- 02 - Immer deutlicher drangen die Nachrichten vom Untergange der großen Armee durch, immer ...

Immer deutlicher drangen die Nachrichten vom Untergange der großen Armee durch, immer noch lächelte die große Mehrzahl dazu überlegen, denn ein so furchtbarer Fehlschlag war dem gewaltigen Genie Napoleons unmöglich. Dann kamen Reisende und erzählten Genaueres, sie selbst hatten kümmerliche Reste, die sich in Rostock sammelten, gesehen; das konnten natürlich jene klugen Leute nicht bestreiten, aber sie deuteten es auf verkommene, durch den Winter bedrängte Marodeurhaufen. Überall war Unsicherheit, gereizte Stimmung, Streit der Meinungen und Parteien, und die im Banne vom Geiste Napoleons lagen, waren noch guter Zuversicht.
An einem bitterkalten Nachmittage im Februar kam ein wunderlicher Aufzug auf der Wismarschen Landstraße daher; die Schar wies sich als eine halbe Kompagnie Franzosen aus, die ein entschlossener Sergeant in Rostock gesammelt hatte und nun nach Hamburg führte, er begehrte für sie Nachtquartier. Von Soldaten war eigentlich an den Männern nichts zu sehen, nichts von Waffen, nur ein Stützstock, der von manchen, die erbärmlich hinkten, ausgiebig benutzt wurde, kein Tornister, keine Bandeliere, keine Taschen, vielfach nicht einmal Waffenröcke oder Stiefel. Einige hatten offenbar einen alten Tornister aufgeschnitten und sich Fußbekleidung daraus gemacht, andere hatten dazu alte Filzhüte benutzt, sie schützten sich mit Säcken, Strohmatten, zerlumpten Pferdedecken, ausgetrennten Unterröcken, oft auch nur durch jämmerliche Lumpen und Fetzen gegen die Kälte, schlichen einher wie Schatten und Gespenster, abgemagert und hinfällig, finster und scheu und mißtrauisch, in den Häusern, zu denen der Magistrat sie wies, sprachen sie kaum ein Wort.
Mademoiselle Clothilde, die Royalistin, hatte bisher in dem Kaiser Napoleon nur den verächtlichen Emporkömmling gesehen, aber bei den Nachrichten von dem furchtbaren Schicksale ihrer Landsleute war die französische Patriotin in ihr aufgewacht. Lange hatte sie sich gegen den Gedanken an eine Niederlage gewehrt, als der traurige Zug ankam, stand sie am Fenster. Erst glaubte sie einen Haufen Bettler zu sehen, plötzlich verstand sie, daß Reste der großen Armee dort hinschlichen, sofort eilte sie, ohne sich zu besinnen, auf die Straße, packte einen Franzosen am Arm und zerrte ihn ins Zimmer. Der stürzte wärmegierig an den Ofen, griff mit zitternden Händen nach dem angebotenen heißen Getränk und schlang hastig und unersättlich, was die mitleidige Hand ihm an Speise brachte. Anfangs sah Clothilde mit stillem Staunen zu, allmählich stieg in ihr ein Grauen auf, sie glaubte, der Mann müßte tot hinstürzen, und als sie den Schmutz und den Verfall näher zu mustern wagte, schüttelte sie geradezu das Entsetzen. Der Franzose sah das, faßte sich und stand auf, zog aus einer durchlöcherten Tasche ein Buch heraus und legte das mit einigen höflichen Worten auf den Tisch mit der Bitte, es als Andenken an einen Dankbaren zu bewahren, und ging. Clothilde faßte das Buch vorsichtig mit spitzen Fingern und blätterte es auf. Es war ein katholisches Gebetbuch, und sie legte es, immer äußerst vorsichtig, da es sehr unsauber schien, beiseite, vernichten wollte sie es nicht. Dann begann sie sich Vorwürfe zu machen, daß sie dem Landsmann zum Schluß noch weh getan habe, und schließlich konnte sie nichts Besseres als weinen.
Zu Ollhöft kam der Sergeant, ein gebeugter hohlwangiger Mann mit struppigem Gesicht, erdfahler Farbe und verfallenen Gliedern. Der Torwärter, der wegen seines einzigen kleinen Stübchens von Einquartierung immer frei war, trat ihm abweisend entgegen, es flog ein trauriges Lächeln über die abgehärmten Züge, er wandte sich still und wollte gehen. Da packte ihn Ollhöft, der ihn scharf gemustert hatte und dem dieses Lächeln ans Herz ging, beim Arm und rief. „Mann, Mann, ich habe Sie schon einmal gesehen, wo war das? wer sind Sie?“
„Ich glaubte, Sie kennten Armand Vetterlin noch und wollten nichts von ihm wissen - - wie so mancher auf dem Wege.“ Das letzte sprach er mit ganz trostlosem Tonfall.
„Kamerad,“ rief Ollhöft bestürzt aus, „bei Gott, ich habe Sie nicht gekannt. Nein, nein, wenn ich Sie so von meiner Schwelle ließe, würde ich ja wohl noch in der Ewigkeit mich vor mir selbst schämen müssen.“
Er zog ihn herein und setzte ihn in seinen alten Lehnstuhl am Ofen, er schürte das Feuer und kochte Warmbier, er gab, was seine Ärmlichkeit hatte, alles her, und Armand Vetterlin nahm und aß und trank und saß dann da und schwieg; und da Ollhöft ihn zartfühlend nicht störte, so schlief er auf seinem Sitz ein. Der Alte deckte ihn mit seiner Decke zu und sah diesen jämmerlichen Verfall still an.
