Erste Fortsetzung

Alle die vielen Arme und Zweige des Murganges streben nur einem einzigen Wasserrisse, einer Sammellinie, einem Tobel zu, vorgezeichnet durch zusammenrückende Felsrippen. Die Passage gestaltet sich zu einer Klamm, einer Schlucht, einem Schlauch. Da verklemmt sich zwischen den felsstarren und scheitelrechten Seitenwänden ein herabgewälzter Blockkoloss, Baumstämme verspreizen sich und verrammeln den Ausweg. Rasch sind die Wasserlücken verlegt. Hundert Fuß hoch und höher staut sich die Masse. Der Druck der Schutt und Wasserlasten hämmert mit ungeheurer Gewalt gegen das zyklopische Schleusentor. Düstere Anzeichen lassen das Anrücken der Mure ahnen. Von ferne vernimmt man ein heilloses Getümmel, ein unbeschreibliches, hohles, alles übertäubendes Gepolter, eine Kanonade bei Sturmgeheul, stundenweit hörbar. Da erhebt sich mit einem Mal ganz nahe ein entsetzliches Getöse; eine grauenhafte Dissonanz von Dröhnen, Krachen, Brausen und Rauschen erfüllt die Luft. Im Aufruhr der Elemente erbebt der Boden. Wandartig und haushoch bricht brüllend der Wasserschwall mit seiner ganzen unheimlichen Ladung aus dem Zwinger hervor. Gleich der Windsbraut stürmt voraus die gepresste Luft. Einige Male hintereinander wiederholt sich dieses Schauspiel wildester Bergromantik. Oft geht Mure auf Mure nieder. Aber lahmgelegt erscheint plötzlich die unbändige Gewalt. Das vorerst jähe Gefälle ist plötzlich abgesunken, und wie ein ausgespannter Fächer stöbert an der Ausgusspforte der Schuttstrom auseinander.“ (Breitenlohner.)

Schon nach dieser überaus lebendigen und naturwahren Schilderung können wir den Vorgang des Niederbrechens einer Mure den Phänomenen der Erosion zuordnen (Tafel 8). Erinnern wir uns, welch außerordentliche Bedeutung die Erosion als Gestalterin unserer Gebirge besitzt, so werden wir der Erscheinung der Wildwasser noch ganz anderes Interesse abgewinnen und in ihnen nicht mehr nur Ver. wüster menschlicher Siedlung und Kultur erblicken. Das Wasser und die Schwerkraft sind die Faktoren, die den Massentransport bewerkstelligen. Schon der Name „Wildbach“ spricht für sich: unter gewöhnlichen Umständen fast trocken, schwillt das Bächlein nach Regen mächtig an; die Steilheit der Gehänge bringt das plötzliche, rasche Zusammenfließen der Wasser zustande. Dieselben Erscheinungen sind der Mure eigen, nur dass eine derartige Menge von festen Stoffen, Gesteinsblöcken aller Größen, mitgeschleppt wird, dass ein wahrer Gesteinsbrei, ein Schlammstrom entsteht. Aber auch hier ist das Wasser das Treibende, die unmittelbare Ursache zum Niedergang der Gesteinsmassen. Gerade dieser Umstand scheidet Muren, Erdschlipfe von Bergstürzen, bei denen die Trümmer lediglich der Schwere folgend zu Tal brechen. Beobachten wir die Vorgänge in dem kleinen Bach, der das Wildwasserbett durcheilt, so sehen wir nur feine Sandkörnchen, Tonteilchen, die das Wasser trüben, in Bewegung. Nur ganz kleine Körper werden transportiert, eben nur die, welche der vorhandenen Wasserkraft entsprechen.

Die ständig tätige Wasserader arbeitet so lange, bis der Boden der Runse, die Hänge des steilen Sammeltrichters in einer Art Gleichgewicht sich befinden, d. h. bis die lockeren Schuttmassen, die allenthalben das feste Gestein bedecken, angepasst sind an die erodierende, talwärts gerichtete Wasserkraft. Nun vermehren sich die Wassermengen, sie vermehren sich in ganz riesiger Weise: es werden überall feine Teilchen weggespült, und zwar in größerer Menge entsprechend den größeren Wassermassen. Gröbere Brocken verlieren den Halt und rollen zu Tal. Die Adern vereinen sich in den Runsen. In gleichem Maße wächst die Fähigkeit, feste Körper mitzureißen. Beladen mit Gesteinsbrocken, beginnt nun die früher geschilderte aufwühlende, unterhöhlende, erodierende Tätigkeit des Wasserlaufes. Seitenhänge und Grund der Rinne werden aus dem Gleichgewicht gebracht. Mit katastrophaler Gewalt rollt und stürzt die Mure zu Tal, vor sich Blöcke von unglaublicher Größe einherjagend. Nicht nur die Theorie fordert, dass die Vorgänge sich in der Weise einen, sich von oben nach unten summieren: wir können wirklich das Anwachsen der Wasser- und Gesteinsmassen von Minute zu Minute beobachten. Draußen in der Natur können wir auch sehen, dass eine Mure nicht kontinuierlich, nicht als einziger, zusammenhängender Strom abwärts fließt. Überall dort, wo das Gefälle aus irgendeiner Ursache geringer wird, lässt naturgemäß die Geschwindigkeit der Bewegung nach. Auf die langsamer fließenden Massen stürzen von oben hastiger bewegte. Jeder Einengung des Tobels muss ein Aufenthalt im Talweg entsprechen, denn, brandet die Mure auch mit titanischer Gewalt gegen das Tor — eine Stauung muss eintreten. So erreichen die Schlammströme stoßweise den Talboden. Es scheint, als käme Mure auf Mure aus dem Tobel und ergösse ihre wüsten Massen über fruchtbares Gelände. Mit vielem Recht ist die Mure, die das Tal erreicht hat, mit einem Lavastrom verglichen worden (Tafel 9). Nicht fächerförmig breiten sich die Gesteinsmassen aus, sondern wie Zungen lecken sie, in einzelne Strähne aufgelöst, weit ins Tal hinein, ja, oft an die gegenüberliegende Talwand anbrandend. Das Gebilde, das entsteht, hat etwa die Form eines halben Kegels, der sich an den Talhang anschmiegt, dessen Spitze in den Ausgang der Wildbachschlucht hineinragt. Man spricht von einem Schuttkegel oder Schwemmkegel.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Naturgewalten im Hochgebirge
Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 008 Wildbachbetten, mit Muren und Lawinenschnee erfüllt

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 008 Wildbachbetten, mit Muren und Lawinenschnee erfüllt

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 009 Murgänge des Lammbaches am Brienzer See

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