Die Wolga - natürliche Grenze der Slawen und Tataren

Das Meer zerstreut, der Fluss sammelt. Er setzte den Slawen undTataren eine natürliche Grenze, die man mitunter jetzt noch empfindet. Inzwischen sammelte er alle Kulturen und schob sie an seinen Ufern weiter, dass die Reste von zehn, fünfzehn Völkerstämmen daran kleben blieben. Wie wir heut den Beethoven hinabtragen, so trug er Handel und Industrie aus dem innersten Slawentum hinab gegenüber Persien. Die Nichtslawen sanken zur dienenden Klasse, und ihre alten historischen Erinnerungen mischen sich mit dem Anblick ihrer Knechtschaft. So wechselt das Panorama, ethnologisch gefärbt, da die Industrie die Domestiken braucht und die Domestiken eher die Tracht und Gewohnheit des Stammvolks bewahren. Wir gleiten die Reihe der Volker ab, die einst um den Besitz dieser weiten Länder stritten und jetzt sich im modernen Handelsstaat auflösen, den der Fluss errichtete.

Die mongolische Geschichte wurde mir noch unklarer, als ich mich damit zu beschäftigen begann. Es ist eine schreckliche Völkerteilung. Aber bisweilen heben sich die Namen Dschingis-Khan und Timur wie riesige Gespenster heraus. Ich bevölkere nach Willkür das Reich von China bis Polen. Hier in der Nähe unseres Ufers saß die Goldene Horde, die keine Pyramiden hinterließen. Sie diktierte Russland. Es ist verflogen, wie die dunklen Anfänge Bulgariens, die hierhin datiert werden. Die Ruinen sahen wir erst gar nicht. Wir überzeugten uns von ihrer Existenz auf der Karte. Auch träumten wir gern vom Wolgaräuber, der einst diese Striche unsicher machte, gaben uns in seine Gewalt und vollendeten die Romane unserer Lebensläufe. Er hatte die Eroika das erstemal gehört. Jetzt sagten wir nur, wenn nachts ein unbeleuchtetes Schiff zum Fischen an uns vorüberschlich: der Pirat. Vom Zauber des Flusses waren alle Historien umglänzt und Goldene Horden, Steppenpferde, Piratenschiffe wurden zu einer Oper, die Rimsky-Korsakoff hätte komponieren können, als Seitenstück seines Sadko. Sadko fährt in die weiten Meere, Reichtümer zu sammeln, aber da er reuig zu seiner Frau zurückkehrt, wandelt sich die Ballettverführerin Wolkowa in den Fluss ihres Namens. Das ist Nowgorod und die Wolkowa. Nischni-Nowgorod und die Wolga scheint diesen Sagenreichtum nicht zu haben und verdient ihn doch. Mystik der Tataren und Räuber, ist sie von der Industrie aufgesaugt worden? Der große Fluss fließt und wandelt die Zeiten in emsiger Arbeit. Gewaltig ist der Begriff des Flusses, und in jedem Augenblick ist er neu und zeitgemäß. Das Meer tummelt sich im Becken. Der Fluss schafft.


Alle seine Technik zieht an uns vorüber. Unendlich zahlreiche, wimmelnde Fischerkähne, die vor Astrachan zu Schwärmen sich finden. Altmodische Segel, breit und niedrig-viereckig, wie bei den Chinesen. Lange Gebäude von Booten, die Hauser tragen, Magazine und Krane. Kaviarschiffe, die eine Spezialität der unteren Wolga zur Delikatesse der Welt gemacht haben. Holzschiffe, die Wälder auf ihrem Rücken in künstlichem Bau stapelten. Soldatenschiffe, Tausende in einen Kasten gepfropft, eine Massenschale von Menschen. Naphthaschiffe, die bis an den Rand mit Heizstoff gefüllt, sich an die Ladeplatze der großen Hafen stellen, um ihre Last den Dampfern abzugeben und langsam so dem Wasser wieder zu entsteigen. Dazwischen die stolzen Passagierdampfer, die seit siebzig Jahren schon die Intelligenz hinabfuhren, welche aus dem Strom der Goldenen Horde den Strom einer anderen goldenen Horde machte.

Mittelalter, Geschichte, Legenden weben Zauber um Gegenden, die wir nicht gesehen haben. Die Wolga hat den alten Opernzauber, solange wir sie ersehnten. Jetzt sind wir mitten in einem kolossalen Betriebe von landwirtschaftlichen und Fischerei-Produkten. Kuh- und Schafherden bevölkern die Ufer. Schornsteine beruhigen uns. Nobelwerke verdecken die Kirchenkuppeln. Mitunter ragt bei Saratow eine ferne Kirchturmspitze herüber. Das ist von den deutschen Kolonien, die Katharina gründete und die mitten im Völkergemisch ruhige, sachliche Arbeit verrichteten. Aber bei manchem Betrieb auf dem Fluss — treten wir ins Land, empfinden wir überall Lähmungen. Der Fluss reizt zur Fassadenbildung. Länderbreit liegt die Erde tot. Einmal schrie einer: „ein Acker!" Es schien unglaublich, dass wir einen Acker sahen. Indessen zaubert der ewige Fluss seine moderne Oper unbeirrt weiter: dieTechnik, die die Geste des Welthandels ist. Er trägt das Tempo ihrer Beweglichkeit, eine Blutader in der schweren, lastenden, unbefriedigten Arbeit da drinnen im Lande.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Musik auf der Wolga