Pferd ausspannen, aber die gewaltige Frau hielt mit kreisender Peitsche alle in Respekt, da schoben sie nach und schoben den Wagen dem Pferde auf die Hacken, so daß dieses in raschern Lauf verfallen mußte, es mochte wollen oder nicht. Endlich hielt der Wagen vor Gellerts Hause. Abermals glitt die kleine Gestalt, die sich wie eine winzige Knospe von der breiten Kutscherin loslöste, hinaus, aber sie wurde in der Lust mit jauchzendem Ruf von Gellert aufgefangen und gar nicht erst wieder vom Arm gelassen, er tanzte zwei-, dreimal um sich selbst und schoß dann mit Eva in das Haus.
Trautmann stand etwas steif da und sagte in seiner bedächtigen Weise: „Eigentlich müßte ich Sie auch so vom Wagen heben, Frau Scholte, aber ob wir beide damit fertig würden?“ Er streckte die Hand aus.
„Ne, ne,“ rief Frau Schotte lachend, „da habe ich noch meine Feuerkieke, die Kohlen sind in Glut, und wenn ich mich nicht vorsehe, dann stoße ich sie um, und der Wagen sengt mir zuletzt noch an. Also immer piano.“ Langsam kletterte sie herab und stand nun in ihrer ganzen Breite vor Frau Klementia; die wollte etwas sagen, aber die Aufregung verschlug ihr die Rede, und ohne weiteres verschwand sie, die ja selbst eine stattliche Erscheinung war, an der Brust der großen Frau; die verstand sie sofort und streichelte sie leise und sprach kein Wort dazu.
Endlich faßte sich die Mutter, richtete sich mit einem Ruck zusammen und sagte: „Ich schäme mich - ich bin so in Konfussion - ganz konstenniert bin ich - Frau Scholte, liebe, gute Frau Scholte, ich bin schalu.“
,,Na, mein Kinding, davor brauchen Sie sich doch nicht zu schämen. Lassen Sie uns nur erst mal ins Haus gehen, absträngen ist nicht nötig, der steht wie angenagelt.“ Sie führte Frau Klementia ins Haus und nötigte sie zum Sitzen, als sei sie die Wirtin.
„Ja, ich schäme mich, ich habe mich fexiert, daß ich einer andern die Pflege überlassen mußte.“ Frau Gellert schluckte tapfer. „und wenn ich mir nicht anders gegen meine Schlechtigkeit helfen konnte, dann bin ich in Ihr Haus gegangen und habe Ihre Apartemangs gereinigt und gelüftet.“
„Das war ja nicht gerade nötig, denn kein Mensch hat sie gebraucht. Aber Frauchen, Frauchen, nicht weinen, mein Herzing. Ich liefere sie Ihnen fix und fertig ab und damit basta. Nein, für mich ist sie auf die Dauer zu gering in der Hand, ich bin für Kleining eine zu grobe Maschine, das weiß ich ganz allein. Das Loch, ja, das habe ich verheilt, aber nun muß sie in ‘ne zartere Umgebung hinein, das Herz ist nicht ganz geheilt, das hat noch ’n Knacks.“
Inzwischen sprang Gellert mit Eva auf dem Arm im Hause herum, trug sie durch Stuben und Küche, hinauf die Treppe und hinein in die Giebelstube, in der Eva einst gewohnt hatte, ließ sie sich umsehen und lachte und mahnte. „Sag’s Mutter nicht, daß wir schon dagewesen sind, sie will dir das selbst zeigen.“ Wieder die Treppe hinunter und hinein in die Stube. „Da, Mutter, da hast du sie.“ Er setzte sie der Mutter auf den Schoß und wandte sich an Frau Scholte. „Das wäre abgemacht, nun kommen Sie dran, her mit Ihrer guten Hand, die uns das Mädchen heimgebracht hat.“ Es ging an ein Schütteln, er faßte derber zu, sie aber auch, und dann riß er in komischer Verzweiflung den Mund weit auf, zog die Hand zurück und schlenkerte sie. „Herr Gott noch mal zu, da kann man ja sein blaues Wunder kriegen; dann hilft es nicht, ich muß meine Gefahr stehen.“ Er küßte sie recht herzhaft, und beide lachten sich an.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Pascholl!