Es mochte so wohl eine Stunde vergangen sein, da zuckte Vetterlin zusammen und fuhr auf „O mein Gott,“ sagte er, als er nach wildem Umschauen sich kaum in seine Lage finden konnte, „mir war es so, als ob jemand ,Kosak? rief.“
„Hier ruft man das nicht,“ beruhigte ihn Ollhöft, „Kosaken gibt es hier nicht.“
„Kamerad, Kamerad, was habe ich erlebt! Schließe ich die Augen, dann wird es wüst um mich, Trümmer, Scherben, Knochen, Leichen, Lasetten, Wagenräder, Pferdeleiber - ein grausiges Durcheinander flirrt immer vor mir. Ich habe meinen Oberst aus dem Schnee heraus mir winken sehen und bin gleichgültig weitergegangen, ich habe mich mit vier andern auf einen Offizier, der ein Brot trug, geworfen und ihm die Stücke unter den Händen heraus weggeschnitten, so daß er zuletzt nur noch einen Brocken behielt, den auch nur, weil er ihn wütend mit Füßen und Zähnen verteidigte. Über hartgefrorene Leichen bin ich marschiert mit anderen, und die Glieder krachten unter unserm Schritt, einmal trat ich auf einen Sterbenden, mir unbewußt und glitt aus, jedenfalls auf dem Ungeziefer, das ihm überall Gänge in die Haut gefressen hatte, er stöhnte furchtbar, dem gab ich in Verzweiflung über diesen gräßlichen Laut den letzten Schluck Branntwein aus meiner Flasche, und er trank und starb. Arme Frauenzimmer klammerten sich an uns, wir schüttelten sie ab und gingen weiter, an unserm Feuer abends stürzte sich einer, der durch den Schein angelockt herzugerannt kam, vor Frost wahnsinnig mit jauchzendem Gelächter geradezu in die Glut, wir ließen ihn stumpfsinnig liegen, er heulte und war bald still. Dreimal habe ich meine Pistole angesetzt mich zu erschießen, einmal, als die Wölfe sich zwanzig Schritt vor mir um einen Leichnam sammelten, einmal, als jenes Stöhnen des Sterbenden, den ich achtlos trat, mich wieder plagte, einmal, als ich um den Rest einer Mauer sah und entdeckte, daß dort drei Menschen kauerten, die eine hartgefrorene Menschenleiche vor sich hatten und davon Stücke schneiden wollten. Es gibt nichts Entsetzliches, was ich nicht erlebt hätte. Aber was mich bis in meinen letzten Augenblick verfolgen wird, das ist die Schande, wie wir vor den Kosaken zitterten. Nichts konnte die stumpfe Masse anders in Bewegung setzen, als wenn jemand Kosak rief. Dann begann sie zu traben, und ich, Kamerad, ich lief mit, vor nichts, es waren ja meistens keine Kosaken da, es war Einbildung der überreizten Nerven, und wir liefen! Wir Soldaten des Kaisers, die seine Schlachten geschlagen hatten, wir waren Feiglinge und liefen in ganzen Haufen und schändeten unsern Ruhm und werden die Schande nicht wieder los, so lange wir leben.“
Armand Vetterlin deckte die Hand über die Augen, und jedesmal, wenn Ollhöft anfangen wollte ihn zu trösten, winkte er ihm zum Schweigen, und so saßen die beiden manche Stunde. Endlich gelang es einem zutraulichen Klopfen auf die Schulter, den Mann aus seinem dumpfen Brüten zu wecken, er drückte Ollhöft stumm die Hand und ließ es sich gefallen, daß der ihn zu seinem Lager führte und ihn dort bettete. Dann saß der Alte die halbe Nacht und erhielt das Feuer im Ofen und dachte daran, daß einst der tief Gebeugte ihm so stolz gesagt hatte: „Die Ehre ist unser Gott, Napoleon ist unsere heilige Schrift, die Fahne ist unser Feldprediger.“ Nun hatte er seinen Gott verloren, ob er wohl den rechten wiedergefunden? -
Still wie sie gekommen, zog die zusammengesuchte Mannschaft am nächsten Morgen unter Vetterlins Führung weiter, alle waren sie gut verpflegt, kein Einwohner brachte es über sich, diesen Jammergestalten ein höhnisches oder spottendes Wort zuzurufen. Das letzte, was Ollhöft hörte, war die Versicherung seines Gastes. „Die Deutschen sind gute Menschen; wäre dies in Spanien oder Frankreich geschehen, längst lebte keiner von uns Fremden mehr.“

Als der Alte sich umdrehte, um zurückzukehren, stand ein Junge da, der hub an höhnisch zu pfeifen, aber er erhielt eine gepfefferte Ohrfeige. „Schäme dich,“ rief Ollhöft, „über solches Unglück soll man nicht spotten, hier spricht Gott allein sein gewaltiges Wort.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Pascholl!