Wie ein Pfarrer seiner Gemeinde aus der Not hilft

In einer Gegend des Fürstentums L. hatte sich gegen das Ende des siebenzehnten Jahrhunderts das Hochwild, besonders die Hirsche, so außerordentlich vermehrt, dass sie den benachbarten Anwohnern der Waldung unsäglichen Schaden an ihren Früchten zufügten und ganze Feldmarken, verheerten. Klagen durften die armen Landleute nicht, sie wurden in diesem Falle entweder geradewegs abgewiesen, oder höchstens mit leeren Versprechungen abgespeist und auf bessere Zeiten vertröstet. Sich selbst Rat zu schaffen, und das überflüssige Wild aus dem Wege zu räumen, durfte gar Niemanden einfallen, wenn er nicht sofort Zeitlebens auf die Festung wandern wollte— und das Alles bloß aus dem Grunde, weil der damals regierende Herzog ein leidenschaftlicher Jagdliebhaber war. Also mussten die Leute geduldig ertragen, was nicht zu ändern war.

Am allerübelsten war das kleine Dörfchen R. daran, dessen ohnehin nur unbedeutende Feldmark rundum vom dichtesten Gehölz begrenzt wurde. Unglück über Unglück hatte den armen Ort betroffen. Zwei Jahre zuvor totaler Hagelschlag, das Jahr darauf anhaltende Dürre und Misswachs, und endlich die einmal schön aufblühende Ernte ein Raub und Fraß des Wildes! — Das war mehr als der Ort ertragen konnte.


Die versammelte Gemeinde eilte zu ihrem Pfarrer und flehte inständigst um seine kräftigste Verwendung für sie. „Von Herzen gern, meine Kinder,“ erwiderte der alte würdige Mann, „wenn uns das Alles nur helfen könnte. Ihr wisst es selbst, dass ich unter Allen den meisten Schaden mitleiden muss, dass mein Bisschen Pfarrland am übelsten mitgenommen wird. Allein Erfahrung hat mich scheu gemacht, ich zweifle — doch will ich's mit Gott noch einmal wagen!“

Gesagt, getan! der Pfarrer setzte sorglich eine Vorstellung auf, worin er in den beweglichsten und rührendsten Ausdrücken die Not seines armen Dörfleins schilderte, und reichte dieselbe schon am andern Tage persönlich bei der Unterbehörde ein. Allein, was er voraussah, geschah — die Beamten wollten oder konnten vielmehr nicht helfen und abschlägige Antwort erfolgte. Der Pfarrer ließ sich durch diesen ersten fehlgeschlagenen Versuch keineswegs abschrecken, einen zweiten zu wagen. Als er sah, dass beim Amte nichts auszurichten sei, wandte er sich an die Landesregierung; aber auch diese schlug, wie man gefürchtet hatte, du Bitte des Supplikanten rund ab.

Traurig über die Vereitlung seiner abermaligen Bemühung kehrte der Pfarrer in tiefen Gedanken nach Hause zurück. Was ist nun zu tun? dachte er bei sich selbst; sollst du deinen Plan aufgeben? Doch, du hast ihnen ja versprochen, dein Möglichstes zu wagen. Noch ein Weg steht dir offen — die Reise dahin ist zwar weit, und besonders einem alten Mann beschwerlich, allein Gott wird dich stärken, zum Landesherrn selbst sollst du gehen, ihm deine Not vertrauen, und wenn er anders ein gerechter und gnädiger Herr ist, wie allgemein versichert wird, so muss er hören und helfen. Der alte Mann fasste wirklich das Herz, machte sich gleich am folgenden Tag zu Fuß auf die weite, mühsame Reise, und langte nach drei Tagen glücklich vor den Toren der Residenz an. Er ließ sich melden und hatte das Glück, sogleich zur Audienz vorgelassen zu werden. Der Herzog empfing ihn äußerst herablassend und gnädig, und fragte: „Wer ist Er?“

Pfarrer. Ein alter, bejahrter Mann — seit vierzig Jahren und darüber Pfarrer des kleinen Dorfes R. in Ew. Durchlaucht Landen.

Herzog. Und Sein Begehr?

Pfarrer. Ew. Durchlaucht halten zu Gnaden; ich flehe den huldreichsten Beistand unsers gnädigsten Landesvaters für mein armes Dörflein an; es hat seit den drei letzten Jahren viel, sehr viel gelitten.

Herzog (voll Verwunderung). Seit drei Jahren schon? Wie das? Ist doch kein Krieg gewesen — etwa Feuersbrunst?

Pfarrer. Um Verzeihung, gnädiger Herr! Das erste Jahr schrecklicher, allgemeiner Hagelschlag; das andere Jahr Dürre und Misswachs, und dieses Jahr — (er stockt und eine Träne drängt sich aus seinem Auge).

Herzog. Nun, nur heraus damit! Sei Er offenherzig; ich liebe Aufrichtigkeit — nun und dieses Jahr?

Pfarrer. Wenn Ew. Durchlaucht es befehlen — dieses Jahr verwüsten die Hirsche die Saatfelder ganz und gar und ruinieren allen Gottessegen.

Herzog. Das ist traurig; aber ist es denn vor dem Amte nicht angezeigt?

Pfarrer. Ist geschehen.

Herzog. Und die Resolution?

Pfarrer. Abschlägige Antwort.

Herzog. Das ist nicht gut, (sich besinnend) nun denn, so weiß ich Ihm vorerst keinen bessern Rat zu geben, als (lächelnd) pfänd' Er die Hirsche, so viel Er ihrer habhaft werden kann, und dann komm' Er wieder zu mir, so soll Ihm mein Schatzmeister das Pfandgeld bezahlen.

Pfarrer. Ew. Durchlaucht befehlen und ich gehorche.

Froh über diese gnädige Unterhaltung, obwohl sie nicht ganz nach Wunsche ausgefallen, eilte der alte Pfarrer nach Hause: „Der Herzog scherzte zwar nur,“ sagte er unterwegs, „aber ich nehm“ es für baren Ernst; das Ding soll schon gehen.“ Zugleich entwarf er seinen Plan, und kaum war er zu Hause wieder angelangt, so schritt er auf der Stelle zur Ausführung. Er besaß nämlich eine große Kornscheune, welche nicht im Dorfe selbst, sondern, wie es an mehreren Orten der Fall ist, im freien Felde nicht weit vom Walde stand, wo das Wild sich am liebsten und häufigsten aufhielt. In dieser Scheune ließ er eine lange sogenannte Futterhütte aufschlagen und mit dem besten Heu anfüllen, in der Absicht, die Hirsche damit des Nachts in die Scheune zu locken. Hierauf band er eine lange Schnur an die offen gelassene Tür, setzte sich, als es Abend geworden, in einen Winkel der Scheune, nahm das Ende der Schnur in die Hand und lauschte die ganze Nacht hindurch, ob sich vielleicht etwas blicken ließe. Umsonst! kein Hirsch ließ sich vor Mitternacht sehen. Endlich gegen Morgen kommt ein alter Hirsch geschlichen, schaut sich anfänglich schüchtern um, schnobert am Heu, trollt aber bald darauf wieder von dannen. Der Pfarrer lässt ihn gehen, weil ihm an Einem Stücke nicht gelegen war; doch schöpfte er Hoffnung daraus, dass in der folgenden Nacht vielleicht mehr gute Freunde einkehren würden, und demzufolge entschloss er sich, abermals zu wachen. Er hatte sich nicht geirrt. Der Hirsch kam richtig in der zweiten Nacht mit sechs Kameraden wieder. Allein auch diese sieben waren dem Pfarrer noch nicht genug; er ließ sie abermals abziehen, und wagte noch eine dritte Nacht. Und siehe da! diese brachte ihm den herrlichsten Fang zuwege. Glücklich stellte sich der alte Bekannte zum dritten Male wieder ein, und zwar diesmal in so zahlreicher Gesellschaft, dass kaum Raum genug in der Scheune war, sie alle zu fassen. Hastig zog der alte Pfarrer die Tür zu und sein waren die Hirsche. Er zählte sie und fand ihrer gerade fünfzig Stück.

Voll Freuden eilte er sofort den nächsten Morgen der Residenz zu, aufs Schloss und fand auch alsbald Zutritt und Gehör. „Ich hab' sie gefangen, Ew. Durchlaucht,“ rief er freudig, „ich hab' sie gefangen.“

Herzog (voll Verwunderung). Und wen denn? wen denn?

Pfarrer. Die Hirsche, gnädigster Herr! — Ew. Durchlaucht befahlen es ja — fünfzig Stück, volle fünfzig Stück.

Herzog. Erstaunlich, das hätte ich nicht gedacht. — Nun so muss ich ja wohl das Pfandgeld auszahlen lasten. (Setzt sich und schreibt.) Ich denke, für das Stück einen Thaler ist ehrlich genug. (Steht auf und reicht ihm ein Billet.) Hier, Herr Pfarrer, eine Assignation auf fünfzig Thaler aus meiner Schatulle.

Pfarrer (mit ehrfurchtsvoller Zutraulichkeit). Die aber doch für jedes Jahr zahlbar ist — nicht wahr, Ew. Durchlaucht?

Herzog. Nun, es sei! Was der Fürst einmal verspricht, gelte auf immer. Bleib' es ein Andenken an mich und Ihn, so lange meine Nachkommen regieren und Seine Gemeinde einen Pfarrer hat.

Von dieser Zeit an erhält der jedesmalige Pfarrer zu R. alljährlich diese fünfzig Reichsthaler aus der herrschaftlichen Kasse ausbezahlt. — Doch wurde auch die Gemeinde nicht vergessen. Der edeldenkende Fürst bewilligte Abgabenfreiheit auf mehrere Jahre, ließ für das folgende Jahr unentgeltlich einen ansehnlichen Vorrat von Saatkorn aus den herrschaftlichen Magazinen verabfolgen und erteilte ihr das Privilegium, nicht bloß Wildwächter zu halten, sondern auch alles Wildpret, das sich auf ihrem Flurbezirk sehen ließ, ungestraft erlegen zu dürfen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Parochus Jovialis